Die Ware Religion

Kürzlich hat das Bundesministerium des Inneren (BMI) die Vereinigung „Die wahre Religion (DWR)“, bekannt für ihre Koranverteilaktion „LIES!“, verboten. Grund für die Verbotsverfügung ist die Feststellung, dass sich die Vereinigung gegen die verfassungsmäßige Ordnung sowie den Gedanken der Völkerverständigung richtet.

Im Resonanzraum der Sozialen Medien zirkulieren unter Muslimen teilweise kontroverse Reaktionen. Manch einer bewertet die Verbotsverfügung als einen antimuslimischen Akt und als politische Entscheidung, mit der es Muslimen erschwert werden soll, ihre Religion öffentlich zu bewerben oder sich für die Bekanntmachung des Koran zu engagieren. Eine solche Würdigung der Verbotsverfügung ist abwegig, naiv und offenbart eine aus dem Gleichgewicht geratene Selbstwahrnehmung.

Bereits die Sinnhaftigkeit einer Koranverteilaktion, wie sie die Vereinigung DWR praktiziert hat, muss man kritisch diskutieren. Welche Anstrengung für die Akzeptanz des Islam in Deutschland soll darin liegen, auf der Straße den Koran zu verteilen, wenn es Muslimen nicht gelingt, durch ihre bloße Präsenz, ihre muslimische Existenz im Alltag, ihre muslimische Glaubenspraxis und ihr Auftreten für den Islam als Vorbild zu werben? Hindert irgendeine staatliche oder private Institution Muslime daran, sich als vorbildliche Bürger in dieser Gesellschaft mit ihrem Glauben, mit aus ihrer Religiosität hervorgebrachten Tugenden einzubringen? Gewiss gibt es gesellschaftliche und institutionelle Diskriminierung gegenüber Muslimen in Deutschland. Leider auch in einem erheblichen Ausmaß. Aber wer hindert Muslime daran, im praktischen Alltag so aufzutreten, so zu handeln und sich so zu verhalten, dass Außenstehende sagen: „Das ist ein vorbildliches Verhalten. Das ist ein Mensch, dem ich nacheifern möchte.“?

Ich setze mich nicht für meinen Glauben ein, in dem ich Menschen auf der Straße ein Buch in die Hand drücke, das sie hinter der nächsten Ecke in den Mülleimer werfen. Ich setze mich nicht für den Islam ein, in dem ich demonstrativ mit einer buchstäblich zu Markte getragenen Religiosität auftrumpfe. Der Imperativ „Lies!“ richtet sich nicht an einen Leser, dem ein Text ausgehändigt wird und der sich diesen nun lesend selbst erschließen soll. Für den Imperativ „Lies!“ reicht es eben nicht aus, jemandem einfach ein Buch in die Hand zu drücken.

Der Imperativ „Lies!“ richtet sich – meinem bescheidenen Verständnis nach – an denjenigen, der die Botschaft schon erhalten hat, sie schon sein Eigen nennt und sie nun anderen vorlesen, vortragen, vorleben soll. Er richtet sich an denjenigen, der seinen Glauben verinnerlicht und zum Prinzip seines Handelns gemacht hat und nun berufen ist, sie durch seine Existenz anderen zugänglich zu machen.

Unabhängig von dieser inhaltlichen Würdigung scheinen viele Kommentatoren nicht verstanden zu haben, dass sich die Verbotsverfügung nicht gegen die Freiheit, den Koran zu propagieren oder zu verteilen, richtet. Jeder darf weiterhin sich in eine Fußgängerzone stellen und den Koran verteilen, wenn er dies denn für sinnvoll erachtet. Jeder, der in der Vergangenheit an den Ständen der Vereinigung DWR einen Koran mitgenommen hat, darf ihn behalten.

