Lost in Diaspora

Kürzlich haben die beiden Autoren Harry Harun Behr und Meltem Kulaçatan die Studie „DITIB Jugendstudie 2021 – Lebensweltliche Einstellungen junger Muslim:innen in Deutschland“ veröffentlicht.

Es ist anzunehmen, dass die Studie gerade in behördlichen und zivilgesellschaftlich engagierten Kreisen viele LeserInnen finden wird, die sich mit der Frage konfrontiert sehen, in welchem Umfang und mit welcher inhaltlichen Ausrichtung wieder oder weiter mit dem Ditib Bundesverband und seinen Untergliederungen zusammengearbeitet werden kann. Schließlich sind innerhalb des DITIB Verbandes mehr als 800 Moscheegemeinden zusammengefasst. Aus dieser mitgliedschaftlichen Struktur erwächst und behauptet die DITIB-Führung immer wieder eine Repräsentativität und damit eine quantitative Relevanz bei der Frage der Kooperation mit staatlichen Stellen.

Die Studie weist an mehreren Stellen inhaltliche Aspekte auf, die von den Autoren im Rahmen ihrer akademischen Kompetenzen und vor dem Horizont ihrer unmittelbaren Erfahrung mit den DITIB Strukturen eingeordnet und ausgelegt werden. Aus diesen Deutungsansätzen entwickeln die Autoren stellenweise Handlungsempfehlungen und skizzieren sie Entwicklungspotenziale, die für die Kooperationsfrage richtungsweisend und inhaltlich prägend sein können.

Indes nehme ich als Muslim mit jahrelangen Erfahrungen in den ehrenamtlichen und hauptamtlichen Strukturen des DITIB Verbandes inhaltliche Wertungen wahr, die ich nicht in Übereinstimmung mit meinen Beobachtungen bringen kann. An diesen Stellen habe ich vielmehr den Eindruck, dass die Autoren – wohlwollend und von besten Zuständen ausgehend – eine Handlungsmotivation der DITIB Verbandsführung annehmen, die religiös-ethischen Grundsätzen folgt. Dabei wird verkannt, wie sehr die DITIB-Handlungsmechanismen vollständig von jedem religiösen Impuls befreit, rein politischer Machtlogik folgen. Es ist stets nur das Ergebnis dieser Dominanz des Politischen, welches im äußeren Erscheinungsbild mit religiöser Verzierung und Verkleidung versehen kommuniziert wird.

Ebenso sind die Einordnungen der Autoren im Hinblick auf ihre Studienergebnisse mehr von dem Wunsch oder der Hoffnung geprägt, in welche Richtung sich idealerweise die DITIB Strukturen als deutsche Religionsgemeinschaft entwickeln könnten – als von den tatsächlichen Entwicklungstendenzen innerhalb des Gesamtverbandes.

Diese abstrakte Wertung will ich im Folgenden anhand ausgesuchter Originalpassagen aus der Studie konkretisieren und vor dem Hintergrund meiner Beobachtungen und Erfahrungen diskutieren. Damit verfolge ich mit diesem Text nicht das Ziel einer abwertenden Beurteilung der Studie oder ihrer Autoren, sondern die Ergänzung ihrer inhaltlichen Ausführungen um eine zusätzliche Perspektive, so dass die LeserInnen der Studie sich ein differenzierteres Bild darüber machen können, was sich aus den Ergebnissen der Studie letztlich als Handlungsmöglichkeit ableiten lässt.

„Es scheint auf der Hand zu liegen, dass Jugendliche, die sich positiv zur DİTİB positionieren, damit automatisch ein bestimmtes Spektrum innerhalb der Farbenlehre bundesdeutscher muslimischer Jugendlichkeit darstellen. Aber dieser Annahme liegt der immer noch weit verbreitete Glaube an die Existenz stabiler Milieus mit jeweils eigener habitueller, mentaler und sozialer Funktionslogik zugrunde. Warum also nicht andersherum denken, nämlich dass sich innerhalb solcher Organisationen wie des Bunds der Muslimischen Jugend (BDMJ) möglicherweise die Vielfarbigkeit junger Muslim:innen in Deutschland abbildet?“ (Seite 11)

Warum also nicht andersherum denken? Weil die Studie – als Momentaufnahme verstanden – nur eine Vielfarbigkeit abbildet, die aus dem zeitlich versetzen und altersbedingt geschichteten Engagement junger MuslimInnen aus einer breiten Gemeindebasis entsteht. Die viel entscheidendere Frage ist doch die, ob diese Vielfarbigkeit im Sinne einer pluralistischen Zusammensetzung der Jugendgruppen und der Offenheit gegenüber unterschiedlichen Verständnissen von Frömmigkeit, Religionspraxis oder ethischer Wertvorstellungen als Ziel verfolgt und gefördert wird.

