Das neue Jahr 2022 beginnt für Muslime in Deutschland mit der Nachricht der Schändung muslimischer Gräber auf dem Friedhof in Iserlohn. Rechtlich betrachtet handelt es sich bei solchen Taten um Sachbeschädigung und Störung der Totenruhe. Gesellschaftlich betrachtet handelt es sich um ein für unser Zusammenleben wesentlich bedeutsameres Phänomen. Was ich damit meine, habe ich knapp eine Woche vorher in einem Essay beschrieben, das im österreichischen „QAMAR“-Magazin erschienen ist:
Über Heimat und Zugehörigkeit wird viel gesprochen, oft gestritten. Worüber wir uns aber noch zu wenig und zu wenig offen austauschen ist unsere Liebe zu dieser Heimat, meint Murat Kayman in seinem Essay.
Wie soll das überhaupt gehen, die Liebe zur Heimat, wenn Heimat als nationales Kollektiv, als territoriale Einheit, als „Österreich“ oder „Deutschland“ gedacht wird? Wie soll man eine Gebietskörperschaft lieben können? Und ist so ein Gefühl im Hinblick auf ein Stück Land, gleich wie groß es sein mag und insbesondere je größer und damit abstrakter es wird, nicht ein befremdendes, irritierendes Phänomen?
Kurt Tucholsky hat Ende der 1920er Jahre in seinem Werk „Deutschland, Deutschland über alles“ auf beeindruckende Weise die unterschiedlichen Dimensionen der Liebe zu einem Land beschrieben. Tucholskys Gedanken klingen in mir nach wie ein um hundert Jahre verzögertes Echo:
„Nun haben wir auf [vielen] Seiten Nein gesagt, Nein aus Mitleid und Nein aus Liebe, Nein aus Haß und Nein aus Leidenschaft – und nun wollen wir auch einmal Ja sagen. Ja –: zu der Landschaft und zu dem Land Deutschland.
Dem Land, in dem wir geboren sind und dessen Sprache wir sprechen.
Der Staat schere sich fort, wenn wir unsere Heimat lieben. Warum grade sie – warum nicht eins von den andern Ländern –? Es gibt so schöne.
Ja, aber unser Herz spricht dort nicht. Und wenn es spricht, dann in einer andern Sprache – wir sagen «Sie» zum Boden; wir bewundern ihn, wir schätzen ihn – aber es ist nicht das.
Es besteht kein Grund, vor jedem Fleck Deutschlands in die Knie zu sinken und zu lügen: wie schön! Aber es ist da etwas allen Gegenden Gemeinsames – und für jeden von uns ist es anders. Dem einen geht das Herz auf in den Bergen, wo Feld und Wiese in die kleinen Straßen sehen, am Rand der Gebirgsseen, wo es nach Wasser und Holz und Felsen riecht, und wo man einsam sein kann; wenn da einer seine Heimat hat, dann hört er dort ihr Herz klopfen. Das ist in schlechten Büchern, in noch dümmeren Versen und in Filmen schon so verfälscht, daß man sich beinahe schämt, zu sagen: man liebe seine Heimat. Wer aber weiß, was die Musik der Berge ist, wer die tönen hören kann, wer den Rhythmus einer Landschaft spürt … nein, wer gar nichts andres spürt, als daß er zu Hause ist; daß das da sein Land ist, sein Berg, sein See, auch wenn er nicht einen Fuß des Bodens besitzt … es gibt ein Gefühl jenseits aller Politik, und aus diesem Gefühl heraus lieben wir dieses Land. Wir lieben es, weil die Luft so durch die Gassen fließt und nicht anders, der uns gewohnten Lichtwirkung wegen – aus tausend Gründen, die man nicht aufzählen kann, die uns nicht einmal bewußt sind und die doch tief im Blut sitzen. […]
Dies soll hier kein Album werden, das man auf den Geburtstagstisch legt; es gibt so viele. Auch sind sie stets unvollständig – es gibt immer noch einen Fleck Deutschland, immer noch eine Ecke, noch eine Landschaft, die der Fotograf nicht mitgenommen hat … außerdem hat jeder sein Privat-Deutschland. Meines liegt im Norden. Es fängt in Mitteldeutschland an, wo die Luft so klar über den Dächern steht, und je weiter nordwärts man kommt, desto lauter schlägt das Herz, bis man die See wittert. Die See – Wie schon Kilometer vorher jeder Pfahl, jedes Strohdach plötzlich eine tiefere Bedeutung haben … wir stehen nur hier, sagen sie, weil gleich hinter uns das Meer liegt – für das Meer sind wir da. Windumweht steht der Busch, feiner Sand knirscht dir zwischen den Zähnen … Die See. […]
Aus Scherz hat dieses Buch den Titel „Deutschland, Deutschland über alles“ bekommen, jenen törichten Vers eines großmäuligen Gedichts. Nein, Deutschland steht nicht über allem und ist nicht über allem – niemals. Aber mit allen soll es sein, unser Land. Und hier stehe das Bekenntnis, in das dieses Buch münden soll:
Ja, wir lieben dieses Land.
