Das Urteil des OVG Münster zu den muslimischen Verbänden Islamrat und ZMD wurde auf diesem Blog bereits kritisch besprochen. Dass dies den Betroffenen nicht gefallen hat, ist anzunehmen. Zweck dieses Blogs ist es aber nicht, zu missfallen. Vielmehr soll durch eine möglichst öffentliche Debatte und auch durch deutliche Sprache ein Impuls zur kritischen Selbstreflexion über Probleme der muslimischen Community gesetzt werden.
Vielleicht können so zukünftige Gefahren umschifft werden. Und solche Gefahren drohen auch im Zusammenhang mit dem vorgenannten Urteil des OVG Münster.
Vor Kurzem erschien ein Beitrag von Daniel Bax über die Folgen des OVG-Urteils. Im Untertitel heißt es: „Führende Staatskirchenrechtler empfehlen den Islam-Verbänden, notfalls bis zum Bundesverfassungsgericht zu gehen.“
Im Beitrag kommen die Experten des Staatskirchenrechts mit ihren Einschätzungen zum OVG-Urteil zu Wort, darunter Heinrich de Wall, Professor am Institut für Kirchenrecht der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen, Hans-Michael Heinig, Professor am kirchenrechtlichen Institut der Georg-August-Uni Göttingen und Stefan Muckel, Professor am Institut für Kirchenrecht der Universität Köln.
Die Experten ermutigen die vor dem OVG Münster gescheiterten Verbände dazu, ihren Rechtsstreit über eine Nichtzulassungsbeschwerde zum Bundesverwaltungsgericht und wenn nötig weiter durch eine Verfassungsbeschwerde bis vor das Bundeverfassungsgericht zu tragen. Diese Ermutigung scheint bei den betroffenen Verbänden auf fruchtbaren Boden zu fallen. Führende Vertreter des Islamrats haben jedenfalls diesen Beitrag in den sozialen Medien geteilt bzw. ihr diesbezügliches Gefallen zum Ausdruck gebracht. Somit liegt die Vermutung nahe, dass die angesprochenen Verbände tatsächlich eine höchstrichterliche Entscheidung über ihr Klagebegehren durch die oberste verwaltungsrechtliche bzw. verfassungsrechtliche Gerichtsbarkeit anstreben oder zumindest in Betracht ziehen.
Riskanter Expertenrat
Bei aller Hochachtung vor den akademischen Würden und Kompetenzen der zitierten Experten komme ich nicht umhin, vor dem erteilten Rat zu warnen. Die Ermutigung, eine Entscheidung vor dem Bundesverfassungsgericht zu erzwingen, würde sich meiner Ansicht nach als historisches Danaergeschenk entpuppen.
Dabei unterstelle ich den zitierten Experten weder Heimtücke, noch irgendwie schlecht geartete Absichten. Im Gegenteil ist es natürlich auch ein Ausdruck akademischer Neugier und rechtswissenschaftlicher Disputationsfreude, der Frage nachzugehen, ob die von den obersten Gerichten bislang ausgearbeiteten Kriterien zum Status einer Religionsgemeinschaft auch heute noch unverändert Bestand haben können oder ob sie nicht mit Blick auf eine im Selbstverständnis nichtkirchlich organisierte Glaubensgemeinschaft zu strenge Anforderungen stellen.
Eine solche Wette auf den Bestand oder den Wandel höchstrichterlicher Rechtsmeinungen hat für die universitären Experten gewiss einen akademischen Reiz. Aber für Verbände mit Verantwortung für ihre muslimische Basis liegt darin das erhebliche Risiko einer endgültigen Niederlage, mit nur sehr geringer Wahrscheinlichkeit des eigenen Obsiegens. Das wäre nichts anderes, als das Setting eines juristischen Glücksspiels mit nur geringsten Gewinnaussichten aber existenziellen Verlustszenarien. Davon sollten muslimische Verbände die Finger lassen. Ich will im weiteren Verlauf dieses Beitrages näher erläutern, wie ich zu dieser Einschätzung komme.
Eines sei angesichts meiner Popularitätswerte bei den betroffenen Verbänden noch im Vorfeld angemerkt: Dieser Beitrag ist kein Nadelstich. Er ist kein hingeworfener Fehdehandschuh. Er ist auch kein mehrdeutiges taktisches Manöver mit potentieller Schädigungsabsicht. Die Niederlage der Verbände vor dem OVG Münster bereitet mir keine Freude. Ich habe sie kommen sehen, ich habe vor ihr gewarnt. Aber ich habe sie nicht herbeigesehnt. Das ist ein Unterschied, der erstaunlicherweise nicht wahrgenommen wird. Negative Konsequenzen, vor denen man warnt, sind keine Folgen, die man sich wünscht. Gleiches gilt für die folgenden Ausführungen. Vielleicht erreichen sie ein besonnenes Ohr.