Vielfalt ist nicht das Ziel der DITIB

Oder ob diese Momentaufnahme für den externen Beobachter überhaupt nur als Standbild wirken kann, weil die DITIB Strukturen unter der Leitung ihrer Verbandsführung gerade darauf drängen, diese Vielfalt einzudämmen und das Ideal einer gleichförmigen, uniformen, im religiösen, politischen und gesellschaftlichen Sinne möglichst homogenen Verbandsjugend verfolgen?

Allein der Blick auf die mediale Präsentation der Verbands- und Jugendarbeit in den vergangenen Jahren macht bereits auf der Ebene des äußeren Erscheinungsbildes deutlich, wohin die Reise innerhalb der DITIB Strukturen tatsächlich geht und im Interesse der Verbandsführung auch gehen soll: Die Gruppenfotos der DITIB-Jugendarbeit wiesen vor einigen Jahren noch wesentlich heterogenere Teilnehmerprofile auf als es gegenwärtig der Fall ist. Früher war es keine Seltenheit, dass junge Frauen auch ohne Kopftuch sich in den Jugendstrukturen engagieren konnten. Die Aufstellung zu Gruppenfotos folgte in der Regel keiner räumlichen Aufteilung nach Geschlechtern.

Wer hingegen aktuelle bildliche Darstellungen zur DITIB Jugendarbeit verfolgt und weiß, mit welchen Motiven aus der Vergangenheit diese verglichen werden können, wird feststellen, dass allein schon nach dem äußeren Erscheinungsbild her eine Vereinheitlichung und interne „Ordnung“ sich durchzusetzen scheint, die weniger mit originären, selbstbestimmten Veränderungen innerhalb der Jugendszene zu tun haben, sondern vielmehr die Folge einer durch die Verbandsführung gewollten und geförderten Durchsetzung von pseudoreligiösen Vorstellungen über eine „tugendhafte Jugend“ (im Verbandsjargon als „erdemli gençlik“ bezeichnet) sind.

Ich empfehle hier einen Blick auf die Webseite des BDMJ, dort auf die Unterseite „Gründungszweck und Leitbild“. Das dortige Titelbild dürfte, entsprechend den inhaltlichen Ausführungen zur Gründung des Jugendverbandes im Jahr 2014, tatsächlich aus diesem Jahr stammen. In der Mitte des Bildes ist der heutige Bundesvorsitzende Kazim Türkmen zu sehen. Der dadurch vermittelte erste Eindruck, es handele sich um eine aktuelle Aufnahme, kann nur jemand widerlegen, der die Personen auf dem Foto, ihre heutige Situation und ihren Werdegang seit 2014 kennt. Kazim Türkmen war damals Vorstandsmitglied und Religionsattaché in Köln. Viele der jungen Leute, die den Jugendverband 2014 mitgegründet haben, sind mittlerweile „gegangen worden“ oder haben die Arbeit frustriert hingeschmissen.

Ein direkter Vergleich im Hinblick auf die Veränderung des BDMJ ist auf ihrer eigenen Webseite, dort auf der Unterseite „Aktuelles“ möglich. Neben dem Gründungsmotiv aus dem Jahr 2014 ist dort auch eine Aufnahme des Gründungsvorstandes zu sehen. Die Veränderung der Bildkomposition über die Jahre hinweg ist nicht zufällig: In 2014 steht die damalige Vorsitzende des BDMJ, Sümeyra Kılıç, mit vier weiteren Vorstandskolleginnen in der ersten Reihe. Ihre drei männlichen Vorstandskollegen stehen in der hinteren Reihe – neben ihnen das vierte männliche Vorstandsmitglied, Gürcan Mert, in der Funktion des „Koordinierenden Vorstandsmitglieds“. Hinter dieser Bezeichnung verbirgt sich die Tatsache, dass es sich hier um den Vertreter des „Erwachsenenverbandes“ also des Bundesvorstandes handelt, der die Arbeit des BDMJ „koordinierend“ begleiten soll – also sicherstellt, dass dort nichts geschieht, was den Vorstellungen des DITIB Bundesvorstandes widerspricht.

Auf der gleichen Seite ist ein Foto zu finden, das den Titel „Bundesvorstand des Bundes Der Muslimischen Jugend (BDMJ) neu gewählt“ trägt. Klickt man den Artikel an, erscheint ein Bild des damals, nämlich 2019, gewählten Vorstandes: neben dem männlichen Vorsitzenden vier weitere männliche und nur noch zwei weibliche Vorstandesmitglieder.

