Deniz Yücel ist Präsident des PEN-Zentrum Deutschland. Wenn es nach einigen PEN-Mitgliedern geht, soll er das nicht lange bleiben. Vordergründig geht es um seine öffentlichen Aussagen zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Tatsächlich besteht Anlass zu der Vermutung, dass es nicht um die Frage geht, wie ein PEN-Präsident öffentlich auftreten darf, sondern darum, wie ganz konkret dieser PEN-Präsident öffentlich aufzutreten hat. „Jetzt sind die Gastarbeiter auch im PEN-Club angekommen“, soll ihm ein Mitglied nach der Wahl Yücels im Oktober 2021 in größerer Runde gesagt haben. Dazu hat Yücel gepostet: „Jetzt steht besagte Autor:in weit oben auf der Liste von 36 Mitgliedern, die mich auf der kommenden Mitgliederversammlung im Mai in Gotha als Präsident des PEN-Zentrum Deutschland absetzen wollen.“
Es gibt in der Schriftstellervereinigung der deutschen „Poets, Essayists, Novelists“ also mindestens ein Mitglied, wahrscheinlich bis zu 36 Mitglieder, die Deniz Yücel für einen Gastarbeiter halten. Diese Zuschreibung, diese Kategorisierung triggert mich. Yücel ist 1973 in Flörsheim am Main geboren. Ich bin im gleichen Jahr in Lübeck geboren. Wir stehen beide für die zweite Generation der sogenannten Gastarbeiter.
Die deutsche Sprache ist nicht arm an Euphemismen und Codierungen, mit denen eine ausgrenzende und abwertende, entmenschlichende Gesinnung verschleiert werden soll. Der „Gastarbeiter“ ist ein solcher Tarnbegriff. Er vermittelt sprachlich die Wertschätzung und fürsorgliche Aufmerksamkeit, die man einem Gast entgegenbringt. Tatsächlich steht er für junge Männer und Frauen, die halbnackt in Unterwäsche zur medizinischen Begutachtung ihrer Gelenke, Muskulatur und ihres Gebisses strammstehen. Für harte, gesundheitsgefährdende, gesundheitsschädigende Arbeit, für Arbeiterheime, dann für Arbeiterghettos, für erniedrigende Ansprachen, für den „Ali“, zu dem man wird, egal wie man wirklich heißt. Der „Gastarbeiter“ ist keiner, auf den man sich freut. Er ist einer, den man holt, weil er nützlich ist und der wieder wegsoll, sobald er das nicht mehr ist und damit lästig wird. Auch für das Wegsollen kennt die deutsche Sprache ein beschönigendes Wort: Rückkehrhilfegesetz.
Mit dieser von 1983 bis 1984 gewährten „staatlichen Unterstützung von Massenentlassungen“, so der Politologe Stumpfögger, erhielt der rückkehrwillige Gast 10.500 DM zuzüglich 1.500 DM je Kind. Im Gegenzug schenkten diese Gäste ihrem Gastgeber eine Entlastung der gesetzlichen Rentenversicherungen in Milliardenhöhe. Denn bei der Beitragserstattung wurden ihnen nur die unverzinsten Arbeitnehmerbeiträge ausbezahlt, nicht jedoch der Arbeitgeberanteil. Der Anspruch auf Altersruhegeld wurde mit der einmaligen Auszahlung der Rückkehrhilfe vollständig verwirkt. So konnte man mit der Wegschaffung der lästig gewordenen Gäste auch noch langfristig einen Gewinn für die Staatskasse erwirtschaften.