Der Grund der Niederlage der beiden Verbände vor dem OVG Münster ist deutlich beschrieben. Ich zitiere aus der Pressemitteilung des OVG vom 09.11.2017: „Dazu gehört unter anderem, dass der Dachverband in seiner Satzung mit Sachautorität und -kompetenz für identitätsstiftende religiöse Aufgaben ausgestattet ist und die von ihm in Anspruch genommene religiöse Autorität in der gesamten Gemeinschaft bis hinunter zu den Moscheegemeinden reale Geltung hat. Diese Voraussetzung hat der Senat in Bezug auf beide klagenden Islamverbände verneint.“
Gründe der Niederlage
Religiöse Autorität. Reale Geltung. Bis hinunter zu den Moscheegemeinden. All das, haben die beiden Verbände gerichtlich vorgetragen, sei Realität in ihrem Verband. Sie konnten das Gericht aber nicht durch geeignete Beweismittel von diesem Vortrag überzeugen. Sie haben auf Gutachten verwiesen, die ihnen nicht vorlagen. Sie haben sich auf entsprechende Fälle bezogen, die sie nicht dokumentieren konnten.
In der Tat teile ich die Auffassung der im eingangs erwähnten Beitrag zitierten Experten, wonach das Kriterium einer im Dachverband angesiedelten religiösen Autorität mit realem Durchgriff auf die einzelne Moscheegemeinde vielleicht eine zu hohe Hürde für muslimische Gemeinschaften ist. Dieses Kriterium orientiert sich womöglich zu eng an der Vorstellung einer hierarchisch organisierten Kirche mit einer zentralen, übergeordneten religiösen Autorität (als Einzelperson oder Gremium), die verbindlich und wenn nötig mit Zwang das religiöse Leben ihrer ihr unterstellten Mitglieder gestalten, ja geradezu formen kann.
Wenn man sich auf das geltende Religionsverfassungsrecht beruft und den Status einer Religionsgemeinschaft für seinen Dachverband reklamiert, muss man aber dieses Kriterium erfüllen. Oder das Gericht davon überzeugen, weshalb dieses Kriterium so nicht auf die eigene Organisationsstruktur anwendbar ist.
Die Verbände haben in den 12 Jahren seit dem entscheidenden BVerwG-Urteil durchgehend vorgetragen, sie würden dieses Kriterium erfüllen. Zuletzt auch in der mündlichen Verhandlung vor dem OVG Münster Anfang November.
Dabei hätte es eine Alternative gegeben, mit der die Verbände hätten Rechtsgeschichte schreiben können. Entscheidend ist an diesem Punkt sprachliche und gedankliche Präzision. Diese geht – der höfliche Hinweis sei gestattet – im Beitrag von Daniel Bax kurzzeitig, aber eben an entscheidender Stelle, verloren. Dort heißt es: „Die Richter begründen ihr Urteil damit, dass die beiden Dachverbände gegenüber ihren Mitgliedsverbänden nicht über genügend Lehrautorität verfügen.“
Unterschied zwischen Sachautorität und Lehrautorität
Das OVG spricht aber – wie oben aus der Pressemitteilung zitiert – von Sachautorität und Sachkompetenz. Diese Differenzierung zwischen Sachautorität und Lehrautorität ist wichtig, ja geradezu entscheidend:
Auf Ebene des Dachverbandes soll es nach der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung eine identitätsstiftende Aufgabenerfüllung geben, die über bloße Interessenvertretung hinausgeht. Dem Religionsverfassungsrecht ist hier die durchgreifende Sachautorität bzw. -kompetenz geläufig. Also eine Person oder Instanz, die religiöse Wahrheiten generiert und diese den Mitgliedern an der Basis verbindlich vorschreibt, zur Not auch durchsetzt oder ein Mitglied bei Nichtbefolgung aus der Gemeinschaft ausschließt.
Beide Kläger, also Islamrat und ZMD, haben in den 19 Jahren der Verfahrenshistorie über alle Instanzen hinweg vorgetragen, dass sie eine solche Kompetenz haben und auch im realen Gemeinschaftsleben anwenden.
Sie konnten diesen Vortrag indes nicht beweisen. Das überrascht auch nicht. Denn der individuelle Charakter islamischer Religiosität in Gewissens- und Glaubensfragen legt nahe, dass kein Muslim einem anderen Muslim Vorschriften machen kann, welche die konkrete religiöse Praxis, die individuelle Glaubensausübung betreffen. Entscheidungen übergeordneter religiöser Gremien mögen allenfalls Empfehlungscharakter haben. Eine zwingende Konsequenz bis hin zum Ausschluss aus der Religionsgemeinschaft bei Nichtbefolgung religiöser Anweisungen übergeordneter Autoritäten werden die Kläger deshalb wohl auch in weiteren gerichtlichen Instanzen nicht überzeugend vortragen können.