Mehr Kontrolle des Bundesverbandes

Zurück zum Titelbild des Artikels, dem Gruppenfoto von der Delegiertenversammlung in Dahlem, 2019: Es dominiert eine reine Männerriege in den ersten beiden Reihen. Die wenigen Frauen sind in der hintersten Reihe platziert. Bemerkenswert ist insoweit auch, wer außer den Delegierten auf diesem Foto zu sehen ist. In der Mitte ist – etwas verschwommen aber wohl doch – Ahmet Dilek abgebildet. Er war, wenn ich mich richtig erinnere, der Nachfolger des heutigen Bundesvorsitzenden Kazim Türkmen in dessen damaligem Amt als Kölner Religionsattaché und Mitglied des DITIB Bundesvorstandes. Er gehörte während der Spionageaffäre im Jahr 2016 zu den eifrigsten Berichterstattern nach Ankara. Dilek ist nicht nur auf dem Foto aus dem Jahr 2019 zu sehen. Auch heute noch geht er im Verwaltungsgebäude des DITIB Bundesverbandes ein und aus – ausweislich der DITIB Webseite als Stellvertretender Vorsitzender des DITIB Bundesverbandes. Interessant ist, dass Dilek demnach seit mindestens sechs Jahren in Deutschland lebt. Wovon, ist nicht ganz klar. Das Vorstandsamt ist ein Ehrenamt. Dilek dürfte seit dem Spionageskandal auch kein Religionsattaché mehr sein. Wenn er sein Gehalt von der Diyanet bezieht, dürfte er mittlerweile der am längsten ununterbrochen im Außendienst der Diyanet bezahlte Gemeindeimam sein. Nur Imam welcher Gemeinde? Und warum scheinen für ihn die Befristungen des Auslandsdienstes für Theologen nicht zu gelten?

Schauen wir weiter auf das Bild von der Delegiertenversammlung des BDMJ aus dem Jahr 2019. Neben Dilek steht Abdurrahman Atasoy, heutiger Generalsekretär des DITIB Bundesverbandes. Weiter rechts in der gleichen Reihe stehen Zekeriya Altuğ und Sami Sipahi. Altuğ ist Abteilungsleiter für „Gesellschaft und Zusammenhalt“ – früher war seine Abteilung dem Namen nach zuständig für „dış ilişkiler“ … also „Außenbeziehungen“. Neben ihm steht mit Sipahi ein weiterer heutige Abteilungsleiter des DITIB Bundesverbandes, nämlich für „Beratung, Prüfung und Organisation“ der DITIB Vereinsstrukturen. Sipahi und Atasoy kommen ursprünglich aus dem Ausbildungsprogramm für Theologen der Diyanet und der DITIB. Statt als theologische Absolventen in die religiösen Gemeindedienste zu gehen, sorgen sie als Funktionäre der nächsten Generation für eine zunehmende Anbindung der DITIB Strukturen an die behördliche Aufsicht der Diyanet: Sie waren ursprünglich im Dienst der Diyanet und haben den Aufstieg in den Verwaltungsstrukturen der DITIB der Tatsache zu verdanken, dass sie durch besondere Treue und Gehorsam gegenüber den Religionsattachés für den Geist der Kontinuität stehen. Auf den Gedanken der strukturellen Emanzipation würden sie nie kommen: eine vergleichbare Karriere ohne jede organisatorische Fachkompetenz wäre ihnen auf dem freien Arbeitsmarkt gar nicht möglich.

Diese Bilder zeigen eindrücklich, dass die Entwicklung innerhalb der Ditib Strukturen immer weiter Richtung mehr Vereinheitlichung, mehr Kontrolle und Aufsicht durch die DITIB Bundesverbandsführung und zu einer zunehmenden Vereinheitlichung des Denkens und Glaubens innerhalb der Jugendstrukturen geht. Der Optimismus der Autoren der Studie, die Studienergebnisse würden eine Motivation zu mehr Eigenständigkeit und Emanzipation des Jugendverbandes führen, erscheinen mir als gut gemeintes, aber letztlich mit den tatsächlichen Verhältnissen nicht übereinstimmendes Wunschdenken zu sein. Für den Bundesverband dürfte die Studie eher eine wissenschaftliche Analyse der gegenwärtigen Zustände sein und damit als Wegweiser dafür dienen, welche „gefährlichen“ Entwicklungen der Verselbständigung der verbandlichen Jugendarbeit sie im eigenen Interesse der Kontrolle und Bewahrung der hierarchischen Verbandsstrukturen möglichst zu unterbinden haben.

