Seit 27 Jahre erinnern wir an den Völkermord an muslimischen BosnierInnen, mit dem die Existenz muslimischer Menschen auf dem Balkan ausgelöscht werden sollte. Ich weiß nicht, wem welche Gedanken im Augenblick des Erinnerns gegenwärtig sind. Ich weiß nicht, welche Bilder vor Augen treten, welche Laute in den Ohren klingen, wenn wir uns an Srebrenica erinnern.
Sivas
Am 2. Juli vor 29 Jahren wurde der Brandanschlag auf das Madımak Hotel in Sivas verübt, bei dem 33 alevitische Hotelgäste und zwei Mitarbeiter des Hotels getötet wurden. Wer Details zu diesen Ereignissen und meine Meinung zu diesem Pogrom wissen will, kann sich die ausführliche Podcast-Folge der Dauernörgler anhören: https://dauernoergler.org/2020/07/02/episode-18-unutmadlm-aklimda-das-pogrom-von-sivas/
In diesem Text geht es mir um ein anderes Detail. Ich habe am 2. Juli ganz bewusst geschwiegen und genau hingeschaut, wie an dieses Pogrom erinnert wird und wer sich wie und wer sich wieder nicht äußert. Was mir auffällt, ist erneut – bis auf ganz wenige individuelle Ausnahmen – das Schweigen der sunnitisch-muslimischen Gemeinschaft. Aber auch die Art und Weise des Erinnerns der vielen alevitischen Stimmen wirkt auf mich in einem ganz bestimmten Detail unvollständig oder vielleicht besser formuliert: zu unpräzise.
Mit klarem Blick auf die Verhältnisse
Die Debatte um muslimische Organisationen in Deutschland steckt nach mehr als zwanzig Jahren intensiver öffentlicher Diskussionen in einer Sackgasse. Eigentlich sind es mehrere Sackgassen, die von diversen Missverständnissen begleitet werden und sie variieren je nach Perspektive des Betrachters oder Kommentators der institutionellen muslimischen Verhältnisse.
Lost in Diaspora
Kürzlich haben die beiden Autoren Harry Harun Behr und Meltem Kulaçatan die Studie „DITIB Jugendstudie 2021 – Lebensweltliche Einstellungen junger Muslim:innen in Deutschland“ veröffentlicht.
Es ist anzunehmen, dass die Studie gerade in behördlichen und zivilgesellschaftlich engagierten Kreisen viele LeserInnen finden wird, die sich mit der Frage konfrontiert sehen, in welchem Umfang und mit welcher inhaltlichen Ausrichtung wieder oder weiter mit dem Ditib Bundesverband und seinen Untergliederungen zusammengearbeitet werden kann. Schließlich sind innerhalb des DITIB Verbandes mehr als 800 Moscheegemeinden zusammengefasst. Aus dieser mitgliedschaftlichen Struktur erwächst und behauptet die DITIB-Führung immer wieder eine Repräsentativität und damit eine quantitative Relevanz bei der Frage der Kooperation mit staatlichen Stellen.
Der Gastarbeiter im PEN-Club
Deniz Yücel ist Präsident des PEN-Zentrum Deutschland. Wenn es nach einigen PEN-Mitgliedern geht, soll er das nicht lange bleiben. Vordergründig geht es um seine öffentlichen Aussagen zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Tatsächlich besteht Anlass zu der Vermutung, dass es nicht um die Frage geht, wie ein PEN-Präsident öffentlich auftreten darf, sondern darum, wie ganz konkret dieser PEN-Präsident öffentlich aufzutreten hat. „Jetzt sind die Gastarbeiter auch im PEN-Club angekommen“, soll ihm ein Mitglied nach der Wahl Yücels im Oktober 2021 in größerer Runde gesagt haben. Dazu hat Yücel gepostet: „Jetzt steht besagte Autor:in weit oben auf der Liste von 36 Mitgliedern, die mich auf der kommenden Mitgliederversammlung im Mai in Gotha als Präsident des PEN-Zentrum Deutschland absetzen wollen.“
Nisan
Ramadan steht vor der Tür. Den Großteil der Fastentage werden wir Muslime während des Monats April des gregorianischen Kalenders verbringen. Unsere christlichen Freunde werden im April ihre Osterfeiertage begehen. Unsere jüdischen Freunde feiern im April Pessach, im Gedenken an den Auszug aus Ägypten.