Was also tun, um die Hürde zur Religionsgemeinschaft überspringen zu können?
Lehrautorität ist hier der entscheidende Begriff. Und zwar nicht verstanden als eine Autorität, welche die religiöse Lehre bestimmt und als Gebots- oder Verbotsnorm direkt an die Basismitglieder adressiert. Gemeint ist vielmehr eine mittelbare Autorität auf Dachverbandsebene, bei der Gremien im Dachverband die Inhalte der Aus- und Fortbildung geistlichen Personals und die Inhalte der Lehrmittel für die Tradierung religiöser Wahrheiten an nachfolgende Generationen bestimmen.
Das heißt, im Dachverband müsste es ein Gremium geben, in welchem religiöse Wahrheiten als Ausbildungsinhalt gestaltet werden, so dass der Dachverband mittelbar die religiöse Identität seiner Basis in allen Lebensbereichen, also umfassend prägen kann. Im Selbstverständnis einer Religionsgemeinschaft wäre dies zwar keine unmittelbare, exekutive Autorität, die auf einzelne Mitglieder zielt. Aber es wären dauerhaft identitätsstiftende Aufgaben, welche durch Ausbildungsinhalte geformt und weitergegeben werden. Und über die nur der Dachverband bestimmt.
Jedoch ist derartiges von den Klägern zu keinem Zeitpunkt innerhalb des 19 Jahre andauernden Verfahrens vorgetragen worden.
Gibt es eine solche Lehrautorität im Sinne einer Ausbildungskompetenz und -autorität der klagenden Verbände in der Realität ihres Gemeinschaftslebens? Wenn es sie gibt – und diese Realität diesmal auch dokumentiert werden kann -, können die Verbände mit diesem Argument vor Gericht noch gehört werden? Das ist kritisch zu bewerten.
Plausibilität des religiösen Selbstverständnisses
Weder Gericht, noch der Staat als Prozessgegner können bestimmen, was das religiöse Selbstverständnis einer Religionsgemeinschaft ausmacht. Sie sind darauf angewiesen und müssen darauf vertrauen können, dass die ihnen gegenüberstehenden Verbände insoweit plausibel handeln und argumentieren.
Natürlich kann man als Prozesspartei seine Rechtsmeinung ändern. Aber hier geht es mehr als nur um eine veränderte Rechtsauffassung. Es geht um die Plausibilität des eigenen religiösen Selbstverständnisses. Wenn bislang stets vorgetragen wurde, man besäße als Religionsgemeinschaft exekutive Sachautorität und -kompetenz, wie soll man nun rechtswirksam das Gegenteil als religiöses Selbstverständnis behaupten können?
Unsere Rechtsordnung kennt den Grundsatz des „venire contra factum proprium“, des rechtsmissbräuchlichen widersprüchlichen Verhaltens. In der Rechtsprechung heißt es: „Widersprüchliches Verhalten ist dann rechtsmissbräuchlich, wenn für den anderen Teil ein Vertrauenstatbestand geschaffen worden ist oder wenn andere besondere Umstände die Rechtsausübung treuwidrig erscheinen lassen. Nach gefestigter Rechtsprechung […] kann eine Rechtsausübung treuwidrig sein, wenn sich objektiv das Gesamtbild eines widersprüchlichen Verhaltens ergibt, weil das frühere Verhalten mit dem späteren sachlich unvereinbar ist und die Interessen der Gegenpartei im Hinblick hierauf vorrangig schutzwürdig erscheinen.“
Diese Grundsätze gelten vorrangig im Zivilrecht, entfalten aber über die Rechtsfigur der Verwirkung auch im Verwaltungsrecht Bedeutung. Und zwar nicht nur hinsichtlich materieller Ansprüche, sondern auch hinsichtlich prozessualer Rechte. Das heißt, ein so gravierender Wechsel im Vortrag über das religiöse Selbstverständnis einer Religionsgemeinschaft könnte durchaus als rechtsmissbräuchlich angesehen werden. Die beiden Verbände könnten erneut scheitern.
Hinzu kommt, dass im Falle einer verfassungsrechtlichen Klärung der Streitfragen auch weitere Prüfkriterien ins Zentrum der gerichtlichen Aufmerksamkeit rücken, die ein Scheitern der beiden Verbände nicht nur möglich erscheinen sondern mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit voraussagen lassen.