Aus der BDMJ-Geschichte gestrichen

Für diese Interpretation spricht auch ein weiteres Detail der medialen BDMJ Selbstdarstellung: Wer sich die Webseite des BDMJ anschaut, kann schnell den Eindruck gewinnen, dass nach dem Gründungsvorstand im Jahr 2014 nur noch die Delegiertenversammlung in Dahlem im Jahr 2019 stattgefunden hat. Die Existenz eines weiteren BDMJ-Vorstandes nach 2014 und vor 2019, nämlich des Vorstandes um den damaligen BDMJ-Vorsitzenden Taner Beklen, ist offenbar aus der Geschichte des BDMJ, jedenfalls soweit sie sich aus der Webpräsenz erblicken lässt, gestrichen worden. Die Vorstandsmitglieder, ihre inhaltliche Arbeit, ihr Protest gegenüber dem Bundesverband und letztlich ihr kollektiver Rücktritt haben in der offiziellen Selbstdarstellung des BDMJ nie existiert. Es verwundert, dass sich die Studienautoren diesem Stillschweigen anschließen. Jedenfalls geht nirgends aus der Studie hervor, wie diese Episode der BDMJ Geschichte aus Sicht der Autoren einzuordnen ist und welche Prognosen sie gegenwärtig daraus ableiten.

Wem diese Deutung zu pessimistisch erscheint, mag einen Blick auf die mediale Begleitung der Veröffentlichung der Studie werfen – nämlich auf die mediale Begleitung durch den DITIB Bundesverband. Auf deren Webseite ist ein aktueller Bericht über das „Pressegespräch zur Vorstellung der ‚DITIB-Jugendstudie‘“ zu finde – auf der eigenen Webseite des BDMJ, wird die Studie nicht beworben oder prominent platziert. Man muss sie versteckt in den Pressemitteilungen suchen.

Auf den Fotos zu diesem Artikel auf der Webseite des DITIB Bundesverbandes sind nur die beiden Studienautoren, der aktuelle BDMJ-Vorsitzende und die beiden DITIB Funktionäre Atasoy und Altuğ zu sehen. Dank Atasoys Social Media Kanälen finden wir ein weiteres Foto, das das gesamte Pressegespräch abbildet: Es sind darauf drei Pressevertreter zu sehen. Und – neben den genannten Ditib-Funktionären – auch Yasin Baş. Baş ist Redaktionsmitglied der hauseigenen DITIB-Zeitschrift. Mit seiner Tätigkeit für die DITIB tritt er selten in die Öffentlichkeit; dort bezeichnet er sich vielmehr als „Politologe, Historiker, Autor und freier Journalist“. Als solcher schreibt er u.a. auch für TRT Deutsch – zum Beispiel über die Entfernung des Mahnmals zur Erinnerung an den Armeniergenozid im Osmanischen Reich. Für Baş freilich ist das nur ein „sogenanntes Mahnmal“ und die historischen Ereignisse bloß die „Umsiedlung der armenischen Staatsbürger im Osmanischen Reich“. Baş wurde 2021 in den Vorstand der UID gewählt. Die UID ist die Union Internationaler Demokraten, eine Lobby-Organisation der türkischen Regierungspartei AKP. Das Gremium, in das Baş gewählt wurde, wird im Türkischen als MKYK, als Merkez Karar ve Yönetim Kurulu, bezeichnet. Als Zentrales Entscheidungs- und Lenkungsgremium – das ist die türkische Bezeichnung für Parteivorstände.

Auf Wikipedia heißt es zur UID: „Deutschlands Bundesamt für Verfassungsschutz schätzt Ziele und Tun der UID seit 2018 als unvereinbar mit der freiheitlich-demokratischen Ordnung ein. Die Organisation wird deshalb beobachtet.“

Neben dem einzigen Vertreter des BDMJ sind das also die Gesprächspartner, die an dem Pressegespräch zur Jugendstudie auf Seiten der DITIB Strukturen teilnehmen.

Diese Begleiterscheinungen und Rahmenbedingungen blenden die Autoren der Studie in ihrer Auswertung der Befragungsergebnisse aus. Damit geht aber einher, dass der BDMJ eben nicht das hoffnungsstiftende, innovative und Entwicklungsimpulse setzende Gremium ist, für das ihn die Studienautoren vielleicht halten möchten und gerade nicht die Erneuerungskräfte freisetzen kann, die sich die Studienautoren erhoffen.