Das Verbot richtet sich nicht gegen den Islam, den Koran oder Muslime. Es richtet sich gegen eine Vereinigung, die der Gesellschaft, in der sie sich organisiert, feindselig gegenübersteht. Gegen eine Vereinigung, die junge Menschen glauben lassen will, dass alle anderen, die nicht so glauben wie sie, keine Daseinsberechtigung haben. Gegen eine Vereinigung, die allen Ernstes junge Menschen glauben machen will, Allah hätte Völker erschaffen, damit wir sie hassen und bekämpfen. Gegen eine Vereinigung, die junge Menschen glauben machen will, ein Glaubensverständnis sei unabhängig von seiner Wirkung, unabhängig von den Untaten, die man in seinem Namen begeht, wahr und richtig und legitim. Gegen eine Vereinigung, die nicht nur eine wahre Religion für sich beansprucht, sondern auch die unfehlbare Erkenntnis, wer ein wahrer Gläubiger ist und wer nicht. Und die aus diesem Anspruch heraus Gewalt und Verbrechen für den Ausdruck rechten, wahren Glaubens erklärt.

All diese Vorstellungen sind weit entfernt von dem, was in der muslimischen Mitte geglaubt und praktiziert wird. Deshalb hat diese Vereinigung sich nie einen Weg in die Mitte der etablierten Religionsgemeinschaften bahnen können. Dieser Umstand entschuldigt natürlich nicht, dass es den etablierten Religionsgemeinschaften nicht gelungen ist, Jugendliche in Gänze vor der Anziehungskraft solcher Vereinigungen zu bewahren. Umso wichtiger ist das aktuelle Verbot.

Die impulsive, teilweise irrationale Erregungsbereitschaft der muslimischen Community muss aber erneut kritisch hinterfragt werden, wenn das Verbot einer gewaltbereiten Vereinigung mehr Empörung auslöst, als die nahezu zeitgleich stattfindende Entrechtung ganzer islamischer Religionsgemeinschaften durch willkürliche, verfassungswidrige, parteipolitische Beschlüsse. Vereinigungen, die aus Verblendung, Hass und Menschenverachtung heraus den Koran als Schutzschild für gewaltlegitimierende Hasspropaganda missbrauchen, kennen keine wahre Religion. Für sie gibt es nur die Ware Religion, mit der sie ihren zynischen und nihilistischen Handel treiben.

Wenn es einen Vorwurf gibt, den man gegenüber den Behörden erheben kann, dann vielleicht diesen, dass ein Verbot zu spät kommt, wenn bereits etwa 140 junge Menschen nach Kontakt mit dieser Vereinigung in Krisengebiete ausgereist sind, um dort an bewaffneten Konflikten teilzunehmen. Warum kam das Verbot nicht nach 50 Ausreisenden, warum nicht nach 100 Ausreisenden? Es bleibt zu hoffen, dass die Gründe in der sorgfältigen Prüfung der Verbotsvoraussetzungen lagen.

Und auf eines muss man die zuständigen Behörden ausdrücklich hinweisen, weil die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen an anderer Stelle ähnliche Probleme deutlich werden lassen, auf die eine angemessene Reaktion bislang jedoch unterbleibt:

Die Verbotsverfügung gegen die Vereinigung DWR wird auch damit begründet, dass durch die Aktivitäten der Vereinigung „eine verfassungsfeindliche Einstellung und kämpferisch-aggressive Grundhaltung bei den überwiegend jungen, zum Teil minderjährigen Anhängern geschaffen und geschürt“ wird. „Dies reicht bis zu einer Befürwortung von und einem Aufruf zu Gewalt und der Ausreise von bisher mindestens 140 Aktivisten und Unterstützern nach Syrien bzw. in den Irak, um sich dort dem Kampf terroristischer Gruppierungen anzuschließen.“

Diese Begründung lässt sich wortgleich auf die kurdisch-extremistische Szene in Deutschland übertragen, die aufgrund ihrer organisatorischen Struktur und ihre Einbettung in eine breitgefächerte Verbandslandschaft mit vielgestaltigen, euphemistischen Solidarisierungsmomenten als Gefahrenpotential noch viel zu sehr unterschätzt wird. Für die Leidtragenden eines Anschlages macht es aber keinen Unterschied, ob ein extremistischer Täter vorher in eine religiöse Schrift oder einen politischen Propagandatext geschaut hat, bevor er seine Tat verübt. An dieser Stelle müssen die Behörden die hier auch in vorherigen Blogbeiträgen skizzierte Gefahrenlage endlich ernst nehmen und handeln.