Wollen die beiden Dachverbände als Religionsgemeinschaften beurteilt werden, müssen sich ihre Mitglieder der umfassenden religiösen Aufgabenerfüllung verschrieben haben, also gewissermaßen selbst einzelne kleine Religionsgemeinschaften sein, deren übergeordnete Kompetenzen in die Dachverbandsebene ausgelagert sind.
Weitere Prüfkriterien – weitere Probleme
Selbst wenn alle sonstigen Kriterien erfüllt sein sollten – an dieser Hürde werden beide Verbände auch vor dem Bundesverfassungsgericht scheitern:
Der Islamrat hält auch nach dem Urteil des OVG Münster unverändert an seiner Selbstdarstellung fest, wonach 25 Mitglieder ihm 400 Moscheegemeinden vermitteln, diesen aber „über 1000 Einrichtungen“ als Fachvereine gegenüberstehen. Der Islamrat beschreibt diese über 1000 Einrichtungen auch selbst als Fachvereine, nämlich der Frauen-, Jugend- und Sozialarbeit sowie Bildungseinrichtungen, Eltern- und Nachhilfevereine. Dies sind allenfalls religiöse Fachvereine, aber eben nicht Religionsgemeinschaften, die sich unter einem Dachverband zusammengeschlossen haben. Wenn im Dachverband der prägende Charakter einer Religionsgemeinschaft bejaht werden soll, dürfen Fachvereine aber nur ausnahmsweise unter den Mitgliedern zu finden sein.
Der ZMD hat seine Mitgliederliste online gesperrt. Bekanntlich ist die ATIB jenes Mitglied im ZMD, das ihm die meisten Moscheegemeinden vermittelt. In ihrer Selbstdarstellung bezeichnet sie sich als „Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa e.V.“. Den Zweck ihrer Vereinsgründung beschreibt sie selbst als kulturelle, soziale sowie juristische Interessenvertretung, ihr Ziel als kulturelle und religiöse Identitätspflege und -bewahrung. Das alles sind legitime Ziele einer Vereinstätigkeit. Aber allein der Wortlaut dieser Selbstbeschreibung legt die Schlussfolgerung nahe, dass es sich vornehmlich um Kulturvereine handelt, die durch den Vorhalt von Moscheeräumen auch die Religion als Teil einer kulturellen Identität pflegen und bewahren wollen. Dies gerichtlich zu widerlegen und stattdessen den prägenden Charakter einer Religionsgemeinschaft mit umfassender Aufgabenerfüllung nachzuweisen, dürfte äußerst schwierig werden.
Auf dieses Kriterium des prägenden Charakters einer Religionsgemeinschaft gehen die zitierten Experten nicht näher ein. Es wird aber – aufgrund der Mitgliederstruktur der beiden Verbände – eine der unüberwindbarsten Hürden im Fall einer weiteren gerichtlichen Auseinandersetzung sein. Welches Konzept, welche Argumente haben die beiden Verbände, um nicht an dieser Hürde zu scheitern?
Religionsverfassungsrechtliche Gretchenfrage
Nehmen wir an, all diese Fragen würden auf überraschende Weise durch ein etwaig angerufenes Bundesverfassungsgericht nicht problematisiert. Nehmen wir an, all diese Kriterien würden als erfüllt betrachtet oder das Bundesverfassungsgericht hätte völlig überraschend gänzlich neue Prüfkriterien formuliert und diese für beide Kläger auch noch bejaht. Gehen wir also von einem solchen, sehr unwahrscheinlichen, äußerst glücklichen best case Szenario aus.
Dann bleibt immer noch das Prüfkriterium der Staatferne, das bislang durch das OVG Münster – zumindest in der mündlichen Begründung – nicht angesprochen wurde. Bei diesem Kriterium der Staatsferne – das allein schon aufgrund der Systematik des Grundgesetzes in keiner denkbaren Konstellation vom Bundesverfassungsgericht aufgegeben werden wird – kommt es darauf an, ob die Verbände ihr faktisches Handeln im Alltag ihres Gemeinschaftslebens allein und ausschließlich nach religiösen Kriterien ausrichten oder ob sie auch als Vertreter politischer Interessen eines anderen Staates handeln?
Ich nehme in dieser Frage und an dieser Stelle überhaupt keine inhaltliche Wertung vor. Aber die beiden klagenden Verbände müssen sich unbedingt die Frage stellen, ob sie diese Gretchenfrage des Religionsverfassungsrechts jetzt mit Wirkung auf Jahre hinaus wirklich höchstrichterlich beantwortet wissen wollen?
Und zwar am besten, bevor sie eine weitere gerichtliche Klärung in die Wege leiten.