Ausblendung der Entwicklung der letzten 8 Jahre

Dazu muss man wissen, dass der BMDJ mit seiner Gründung im Jahr 2014 die letzte Phase und damit den Höhepunkt und zugleich den Beginn des Niedergangs eines bestimmten Organisationsprozesses innerhalb der DITIB markiert. Mit den Impulsen der ersten Deutschen Islamkonferenz und der Einsicht, sich strukturell so aufzustellen, dass man als religionsverfassungsrechtlich legitimer und verlässliche Partner in den gemeinsamen Angelegenheiten des Staates und der Religionsgemeinschaften fungieren kann, begann der Föderalisierungsprozess des DITIB Verbandes. Es wurden Landesverbände gegründet, die als Ansprechpartner der jeweiligen Landesregierungen in Fragen des Islam, der universitären islamischen Theologie und des schulischen islamischen Religionsunterrichts funktionieren sollten. Diese strukturelle Veränderung und Diversifizierung brachte eine zunehmende Verzivilgesellschaftung und damit eine zunehmend selbstbewusste und auf Teilhabe innerhalb der Verbandsstrukturen drängende Mitgliederbasis mit sich. Es eröffneten sich Möglichkeiten des religionsgemeinschaftlichen Engagements.

Es bildeten sich aber auch Gremien auf Landesebene, die durch ihre Repräsentation auch auf Bundesebene eine Rolle in den Entscheidungsfindungsprozessen des DITIB Bundesvorstandes spielen wollten.

Diese „Mehrköpfigkeit“ und Verteilung von Autorität wurde spätestens ab 2015 in der Führungsebene des Bundesverbandes nicht als Demokratisierung der DITIB verstanden, sondern als illegitime Konkurrenz in Fragen der Verbandsleitung und Machtkonzentration auf behördliche Vertreter der Diyanet. Der Anspruch ziviler Landesvorstandsmitglieder, in Belangen des Bundesverbandes mitdiskutieren zu wollen oder bei der Wahl des Bundesvorsitzenden mehr als nur eine pseudodemokratische Staffage zu vermitteln und ausdrücklich mitentscheiden zu wollen, wurde als Meuterei gegen die Autorität der obersten türkischen Religionsbehörde und alle ihre Bediensteten verstanden. Ab diesem Zeitpunkt galt es für den Bundesverband, die zivilen Landesstrukturen zu entmachten, sie durch die Religionsattachés zu kontrollieren und nur noch ihre Funktion als Ansprechpartner staatlicher Stellen zu erhalten. Das fehlende Verständnis, dass es über eine bloße demokratisch anmutende Hülle hinaus auch eine tatsächliche demokratische Verlässlichkeit in den Strukturen, ihren Abläufen und personalen Vertretungen geben muss, sagt viel aus über den Zustand der Türkei, ihrer Behörden und die demokratische Reife ihrer verbeamteten Bediensteten innerhalb der DITIB.

Der BDMJ ist also eine Spätgeburt innerhalb der strukturellen Öffnungsprozesse und gleichzeitig ein Überbleibsel aus dieser Zeit. Die Studie wird der DITIB Bundesverbandsführung deshalb nicht als Hinweis dazu dienen, wie und wo sie die Eigenständigkeit der eigenen Verbandsjugend fördern kann, sondern als Hinweis darauf, wo und wie sie diese Bestrebungen unterbinden oder in Inszenierungen von vermeintlicher Demokratie und Eigenständigkeit umleiten kann, ohne das letzte Wort und die letztgültige Kontrolle über den Jugendverband zu verlieren.

Dieses Kontrollbedürfnis des DITIB Bundesverbandes tritt auch durch die Zeilen der Studie selbst in Erscheinung: “Unsere Diskussionsgruppe erweiterte sich im Rahmen dieser Konstellation um maßgebliche Teilnehmer:innen aus der Führungsetage der DİTİB. Die formale Beauftragung für die Studie erfolgte schließlich durch die DİTİB selbst und nicht durch den BDMJ.”(Seite 13)

Fehlende Glaubhaftigkeit der DITIB-Selbstbeschreibung

Tendenziell widersprüchliche Ergebnisse der Studie werden in der Einordnung durch die Autoren eher nivelliert als dass sie in ihrer Signalwirkung für problematische Entwicklungen erkannt werden. So heißt es in der Studie zum Beispiel:

“Das wirft erneut ein Schlaglicht auf die Fähigkeit der DİTİB, über religiöse Grundbildung zur Stabilisierung der Persönlichkeit beizutragen. Zu dieser Stabilisierung gehört eine sehr zurückgenommene Dichotomie zwischen einem imaginierten Wir gegenüber einem imaginierten Ihr. Es wird nicht polarisiert; das Gegenteil ist der Fall: Die DİTİB und der BDMJ adressieren über ihre Arbeit Jugendliche mit einer dezidiert postmigrantischen Identität und verleihen ihnen über die religiöse Matrix einen gesellschaftlich relevanten moralischen Kompass. Die jungen Muslim:innen werden befähigt, die Diskrepanz zwischen Beheimatung und Entfremdung sowie Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen zu bearbeiten und zu moderieren; sie sind dadurch krisenfest. Die DİTİB und der BDMJ kaprizieren sich nicht auf eine religionsgemeinschaftliche Sondersozialisation oder leisten eine gesellschaftliche Defizitkompensation, sondern sie erwirtschaften einen staatsbürgerlichen Mehrwert, der auch der Gesamtgesellschaft zugutekommt.”(Seite 79)

Mit dieser Wertung korrespondiert ein weiteres Detail, auf das uns die Studienautoren aufmerksam machen. Nicht in der Studie selbst, aber im Interview mit der FAZ:

“Die Frankfurter Forscher beteuern, dass eine Einflussnahme des Auftraggebers auf die Ergebnisse vorab ausgeschlossen worden sei. Auf Nachfrage sagt Behr, dass die DITIB sich lediglich am Begriff der „islamischen Diaspora“ im Studienkonzept gestört habe („Sie sagen: Wir sind hier in Deutschland zu Hause“).  https://m.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/hoersaal/junge-muslime-sind-gegen-extremismus-und-glauben-an-einzig-wahre-religion-18018162.html

Wer die DITIB-Strukturen aus der Nähe kennt, die Gesinnung der Diyanet-Beamten innerhalb der DITIB-Strukturen in ihrer praktischen Entfaltung erlebt hat, muss erstaunt sein, dass die Studienautoren die Belastbarkeit dieser Aussagen als vermeintlich authentische Selbstverortung der DITIB nicht hinterfragen. Die Ergebnisse der Studie selbst bieten doch zahlreiche Hinweise darauf, dass diese Selbstverortung eher eine strategische Aussage im Hinblick auf sozial erwünschte Haltungen ist als eine den tatsächlichen Motivationen entsprechende Manifestation einer heimatlichen Verbundenheit mit Deutschland.

Denn wie belastbar kann diese Äußerung sein, wenn der Bundesvorsitzende der DITIB regelmäßig nicht mal Mitglied eines DITIB Moscheevereins ist? Wie sehr kann der BDMJ in Deutschland zu Hause sein, wenn er keine eigene, eigenständige juristische Rechtspersönlichkeit haben darf, sondern nicht rechtsfähiges Organ des Bundesverbandes, geleitet durch türkische Beamte, bleiben muss.

Letzte Ruhe

Wie sehr ist man in einem Land zu Hause, in welchem man überwiegend nicht beerdigt werden will (Seite 73)? Die Studienautoren versuchen sich dieses spezielle Ergebnis durch religionsphilosophische Deutungen zu erklären. Auf folgende Möglichkeit kommen sie nicht: Wenn man sich nicht als Deutscher fühlt, ohne damit einen Verlust der türkischen Identität zu empfinden, wenn also Eindeutigkeit in der Selbstbestimmung prägend ist, warum sollte man dereinst zu deutscher Erde zerfallen wollen, wenn man auch zu türkischer Erde werden kann?

Geradezu waghalsig erscheint die Analyse der Studienautoren im Hinblick auf die Funktion und Wirkung der DITIB. So heißt es (auf Seite 149):

“Ein weiterer Befund ist die gelegentliche Adressierung romantischer Gefühle, die in den freien Antworten beispielsweise an die türkische Regierungs- und Außenpolitik gerichtet werden; das bezieht sich auf den politischen Anspruch der türkischen Regierung auf globale Repräsentation des Islams. Diese Gefühle verstärken sich dann, wenn die Erfahrung rassistischer Markierung und öffentlich unwidersprochener Hassrede gegen den Islam und gegen Muslim:innen zunimmt. In diesem Gefügte kommt der DİTİB eine wichtige Aufgabe zu:

  • Die DİTİB fungiert durch ihr geregeltes außerschulisches Bildungsangebot in vielen Bereichen gewissermaßen als Ersatz für den Abbruch zu bildungsrelevanten Rückbindungen an die Türkei. Gerade hier kommt die Wechselwirkung zwischen zwei Merkmalen ihrer Identität zum Zuge: Sie wird als religiöse und migrantische Organisation in Anspruch genommen und kann deshalb jedes dieser (für sich alleine genommen schon sehr volatilen) Segmente auch über das jeweils andere Segment erreichen. Sie darf sich gerade deshalb nicht dazu verführen lassen, einem wie auch immer gearteten deutschen oder europäischen Islamverständnis das Wort zu führen; sie muss sich selbst treu bleiben und von dieser Warte aus ihren Bedacht auf die Kultivierung islamischer Praxis und auf die intelligente und nachhaltige Weiterentwicklung ihres Islamverständnisses in Deutschland legen.”

Hier wird nicht nur eine Remigrantisierung einer Institution beworben, die gerade ihre eigene Jugend in der nahezu schon vierten Nachfolgegeneration der “Gastarbeiter” wissenschaftlich untersuchen lassen will, sondern sie soll sich auch ausdrücklich “treu bleiben”. Einem Islamverständnis also “treu bleiben”, das Nationalismus und Militarismus durch religiöse Verbrämung nicht nur verharmlost, sondern geradezu adelt. “Treu bleiben”, einem Islamverständnis, das Deutsch-Sein als Gegenteil von Muslimisch-Sein versteht und sich unter “deutschem oder europäischem Islam” nur für MuslimInnen Verbotenes vorstellen kann. “Treu bleiben”, einem kulturalisierten Islamverständnis, das als nach außen abgeschlossener türkischer Identitätscontainer gedacht und gelebt wird, wobei das muslimische Selbstverständnis durch nichts “Deutsches” kontaminiert werden darf. “Treu bleiben”, einem Islamverständnis, das sich durch alle oben beschriebenen Komponenten auf Dauer als in Deutschland fremde Wagenburg muslimischer Existenz versteht, die sich gegen diese Gesellschaft verteidigen muss, statt sie als originärer Bestandteil zum Wohle aller mitzugestalten. Kann es wirklich sein, dass den Studienautoren dieses hochproblematische Religionsverständnis der DITIB, gerade nochmal verschärft in den letzten Jahren, völlig entgangen ist? Zu welcher „Treue“ rufen sie da auf?

Die Studienautoren sind sich vielleicht nicht bewusst, wie selektiv ihre Auftraggeberin diese Studie lesen und als Handlungsoption begreifen wird. In den Abteilungsleitersitzungen der DITIB mit dem Bundesvorstand wird es heißen: Weiter so! Wir müssen unser identitäres Islamverständnis weiter pflegen und bewahren. Wir haben attestiert bekommen, dass durch unsere religiösen Bildungsangebote die Jugendlichen nicht radikalisiert werden!

Die Tatsache aber, dass ein deutscher Verein seine Mitglieder nicht zu Extremisten macht, sollte als eine selbstverständliche Mindestvoraussetzung begriffen werden – und nicht als institutioneller Erfolg, der nun mit mehr Teilhabe und Kooperation honoriert werden muss.

Wenn die Studienautoren vor diesem Hintergrund feststellen:

“Angesichts der bis hierher beschriebenen Ambivalenzen wird die eigene Zukunft und die der eigenen Kinder offenbar in Deutschland gesehen. Die DİTİB steht für die Befragten in diesem Zusammenhang nicht für die Türkei, sondern für Deutschland: Sie steht demnach auch für eine islamisch-plurale Verortung und für eine religiöse Zukunft in Deutschland. Da ist kein Raum für Distanzierungsbewegungen innerhalb der DİTİB; alle Loyalitätsindizes sind hoch.” (Seite 158)

Dann muss dies unbedingt präzisiert werden: Für die Mitglieder und Jugendlichen steht die DITIB nicht für Deutschland, sondern für die Türkei in Deutschland. Die DITIB ist die türkisch-muslimische Arche in den identitätsbedrohenden Wellen der deutschen Sintflut. Sie steht für ihr Selbstverständnis, dass eine religiöse Zukunft in Deutschland nur unter ihrem Schutz und unter ihrer Bewahrung alles Türkischen möglich ist – bis in die architektonische Innengestaltung einer Moschee mit Insignien der türkischen Nationalsymbolik. Dass da kein Raum für Distanzierungsbewegungen ist und alle Loyalitätsindizes hoch sind, deutet gerade darauf hin, dass das Islamverständnis und damit auch die Vorstellung über die Zukunft der eigenen Organisation nicht einem pluralen Verständnis, nicht dem Wunsch nach mehr Vielfalt und Diversifizierung folgt, sondern dem Wunsch nach national-religiöser Eindeutigkeit und der Pflege von nationalen und religiösen Überlegenheitserzählungen. Das ist der Grund für die Bindung an die DITIB. Wer diese Sackgasse erkennt, erkennt auch, dass er diese Strukturen gerade wegen der hohen Loyalitätsindizes nicht verändern, nicht aufbrechen kann. Wer das erkennt und bedauert, verlässt die Jugendarbeit der DITIB.