Und nun will ich euch mal etwas sagen:
Es ist ja nicht wahr, daß jene, die sich «national» nennen und nichts sind als bürgerlich-militaristisch, dieses Land und seine Sprache für sich gepachtet haben. Weder der Regierungsvertreter im Gehrock, noch der Oberstudienrat, noch die Herren und Damen des Stahlhelms allein sind Deutschland. Wir sind auch noch da.
Sie reißen den Mund auf und rufen: „Im Namen Deutschlands …!“ Sie rufen: „Wir lieben dieses Land, nur wir lieben es.“ Es ist nicht wahr.
Im Patriotismus lassen wir uns von jedem übertreffen – wir fühlen international. In der Heimatliebe von niemand – nicht einmal von jenen, auf deren Namen das Land grundbuchlich eingetragen ist. Unser ist es.
Und so widerwärtig mir jene sind, die – umgekehrte Nationalisten – nun überhaupt nichts mehr Gutes an diesem Lande lassen, kein gutes Haar, keinen Wald, keinen Himmel, keine Welle – so scharf verwahren wir uns dagegen, nun etwa ins Vaterländische umzufallen. Wir pfeifen auf die Fahnen – aber wir lieben dieses Land.
Und so wie die nationalen Verbände über die Wege trommeln – mit dem gleichen Recht, mit genau demselben Recht nehmen wir, wir, die wir hier geboren sind, wir, die wir besser deutsch schreiben und sprechen als die Mehrzahl der nationalen Esel – mit genau demselben Recht nehmen wir Fluß und Wald in Beschlag, Strand und Haus, Lichtung und Wiese: es ist unser Land. Wir haben das Recht, Deutschland zu hassen – weil wir es lieben. Man hat uns zu berücksichtigen, wenn man von Deutschland spricht, uns […]; man hat uns mitzudenken, wenn „Deutschland“ gedacht wird … wie einfach, so zu tun, als bestehe Deutschland nur aus den nationalen Verbänden.
Deutschland ist ein gespaltenes Land. Ein Teil von ihm sind wir.
Und in allen Gegensätzen steht – unerschütterlich, ohne Fahne, ohne Leierkasten, ohne Sentimentalität und ohne gezücktes Schwert – die stille Liebe zu unserer Heimat.“
Ich bin in Lübeck geboren und aufgewachsen. An der Ostsee. Vielleicht berührt mich dieser Text Kurt Tucholskys deshalb auf eine ganz besondere Weise. Ich habe noch keinen Text gefunden, der besser und aktueller beschreibt, warum und wie ich mich – als Mensch, türkischer Herkunft und islamischen Glaubens – auch deutsch fühle. Und er lässt vielleicht all jene, auch die, „auf deren Namen das Land grundbuchlich eingetragen ist“, ansatzweise erahnen, welch immensen Reichtum ich mein Eigen nenne, mich mit all diesen Empfindungen, all diesen Gedanken und all diesen auf unterschiedliche Art und Weise angeschlagenen Saiten meines Inneren nicht nur mit einem, sondern mit zwei Ländern verbunden zu fühlen.
