Nisan

Ramadan steht vor der Tür. Den Großteil der Fastentage werden wir Muslime während des Monats April des gregorianischen Kalenders verbringen. Unsere christlichen Freunde werden im April ihre Osterfeiertage begehen. Unsere jüdischen Freunde feiern im April Pessach, im Gedenken an den Auszug aus Ägypten.

Im Türkischen nennen wir den April „Nisan“. Im arabischsprachigen Raum östlich des Nils heißt der April, Neesaan. Im Hebräischen Nissan. Jeder dieser Namen leitet sich von Nisannu, einem Monat des babylonischen Kalenders, ab, der sich auf die Frühjahrsblüte bezieht. Frühjahr, Blütezeit, neues Leben. All das verbindet uns sprachlich und historisch.

Ich befürchte, dass einige unter uns diese Verbindungen und Gemeinsamkeiten nicht nur nicht erkennen, sondern ausdrücklich verdrängen. Und mehr noch, gerade in dieser Zeit, während der wir an den Feiern der jeweils anderen teilnehmen könnten, mit ihnen mitfühlen und mitfeiern könnten, schlagen einige unter uns ganz ausdrücklich den Weg der Gewalt ein und versuchen durch Mord und Terror, das gegenseitige Misstrauen und den Hass noch weiter anzufachen.

Einigen geht es darum, die Hoffnung auf Frieden und Gemeinsamkeit undenkbar, unvorstellbar werden zu lassen – damit nur noch Hass unsere Herzen und Seelen überwuchert.

In den letzten Tagen starben in Israel Menschen durch die Hand muslimischer Mörder, die sich während ihrer Morde ausdrücklich auf ihre Religion beziehen. Sie werden von anderen Muslimen öffentlich gefeiert, während religiöse Lobpreisungen Gottes dieses Zelebrieren von Mord und hasserfüllter Verachtung begleiten. Es sind die gleichen Worte und Lobpreisungen, mit denen wir in Kürze täglich in Dankbarkeit und Demut unser Fasten beginnen und beenden werden.

Fällt uns als Muslimen diese selbst vollzogene Entwertung und Pervertierung unserer religiösen Sprache, unseres religiösen Habitus eigentlich noch auf? Stört sich jemand daran? Ich habe auf den Social-Media-Kanälen viele Muslime dabei beobachten können, wie sie sich wieder über den Anfang des Ramadan streiten. Darüber diskutieren, ob jetzt die tatsächliche Mondsichtung zu beachten ist oder deren mathematische Berechnung. Es diskutieren momentan mehr Muslime online darüber, ob unser Fasten am kommenden Samstag oder doch erst am Sonntag beginnt als darüber, was wir zu Morden zu sagen haben, die in Begleitung von Worten begangen und gefeiert werden, mit denen wir unser Fasten begleiten werden.

Mit welcher Verfassung unserer Herzen und unserer Seelen können wir Muslime auf die Bilder blicken, auf denen zur Feier von Mordtaten junge muslimische Männer Baklava auf der Straße verteilen? Werden wir uns nicht an diese Szenen erinnern, wenn wir am Ende des Ramadans nach dem großen Feiertagsgebet am Ausgang der Moschee zur Freude über diesen Tag Baklava gereicht bekommen?

Welcher übergroßen Süße bedarf diese Darreichung, um den bitteren Geschmack unserer grenzenlosen Heuchelei zu überdecken?

Wir beklagen Unrecht nur dann als Unrecht, wenn es uns und unseren Nächsten widerfährt. Wir prangern Mord und Gewalt nur dann an, wenn wir oder unsere Angehörigen davon betroffen sind. Das ist nicht Ausdruck einer edlen Gesinnung, sondern von Eigennutz und Unaufrichtigkeit.

Mir wird häufig vorgeworfen, ich würde nichts zu dem Unrecht sagen oder schreiben, das den Palästinensern in Israel und in Gaza widerfährt. Ich sei nur einseitig ein Fürsprecher Israels.

Die aktuelle Situation, die ich mit den obigen Worten beschreibe, ist der Grund meiner „Einseitigkeit“: Ich prangere das an, was sich aus meiner Sicht am dringendsten verändern muss. All die „Free Palestine“-Demonstranten, all die „From the river to the sea”-Propagandisten, all die “Ich habe nichts gegen Juden, sondern nur gegen Zionisten“-Verharmloser schweigen jetzt zu diesen Morden deshalb so laut und unüberhörbar, weil sie wissen, dass sich hinter ihren Parolen auch die Bereitschaft vieler Muslime zu Hass und die mitleidlose Hinnahme und Billigung von Mord und Terror verbirgt. Sie haben sich mit diesem Preis nicht nur abgefunden, sie versuchen ihn auch noch zu rechtfertigen. Die aktuellen Mordtaten, die religiös flankierte Art ihrer Begehung und ihrer feierlichen Befürwortung sind in dieser Betrachtung keine moralischen Entgleisungen, sondern Ausdruck ihrer ausdrücklichen Legitimation – deal with it!

Aber ich komme damit nicht klar und werde mich damit nicht abfinden. Die muslimische Seele ist in diesem Konflikt so sehr verwahrlost, dass nicht wenige es als Ziel und Hoffnung formulieren, dereinst in einem Land leben zu wollen, aus dem alle Juden herausgemordet worden sind. Man will lieber in den Häusern und auf den Gräbern von ermordeten Juden leben als in der Nachbarschaft lebender Juden. Solange die muslimische Seele von vielen von uns sich in diesem Zustand befindet, kann mein Thema nicht die Frage sein, was die Politik Israels zu diesen Zuständen beigetragen hat.

Aus meinem Glauben heraus bin ich der tiefen Überzeugung, dass ich den Zustand, in dem sich viele von uns Muslimen befinden, nicht dadurch ändern kann, indem ich darüber schreibe, was sich an der Politik Israels ändern muss. Ich kann unseren muslimischen Zustand nur ändern, indem ich darüber schreibe, was sich in unseren Herzen ändern muss.

Mein muslimischer Glaube ist keine Eigenschaft, die mich zur gewissenlosen Zugehörigkeit zu einem Lager, zur bedingungslosen Parteinahme für eine Seite zwingt, ohne die Frage nach Recht und Gerechtigkeit zu stellen. Er ist vielmehr eine Frage danach, was (s)ich ändern muss, damit Muslime nicht mehr als Menschen wahrgenommen werden, die sich an Mord und Gewalt ergötzen, die sich an Blut und Tod berauschen. Die Suche nach der Antwort auf diese Frage führt mich nicht nach außen, sie führt mich – während unsere selbsternannten „muslimischen Vertreter“ wieder einmal auf ganzer Linie versagen – bis in die Mitte unserer muslimischen Gemeinschaften.

Ramadan mubarak. Ramadan kareem.