YTB

In diesem Zusammenhang blenden die Autoren der Studie auch vollständig aus, welche Zielrichtung und strategische Orientierung die türkische Regierungspolitik im Hinblick auf im Ausland lebende türkischstämmige MuslimInnen verfolgt. Seit 2010 gibt es innerhalb der türkischen Verwaltungsorganisation das „Präsidium für Auslandstürken und verwandte Völker“ (YTB). Ganz selbstverständlich und in der sprachlichen Selbstbeschreibung wiederkehrend ist die Definition dieser Behörde als Diasporabehörde und damit aller im Ausland lebenden MuslimInnen türkischer Herkunft als Diasporagemeinden. Hier nur wenige Sätze aus der behördlichen Selbstbeschreibung der YTB in englischer Sprache, dem Inhalt der Behördenwebseite entnommen:

“Turkey signed labor agreements with various countries in the 1960s With Germany in 1961, with Austria, Belgium and the Netherlands in 1964; with France the following year andultimately with Australia in 1967 after the implementation of these agreements our workers began to migrate to the countries listed above and played a major role in their respective host countries’ development.As a result, most of Turkish diaspora has settled with their families as permanent members of these societies.”

“In the 2000s, new needs have emerged from many directions, our diaspora in Europe faced educational and employment hardships, institutionalized racism and discrimination, Islamophobia and citizenship rights issues. It was these issues that came to the fore front and caused Turkey’s diaspora policy to focus on producing solutions for these problems.”

“Regarding all these needs, Turkey’s diaspora policy has been based on implementing three objectives:

Maintaining ties of Turkish citizens living abroad with the homeland,

Preserving the native language, culture and identity of Turkish citizens living abroad,

Strengthening social status of Turkish citizens living abroad,”

“With these programs, our youth living abroad has the opportunity to get to know more about their country, culture, history and other members of our diaspora.”

An keiner Stelle der Studie fragen sich die Autoren, ob man – angesichts dieser politischen Agenda der türkischen Regierung – den DITIB Vertretern im Hinblick auf ihre Aussage, sie seien in Deutschland zu Hause und keine islamische Diaspora, wirklich Glauben schenken darf. Stattdessen entfernen die Autoren ganz einfach diese Begrifflichkeit aus der Studie.

Es sind unter anderem auch die Adressaten der DITIB Jugendarbeit, die in großen Gruppen regelmäßig gefördert durch das YTB Präsidium in die Türkei geflogen werden, um auf Rundreisen und Indoktrinationsseminaren das Gefühl der Rückbindung an die türkische Identität und die Selbstverortung als Teil einer ausländischen türkisch-muslimischen Diaspora zu festigen. Eine hybride Selbstwahrnehmung als Deutsche und Muslime, als Deutsche und Türken hat im Diasporaverständnis der türkischen Regierung keinen Platz.

Kann also entgegnen all dieser Vorgaben eine von türkischen Beamten geführte DITIB tatsächlich eine eigene Religionspolitik verfolgen, eine eigenständige Interpretation ihrer zivilgesellschaftlichen Rolle vornehmen und den Wunsch ihres Jugendverbandes nach Emanzipation und Partizipation überhaupt erfüllen, ohne in Konflikt mit den politischen Vorgaben aus der Türkei zu geraten? Das ist die entscheidende Frage im Hinblick auf den Kontext der Studie, die Rahmenbedingungen ihrer Entstehung und die Zukunftspotenziale ihrer Ergebnisse. Diese Frage taucht aber in der Studie so ausdrücklich an keiner Stelle auf.

Der BDMJ will für sich und seine jungen Mitglieder vielleicht wirklich etwas anderes. Aber er ist und bleibt den strukturellen Zwängen der DITIB unterworfen. Und daran kann und wird sich gegen den Willen der Diyanet und der türkischen Regierung nichts ändern. Denn die DITIB selbst hat gar keinen eigenen Willen (zu haben). Der BDMJ ist und bleibt damit „Lost in Diaspora“ – auch wenn die erwachsenen Brüder aus dem Bundesvorstand etwas anderes behaupten.