Ich werde es nie begreifen, warum es besser oder höherwertiger sein soll, nur mit einer Sprache, nur mit einer Kultur, nur mit einer Heimat aufgewachsen zu sein.
Es gibt in Lübeck Kirchen, die ausdrücklich auch meine Kirchen sind – auch wenn ich Muslim bin. Mit diesen Räumen und den Klängen darin sind so viele schöne Erinnerungen und gute Menschen in mir und mit mir verbunden, dass ich nichts anderes als Liebe empfinden kann.
Es ist auch die Türkei, zu der ich nicht „Sie“ sagen kann. Wo mein Herz auch spricht. Und zwar nicht einfach in einer anderen Sprache, sondern in der meiner verstorbenen Mutter. Auch dort höre ich ein heimatliches Herz klopfen. Aus tausend Gründen liebe ich diese türkische Heimat. Mit einem Gefühl, jenseits aller Politik.
Es sind Erinnerungen und Erlebnisse, die sich über die Jahre zu einem Teil meiner Persönlichkeit verfestigt haben. Personen, Stimmen, Lieder, Gerüche, Klänge, Eindrücke, die ganz fest mit dem Herzen und den Gedanken verwoben sind. Meine Großmutter beim Gebet. Die Säure unreifer Trauben, die an jahrzehntealten Reben hängen und in deren Schatten wir, die gesamte Familie, drei Generationen, zum Essen zusammenkommen. Der Duft von Jasminsträuchern. Der Klang des Ezan am frühen Morgen, im Wechsel mit dem Gurren der Tauben. Der Duft frischen Brotes aus dem Steinofen. Streunende Katzen, die über einen Pinienbaum in den Innenhof klettern, wenn der Tisch gedeckt wird. Der Geschmack von Çamlıca Limonade. Das Salz auf den Lippen am Strand der Ilıca-Bucht. Der Rhythmus des Zeybek, die stolze Einsamkeit seines Tänzers. „İzmir‘in kavakları, dökülür yaprakları.“ Das Nebelhorn der Bosporus-Fähren. „İstanbul’u dinliyorum, gözlerim kapalı.“ Wie könnte ich ein solches Land nicht als meine Heimat lieben wollen?
Unzählige Erinnerungen, das Sich-zu-Hause-Fühlen in zwei Sprachen, in zwei Landschaften, manchmal sehr ähnlich, dann wieder grundverschieden. Zwei Heimatlieben, frei von Eifersucht, ohne den Vorwurf der Untreue. Es ist ein unfassbares Geschenk, in zwei Ländern, für zwei Länder, mit und in zwei Sprachen so empfinden zu können.
Es ist Lessing, der in seinem Werk „Nathan der Weise“ Rachel fragen lässt: „Und wie weiß man denn, für welchen Erdkloß man geboren, wenn man’s für den nicht ist, auf welchem man geboren?“
Wenn wir als Muslime das Hineingeworfen-Sein in diese Welt nicht bloß als Zufall betrachten – und das können wir nicht, wenn wir unseren Glauben ernst nehmen – müssen wir hier in Deutschland – und auch in Österreich – erkennen und begreifen: „Ein Teil von ihm sind wir.”
Wer sich dieser Tatsache bewusst ist, sie kennt und bewahrt, kann sich – „unerschütterlich, ohne Fahne, ohne Leierkasten, ohne Sentimentalität und ohne gezücktes Schwert“ – an dem Reichtum erfreuen, zwei Heimaten zu lieben.