Im Türkischen nennen wir den April „Nisan“. Im arabischsprachigen Raum östlich des Nils heißt der April, Neesaan. Im Hebräischen Nissan. Jeder dieser Namen leitet sich von Nisannu, einem Monat des babylonischen Kalenders, ab, der sich auf die Frühjahrsblüte bezieht. Frühjahr, Blütezeit, neues Leben. All das verbindet uns sprachlich und historisch.
Heimatliebe im Plural
Das neue Jahr 2022 beginnt für Muslime in Deutschland mit der Nachricht der Schändung muslimischer Gräber auf dem Friedhof in Iserlohn. Rechtlich betrachtet handelt es sich bei solchen Taten um Sachbeschädigung und Störung der Totenruhe. Gesellschaftlich betrachtet handelt es sich…
Anwerbenachkommen
Vor 60 Jahren schlossen Deutschland und die Türkei das Anwerbeabkommen, mit der die sogenannte türkische Gastarbeitermigration begann. Bis 1973 kamen türkische Frauen und Männer nach Deutschland, um hier zu arbeiten und Geld zu verdienen. In der Zeit danach erhöhte sich ihre Zahl noch durch die Familienzusammenführung. Ich gehöre zu der Generation ihrer direkten Nachkommen. Mein Vater kam 1969 nach Lübeck, um in der metallverarbeitenden Industrie sein Geld zu verdienen. Meine Mutter folgte ihm nach ihrer Hochzeit 1970.
Ich beobachte die Feierlichkeiten zum Anlass dieses 60-jährigen Jahrestages mit gemischten Gefühlen. Ich kann der Feierstimmung nichts abgewinnen. Vornehmlich, weil ich sie als unvollständig wahrnehme. Eine neutralere Beschreibung fällt mir im Augenblick nicht ein. Eine schärfere, kritische Bewertung will ich nicht vornehmen, weil ich sehe, wie vielen meiner Generation etwas an diesen Feierlichkeiten liegt.
Praktische Ignoranz
Im Rahmen eines auf zwei Jahre befristeten Modellprojektes soll es bald in allen Moscheen in Köln auf Antrag die Möglichkeit zum Gebetsruf geben. Nur zur Mittagszeit zwischen 12 und 15 Uhr. Nur für maximal 5 Minuten. Und nur in einer Lautstärke, die außerhalb des Moscheegrundstücks auf die Nachbarschaft nicht als unzumutbare Lärmbelästigung wirkt. Im Hinblick auf die tatsächliche Lautstärke des Gebetsrufes kommt es also auf den jeweiligen Einzelfall an. Soweit die bisher bekannten Voraussetzungen.
TOM’s Beerdigung
Es ist der 3. Oktober. Der Tag der Deutschen Einheit. Der Koordinationsrat der Muslime (KRM), ein Zusammenschluss mehrerer muslimischer Dachverbände, feiert am diesjährigen 3. Oktober zum 25. Mal den „Tag der offenen Moschee“ (TOM). Dieses Jubiläum fällt gleichzeitig mit der Erinnerung an 60 Jahre deutsch-türkisches Anwerbeankommen zusammen. Zwei Gründe zu feiern. Könnte man meinen. Ich war seit etwa vier Jahren nicht mehr in der Zentralmoschee des Ditib Bundesverbandes in Köln, wo heute kurz vor 11 Uhr die große „Auftaktveranstaltung“ des 25. TOM begann. Ich überwinde mich für dieses wichtige Datum, für dieses Jubiläum, um nicht aus der Ferne zu urteilen, sondern einen unmittelbaren eigenen Eindruck zu gewinnen.