Das Kalkül der Nützlichkeit hat sich bis heute erhalten. Erst kürzlich erzählte mir ein Freund, was sein Vorgesetzter im öffentlichen Dienst von seiner deutschen Staatsbürgerschaft hält. Die deutsche Staatsbürgerschaft mache den Nachkommen von Gastarbeitern nicht zum Deutschen: „Sie sind kein Deutscher. Sie arbeiten nur für uns.“
Für mindestens ein PEN-Mitglied reicht der deutsche Pass Yücels nicht aus, damit er ein deutscher Präsident des deutschen PEN-Zentrum sein kann. Seine langjährige journalistische Tätigkeit, seine diversen literarischen Auszeichnungen für die Kunstfertigkeit im Umgang mit der deutschen Sprache reichen nicht aus, um ihn als deutschen Präsidenten auf Augenhöhe wahrzunehmen. Er bleibt der Gastarbeiter, der er persönlich niemals war. Ihm wird der Status des Gastarbeiters vererbt, angeheftet. Weil für sein Deutsch-Sein es nicht ausreicht, dass er in diesem Land geboren wurde, dass er die Staatsbürgerschaft dieses Landes erworben hat und dass er die deutsche Sprache besser beherrscht als die vielen national-identitären Esel. Er konnte nur der Gastarbeiter-Präsident werden, weil er nützlich war. Im Grunde war er für mindestens ein, wahrscheinlich bis zu 36 Mitglieder eigentlich nie ihr deutscher Präsident, sondern nur ein Gast im PEN-Club, der für sie arbeitet. Jetzt, da er für diese bis zu 36 Poets, Essayists, Novelists so lästig geworden ist, dass sie sich nicht mehr an seiner Nützlichkeit erfreuen können, soll er wieder weg.
Dieser Vorgang geht über die Person Yücels weit hinaus. An ihm kristallisiert sich wieder die Frage, was jemanden zum Deutschen macht. Was es heißt, Deutscher zu sein. Was es bedeutet, zum deutschen Volk zu gehören. In Deutschland haben wir Angst, auf diese Frage eine konkrete Antwort zu formulieren. Wir haben die historische Last im Gepäck, die Antwort auf diese Frage viel zu lange anhand der imaginierten Eigenschaften unseres Blutes gesucht zu haben. Deutsche Erythrozyten haben in unserer Vorstellung eine besondere deutsche Beschaffenheit, die sie verlieren, sobald sie sich mit den Erythrozyten anderer Völker vermischen. Parteien, die diesen völkischen, biologistischen Voraussetzungen des Deutsch-Seins anhängen, werden heute wieder in die Parlamente unseres Landes gewählt.
Mit der folgenden Definition des Deutsch-Seins werden sich hingegen die wenigsten anfreunden können: „Ein Volk ist der Inbegriff von Menschen, welche dieselbe Sprache reden.“
Der Fall Yücels macht deutlich, dass für mindestens ein Mitglied des PEN-Clubs, wahrscheinlich für bis zu 36 deutsche Poets, Essayists, Novelists es nicht ausreicht, dass ihr Präsident dieselbe Sprache redet, um ihr deutscher Präsident zu sein.
Es macht dann wahrscheinlich auch keinen Unterschied, dass das obige Zitat nicht von einem dahergelaufenen Gastarbeiterkind stammt, das allein aufgrund der Beherrschung der deutschen Sprache für sich nun den gleichen sozialen Rang des Deutschen reklamiert. Der Urheber des Zitates ist Jacob Grimm, DER Begründer der deutschen Philologie. Er soll diese Definition eines Volkes nicht irgendwo vorgenommen haben, sondern in der Paulskirche während seiner Teilnahme an der Frankfurter Nationalversammlung, als es also auch um die Beantwortung der Frage ging, was in der Überwindung der Zersplitterung des Provinzfeudalismus ein geeintes deutsches Volk überhaupt ausmacht.
Jacob Grimm hat bei der Suche nach der Zugehörigkeit zum deutschen Volk nicht danach gefragt, woher jemand gekommen ist. Oder woher die Eltern eigentlich herkommen. Oder was sich im Blut eines Menschen befindet. Dennoch sind viele von uns der Überzeugung, dass da mehr sein muss als nur die gleiche Sprache. Schließlich reden sie in der Schweiz mehr als nur eine gemeinsame Sprache und verstehen sich dennoch als ein Volk. Und auch in Österreich will man sich gewiss nicht zu einem deutschen Volk zugehörig zählen, nur weil man nördlich der Alpen nahezu die gleiche Sprache spricht.
Und wie entsteht ein geeintes Nationalgefühl in den USA oder Kanada, wo die Bevölkerung ebenfalls multilingual kommuniziert?
An dieser Stelle wird deutlich, dass über die Fähigkeit zur sprachlichen Kommunikation hinaus auch die Teilhabe an gleichen Rechten und Pflichten, also der Status der gemeinsamen Staatsbürgerschaft ein einendes Kriterium ist.