Und in dieser Liebe gibt es einen Unterschied, eine Nuance, die in der türkischen Sprache deutlicher und präziser formuliert werden kann als im Deutschen. Es gibt dort sprachlich den Unterschied zwischen „vatan severlik“ und „vatan perverlik“. Das eine meint die Heimatliebe im Sinne einer zwischenmenschlichen Liebe und Leidenschaft. Also eine Liebe, wie sie auch einem Menschen entgegengebracht werden kann. „Vatan perverlik“ jedoch meint eine Heimatliebe, die in Gestalt einer behutsamen Fürsorge für die Heimat zum Ausdruck kommt.
Die leidenschaftliche Liebe zur Heimat birgt die gleichen Gefahren wie die Liebe zu einem Menschen. Sie ist begehrend, possessiv, ausschließend und eifersüchtig. Sie überhöht und idealisiert.
Und sie kann enttäuscht werden. Nicht zurückgeliebt zu werden, kann kränken und verwunden. Die Liebe kann sich dabei zur Besessenheit wandeln und zerstörerisch wirken.
Die Heimat als Objekt der Liebe kann zum Besitzgegenstand werden, und häufig wird dann die eigene Liebe zum Herrschaftswillen, der anderen nicht zugebilligt wird. Die Liebe zur Heimat wird dann zum Anspruch auf die Heimat – zu einem Anspruch, der anderen abgesprochen wird. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, warum es keine heimatlose Rechte gibt: Der Anspruch auf eine eigene, exklusive Heimat, aus der alle anderen herausgedrängt werden, die nicht so sind wie das konstruierte „Wir“, ersetzt die Mühe, sich um eine Heimat sorgen und kümmern zu müssen, die vielfältig ist. Das Abstraktum der behaupteten Liebe und ihre Überhöhung ersetzt jede faktische Anstrengung, sich um das Zusammenleben der vielen unterschiedlichen Menschen in dieser gemeinsamen Heimat einsetzen zu müssen.
Nicht ohne Zufall sind es über nationale und kulturelle Grenzen hinweg häufig die rechten politischen Kräfte, also jene, die behaupten, ihre Heimat über alles und allem zu lieben, die diese Heimat zerstören – Demokratie und Menschenrechte aushöhlen, aus Profitgier die natürlichen Lebensgrundlagen zerstören oder durch Korruption und Nepotismus die Fundamente der eigenen Heimat erodieren. Die Heimat wird zur Befriedigung der eigenen Machtansprüche bis in ihre Zerstörung hinein geschunden.
Diese politischen Effekte sind in unserer Gegenwart auch deshalb so sichtbar, weil die possessive Erzählung einer „reinen Heimat“, einer „eindeutigen und homogenen Heimat“ immer schwieriger wird. Das Blut und der Boden eines vermeintlich reinen, puren Heimatlandes werden durch unser aktives, einander zugewandtes Zusammenleben immer mehrdeutiger. Was die rechten politischen Kräfte als Verlust biologistischer Reinheit und Niedergang eines exklusiven Anspruchs auf territoriale Heimat empfinden, ermöglicht es einem immer größer werdenden Teil unserer Bevölkerung, ihren Lebensmittelpunkt auch als Heimatland im buchstäblichen Sinne zu begreifen: Unsere Eltern und Großeltern, die in Deutschland oder Österreich versterben, bestatten wir zunehmend hier vor Ort. Ihre verwirklichten Träume, ihre unerfüllt gebliebenen Wünsche, ihre Freuden und Sorgen, ihre Tränen und ihr Lächeln, ihre Hoffnungen und Verwundungen, ihre Stimmen und ihr Duft gehen ein und vermischen sich mit deutschem oder österreichischem Boden.
Es kommt nicht mehr darauf an, „woher man kommt“. Mit jeder Generation, die sich untrennbar mit diesem Land verbindet, gedeiht die Hoffnung, dass Österreich, dass Deutschland zur unumkehrbaren Heimat aller ihrer Bewohner werden. Wie kann man ein solches Land dann nicht lieben wollen? Selbst wenn es einen nicht zurückliebt.
Und wäre ich in allen meinen Heimaten verhasst, so blieben sie doch immerfort meine Heimaten, die ich liebe. Denn Hass kann keine Hoffnung erzeugen.