Anwerbenachkommen

Vor 60 Jahren schlossen Deutschland und die Türkei das Anwerbeabkommen, mit der die sogenannte türkische Gastarbeitermigration begann. Bis 1973 kamen türkische Frauen und Männer nach Deutschland, um hier zu arbeiten und Geld zu verdienen. In der Zeit danach erhöhte sich ihre Zahl noch durch die Familienzusammenführung. Ich gehöre zu der Generation ihrer direkten Nachkommen. Mein Vater kam 1969 nach Lübeck, um in der metallverarbeitenden Industrie sein Geld zu verdienen. Meine Mutter folgte ihm nach ihrer Hochzeit 1970.

Ich beobachte die Feierlichkeiten zum Anlass dieses 60-jährigen Jahrestages mit gemischten Gefühlen. Ich kann der Feierstimmung nichts abgewinnen. Vornehmlich, weil ich sie als unvollständig wahrnehme. Eine neutralere Beschreibung fällt mir im Augenblick nicht ein. Eine schärfere, kritische Bewertung will ich nicht vornehmen, weil ich sehe, wie vielen meiner Generation etwas an diesen Feierlichkeiten liegt.

Was ich aber sehe, ist das Phänomen, dass die Nacherzählung von Geschichte, niemals eine reine Rekonstruktion der Vergangenheit, nie eine Dokumentation des tatsächlich Gewesenen sein kann. Geschichte, die im Rückblick erzählt wird, bleibt immer eine Anpassung an die Empfindungen und Bedürfnisse jener, die sie erzählen. So geht es mir mit den Beschreibungen, den Überschriften, den Slogans zu diesem Jubiläum.

Die Fremde, die zur Heimat geworden ist. Ist das der Blick unserer Eltern auf Deutschland? Ich glaube, dass das keine präzise Beschreibung ihrer Wahrnehmung, ihrer Erfahrungen ist. Oder die Betonung des „Ankommens“. Sind unsere Eltern in Deutschland angekommen? Und waren sie mit diesem Ziel unterwegs? Ich bin nicht davon überzeugt.

Wenn ich mir angucke, wer feiert, wessen Perspektive die Erinnerung dominiert, sehe ich nicht unsere Eltern. Ich sehe auch keine deutsche Bevölkerung, die irgendetwas feiert. Ich sehe fast ausschließlich meine Generation, und auch schon die dritte Generation, die aus ihrer heutigen Perspektive auf die vermeintlichen Erfahrungen des „Gastarbeiters“ blickt.

Was meinem Empfinden nach tatsächlich gefeiert wird, ist der nachvollziehbare Wunsch unserer Eltern, dass es uns, ihren Kindern, einmal besser gehen möge, als ihnen selbst. Ich habe das Gefühl, dass jene am intensivsten feiern, die diesen „Aufstieg“ am deutlichsten verkörpern. Ich höre und lese stolze Beschreibungen, wie weit man es in dieser Gesellschaft gebracht hat im Vergleich zum sozialen Status der eigenen Eltern. Gestern Fabrikfließband, heute Chefsessel.

Die Feierlichkeiten sind mir in diesem Sinne zu narzisstisch, zu selbstbezogen. Wir, als Kinder der Gastarbeiter, verhalten uns im Rahmen dieser Feierlichkeiten so, wie diese Gesellschaft sich unseren Eltern gegenüber verhalten hat: Wir blicken sie nicht an, wir erkennen sie nicht als die Individuen, die sie sind, die sie waren. Wir blicken auf sie als pauschale Verkörperung einer sozialen Schicht, einer Gruppe von Menschen, die wir nicht wirklich sehen, sondern aus- und damit auch verwerten.

Alle Konnotationen dieser Feierlichkeiten stoßen mich in unterschiedlicher Intensität ab. Ich fühle mich nicht wohl, wenn die Gastarbeitergeneration in Bilanzen gepackt wird, die ihren Beitrag zur deutschen Wirtschaft dem gegenüberstellen, was sie an Sozialleistungen bezogen haben. Der „Wert“ unserer Eltern wird bilanziert und Anerkennung eingefordert – aber irgendwie auch nur für die schwarze Zahl, die am Ende dieser Bilanzierung als Gewinn verbucht wird.

Wenn es heißt, dass unserer Eltern dieses Land bereichert haben, dann finde ich diese Aussage zwar höflich. Sie ist aber nicht die vollständige Erzählung. Unsere Eltern hatten nie die Absicht, dieses Land zu bereichern. Sie wollten Geld verdienen. Umgekehrt empfinden viele Menschen in unserer Gesellschaft die Existenz unserer Eltern und ihrer Nachkommen, also uns, bis heute nicht als Bereicherung dieses Landes, sondern eher als Belastung.