Hier bei uns in Deutschland reicht das aber immer noch nicht. Genau das ist der Hinweis, den uns der Fall Yücel gibt. Die Beherrschung der gemeinsamen Sprache und die übereinstimmende deutsche Staatsbürgerschaft reichen selbst intellektuell gebildeten und mittels ihrer literarischen Profession in hohem Maße zur Reflexion fähigen Deutschen nicht aus, um einen Menschen als einen der Ihren wahrzunehmen, als Mit-Deutschen zu akzeptieren.
Bei welcher Suche nach welcher Eigenschaft werden sie nicht fündig, um in Deniz Yücel nicht einen Gastarbeiter, sondern einen Deutschen zu erkennen?
Ernst-Wolfgang Böckenförde gibt in seinem bekannten Diktum einen wichtigen Hinweis auf diese Suche und ihre Zielrichtung. Seinem bekannten Zitat: „Der freiheitliche säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ folgen seine weiteren, weniger bekannten Ausführungen: „Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Andererseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“
Wenn wir diese Gedanken aufgreifen und weiterentwickeln, müssen wir feststellen, dass sich die inneren Regulierungskräfte unserer freiheitlichen Gesellschaft nicht durch staatliche Gebote formen können. Dass wir nicht auf staatliche Definitionen warten dürfen, nach welchen Kriterien und Eigenschaften sich die „Homogenität der Gesellschaft“ erreichen lässt.
Wir müssen vielmehr deutlich unterstreichen, dass es zwar zusätzlich zur Beherrschung einer gemeinsamen Sprache und der Teilhabe an einer gemeinsamen Staatsbürgerschaft es noch einer gesellschaftlichen Homogenität bedarf, um abschließend definieren zu können, was unsere Einheit als Deutsche ausmacht, dass diese Homogenität aber keine Homogenität der Eigenschaften sein kann. Denn unsere Eigenschaften sind die Quelle unserer Vielfalt, also unserer Heterogenität. Das ist der Reichtum einer pluralistischen Gesellschaft, die in sich Menschen mit unterschiedlichsten Fähigkeiten und Eigenschaften verbindet. Diese Verbindung kann aber nicht aus der gleichen Substanz bestehen, die unsere Unterschiedlichkeit ausmacht.
Die Suche nach Homogenität in den Eigenschaften des Menschen führt uns immer wieder in die Sackgasse der Überhöhung vermeintlich eigener und zur Abwertung vermeintlich fremder Eigenschaften. Wir bilden uns ein, wessen Blut deutscher sei. Wir bilden uns ein, wessen Religion wahrer sei. Wir bilden uns ein, wessen Kultur zivilisierter sei. Wir verfangen uns in der hierarchisierenden Vorstellung, dass es Leitkulturen gäbe, an die Menschen, die andere Eigenschaften haben, noch herangeführt werden müssten.
Wenn wir aber diesen Fliehkräften der Vielfalt einen Gegenimpuls der Homogenität entgegensetzen wollen, der uns alle zu einer Gemeinschaft der Deutschen eint, muss es sich um eine Homogenität der Haltungen handeln. Nicht die Frage, was wir waren oder sind, darf uns antreiben. Sondern vielmehr die Frage, wie wir uns zu dieser Gesellschaft verhalten und was wir in diese Gesellschaft einbringen wollen.
Wenn wir bei der Suche nach der Homogenität unserer Gesellschaft auf die Haltung eines Menschen blicken, statt uns von Eigenschaften ablenken zu lassen, müssen selbst deutsche Poets, Essayists, Novelists erkennen können, dass ihr Präsident sich mit einem Jahr seines Lebens in Gefangenschaft für die Demokratie, für die Meinungs- und Pressefreiheit eingesetzt hat und mit seiner journalistischen und literarischen Arbeit fortlaufend für diese Grundsätze engagiert. Und dass es eben dieser Einsatz und diese Haltung sind, die ihn zum deutschen Präsidenten eines deutschen PEN-Clubs machen – und dass nicht der Nachkomme von Gastarbeitern dadurch aufgewertet wird, sondern das PEN-Zentrum Deutschland und letztlich auch das Deutsch-Sein selbst.