Unsere Eltern haben auch keine Dankbarkeit erwartet. Sie haben ihre Arbeitsleistung gegen Entlohnung eingetauscht. Weshalb sollte jemand bei diesem Handel Dankbarkeit empfinden oder einfordern?

Wenn es immer heißt, unsere Eltern hätten dieses Land mit aufgebaut, weiß ich nicht, was das heißen oder bedeuten soll. Gebührt ihnen eine andere Form der Anerkennung als jenen, die ohne Migrationsbiografie dieses Land mitaufgebaut haben? Ist das nicht eine Selbstverständlichkeit, an dem Ort, an dem man lebt, etwas mit aufzubauen, statt zu zerstören?

Ich hatte bei meinen Eltern nie das Gefühl, dass sie irgendeine der zitierten Erwartungen gepflegt hätten. Ihre einzige Erwartung und in Folge der Enttäuschung dieser Erwartung ihre einzige Klage war, dass sie in diesem Land nicht als gleichwertige Menschen betrachtet wurden. Ihre Enttäuschung richtete sich gegenüber einer Gesellschaft in der sie allein aufgrund sprachlicher Nachteile als ungleichwertig wahrgenommen wurden. Sie haben weder Dankbarkeit vermisst noch irgendwelche Feierlichkeiten. Sie vermissten es, als Individuen wahrgenommen zu werden, sie vermissten es nicht anerkannt, sondern nicht erkannt zu werden. Ihre Reaktion war nicht Wut oder Zorn. Sie hatten stets Geduld, dass diese Gesellschaft ihren Hochmut überwinden wird.

Was ich in den aktuellen Feierlichkeiten wahrnehme ist eine Enttäuschung dieser geduldigen Erwartung gerade durch uns, ihre Kinder. Ich will nicht ausschließen, dass ich vielen damit Unrecht tue. Vielleicht bin ich zu hart in meinem Urteil und missverstehe die Feierstimmung völlig.

Aber ich habe das Gefühl, dass mit der selbstreferentiellen Feier des eigenen sozialen Aufstieges der zweiten Generation die Enttäuschung unserer Eltern reproduziert wird, im unguten Sinne erneuert wird. Wir feiern nur das, was sich unsere Eltern für uns gewünscht haben. Wir feiern nicht sie. Ihre Existenz und ihr Wirken. Wir feiern aktuell nur uns. Und damit fühle ich mich nicht wohl.

Ich weiß, dass bei nicht wenigen unserer Generation, dieser Aufstieg verbunden ist mit einer merkwürdigen Empfindung der Scham. Ich habe nie so auf meine Eltern geblickt. Aber ich weiß, dass für nicht wenige von uns der eigene Aufstieg gleichbedeutend war und ist mit der Überwindung von Scham. Ich habe das nie verstanden. Das Gefühl von Selbstwert haben mir meine Eltern nicht vor dem Hintergrund beigebracht, was ich bin oder tue, sondern wie ich bin und wie ich meine Arbeit leiste. Der Maßstab für Anstand, Aufrichtigkeit, Ansehen und damit für Selbstwert hatte in der Wertewelt meiner Eltern nie einen Bezug dazu, wie andere auf mich blicken oder wie voll oder leer meine Brieftasche oder mein Bankkonto waren. Das Maß, an dem ich mich messen musste, war Ehrlichkeit und die Frage, ob ich mein Bestes gegeben habe. Man kann mit sehr viel Würde einen Flur fegen. Und man kann mit sehr viel Würdelosigkeit einen Chefsessel ausfüllen.

Den eigenen Erfolg anhand der Kriterien zu messen, mit deren Anwendung unsere Eltern abgewertet wurden, erscheint mir vor diesem Hintergrund kein würdiges Erinnern an unsere Eltern zu sein. Aufstieg bedeutet nicht, mehr Geld zu verdienen als unsere Eltern. Angekommen sein bedeutet nicht, einen sozial angeseheneren Job zu verrichten als jene Arbeit, die unsere Eltern verrichtet haben.

Mit Blick auf meine Eltern, empfinde ich mich in diesem Sinne nicht als Aufsteiger, als Angekommener. Den Mut meines Vaters, mit Mitte 30 in ein mir völlig unbekanntes Land auszureisen und einen beruflichen Neuanfang zu wagen und eine Familie zu versorgen, den Mut meiner Mutter, mit Anfang 20 in ein mir fremdes Land zu ziehen und dort eine Familie zu gründen, Kinder großzuziehen, so einen Mut, so eine Leistung habe ich in den 48 Jahren meines bisherigen Lebens zu keiner Zeit aufbringen müssen.

Deshalb habe ich sehr mit mir gerungen, ob ich etwas zu der Gastarbeitererfahrung meiner Eltern anlässlich der aktuellen Feierlichkeiten erzählen will. Ich will es nicht, weil wir – auch nach 60 Jahren – immer noch nicht sie feiern, sondern eher uns. In unserer Erzählung von Geschichte überspringen wir sie, um von uns in einem strahlenden Licht erzählen zu können.

Ich will lieber davon erzählen, was das Ende ihrer Gastarbeitererfahrung kennzeichnet: Meine Eltern liegen beide auf dem Lübecker Friedhof. Deutschland war nie ihre Heimat. Sie waren zu Lebzeiten nie wirklich hier angekommen. Dieses Land hat sie nie wirklich gesehen. Wie sie waren, was sie als Menschen ausgemacht hat. All das – ihre Träume, ihre Wünsche, ihre Hoffnungen, Enttäuschungen, Sorgen und Ängste, ihr Leid, ihr Glück, ihr Lachen, ihren Humor – all das haben sie ganz bewusst nicht „zurück“ in die Türkei verbringen lassen. Sie haben all das nunmehr untrennbar mit der Erde dieses Landes verbunden. Sie sind im Grund dieses Landes aufgegangen und haben es damit unumkehrbar derart zu meiner Heimat werden lassen, wie ich es aus eigener Kraft, aus eigener Überzeugung nie mit dieser Endgültigkeit vermocht hätte. Diese letzte uneigennützige Bereitschaft in einer von Eigensinn geprägten Gesellschaft ist das Vermächtnis von vielen unserer Eltern.

Wie können wir das feiern? Wie können wir das ehren? Meine Worte reichen nicht aus, meine Empfindungen akkurat zu beschreiben. Cahit Sıtkı Tarancı ist das unter völlig anderen Umständen gelungen. Er hat zwar etwas anderes gemeint. Er hat von der unendlichen Liebe zu einer Frau und von seiner ewigen Sehnsucht nach ihr erzählen wollen. Aber ich glaube, dass seine Worte sehr genau auch uns beschreiben, uns und unsere Eltern, was sie uns bedeuten, was wir durch sie erlebt und gewonnen haben. Und die Hoffnung darauf, ihnen dafür dereinst wieder danken zu können:

„Desem ki vakitlerden bir nisan akşamıdır,

Rüzgarların en ferahlatıcısı senden esiyor,

Sende seyrediyorum denizlerin en mavisini.

Ormanların en kuytusunu sende gezmekteyim,

Senden kopardım çiçeklerin en solmazını.

Toprakların en bereketlisini sende sürdüm,

Sende tattım yemişlerin cümlesini.

Desem ki sen benim için,

Hava kadar lazım,

Ekmek kadar mübarek,

Su gibi aziz bir şeysin;

Nimettensin, nimettensin!

İnan bana sevgilim inan,

Evimde şenliksin, bahçemde bahar;

Ve soframda en eski şarap.

Bırak ben söyleyeyim güzelliğini,

Rüzgarlarla, nehirlerle, kuşlarla beraber.

Günlerden sonra bir gün,

Şayet sesimi farkedemezsen

Rüzgarların, nehirlerin, kuşların sesinden,

Bil ki ölmüşüm.

Fakat yine üzülme, müsterih ol;

Kabirde böceklere ezberletirim güzelliğini.

Ve neden sonra

Tekrar duyduğun gün sesimi gök kubbede,

Hatırla ki mahşer günüdür,

Ortalığa düşmüşüm seni arıyorum.“

Nach 60 Jahren des deutsch-türkischen Zusammenlebens verstehen nur wenige diese Worte. Vielleicht wäre das eine Möglichkeit, unsere Eltern auf eine gebührende Weise zu ehren. Sie dadurch zu feiern, dass wir das am Leben erhalten, womit sie nach einem harten Arbeitstag von ihren Gefühlen erzählen konnten. Womit sie uns zum Lachen brachten. Was ihnen in Gedichten und Liedern Hoffnung und Trost gespendet hat. Womit sie uns liebkost haben.

Wir sollten dafür sorgen, dass die türkische Sprache nicht als etwas Wertloses verstanden wird, dessen Klang auf dem Schulhof verboten werden muss. Wir sollten dafür sorgen, dass diese Klänge als eine der wichtigen Sprachen unseres Landes gepflegt und tradiert wird. Das wäre ein Reichtum für dieses Land und für diese Gesellschaft, dessen Wert uns verbindet, ohne dass wir uns gegenseitig Bilanzen vorrechnen müssen. Dieser Reichtum würde uns helfen, einander besser zu verstehen. Und es wäre ein Nachlass unserer Eltern nicht nur für uns, sondern für unser ganzes Land, mit dem wir nicht bloß zu Jubiläen, sondern jeden Tag, mit jeder freundlichen Silbe an sie erinnern.