Mitten in Berlin

In der vergangenen Woche war ich zu Gast bei der Verleihung des Leo Baeck Preises des Zentralrates der Juden in Deutschland an Cem Özdemir. Die Feier fand in Berlin Mitte statt. Buchstäblich im Zentrum unserer Hauptstadt. Die prägenden Begriffe des Abends waren „Haltung“ und „Freiheit“. Auch in dem Sinne, unter schwierigen Bedingungen Ersteres zu bewahren, um Letzteres zu verteidigen.

Über diese Begriffe habe ich auf meinem Rückweg zum Hotel nachgedacht. Vom Veranstaltungsort bis zum Hotel sind es etwa 20 Minuten zu Fuß. 20 Minuten um Mitternacht führte mich mein Weg entlang der Friedrichstraße. Vorbei am Geschäft der Königlichen Porzellan Manufaktur Berlin, dem Forum der Volkswagen Gruppe. Ich kreuzte die Prachtmeile „Unter den Linden“. Der Gebäudekomplex an der Kreuzung nennt sich „Upper Eastside Berlin“. Ich passierte das „Kulturkaufhaus Dussmann“. Die Imbissbuden unter den Gleisen der Haltestelle Friedrichstraße wirken hier wie deplatziert. Wie die leise Erinnerung an eine klebrige, ranzige Wirklichkeit im Kontrast zu den Hochglanzfassaden ringsum.

Über die Weidendammer Brücke ging es weiter vorbei am Bertolt-Brecht-Platz. Ich sah das Funkeln der Lichter am Friedrichstadt-Palast. Gleich würde ich am Ziel sein. Im Hotelzimmer angekommen, stellte ich erleichtert die Tragetasche ab, die ich während der ganzen Strecke in der Hand hielt. Sie war ein Geschenk des Zentralrats und wurde zur Verabschiedung am Ausgang den Gästen gereicht. Eine große Tragetasche mit dem Schriftzug des Zentralrates und einem stilisierten Davidstern. Während der knapp zwanzig Minuten meines Rückweges musste ich an die zurückliegenden gewaltsamen Übergriffe auf Juden in Berlin denken. Laut dem Bericht des Antisemitismusbeauftragen der Generalstaatsanwaltschaft Berlin leiteten die Berliner Strafverfolgungsbehörden im Jahr 2021 661 Verfahren mit antisemitischem Hintergrund ein. Im Jahr 2020 waren es noch 417 Verfahren, im Jahr 2019 386 Verfahren. Und das sind nur die Fälle, in denen es zu staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen kommt. Mehr als die Hälfte der Taten wird nicht im Internet, sondern auf der Straße begangen. Ich musste an die Fälle denken, in denen Juden auf offener Straße in Berlin angegriffen wurden, weil sie eine Kippa trugen, Hebräisch sprachen oder irgendwie als Juden erkennbar waren.

Als ich an einer Bushaltestelle mit drei Jugendlichen vorbeiging, jagten mir in schneller Folge Fragen durch den Kopf: Schauen sie auf meine Tragetasche? Können sie den Schriftzug und den Davidstern erkennen? Sehe ich jüdisch aus? Bei diesem Gedanken erschrak ich. Das ist doch ein antisemitischer Gedanke, zu meinen, am Aussehen erkennen zu können, ob jemand Jude ist. Ich war gerade stundenlang auf einer Feier des Zentralrats und konnte nicht wissen, welcher der Gäste nun jüdisch war oder nicht. Wie stark müssen wir Nichtjuden also die antisemitischen Zerrbilder und Karikaturen – z.B. der NS-Zeit – als nicht falsche, sondern „nur“ übertriebene Abbildungen „des Juden“ verstanden haben, dass ein solcher Gedanke zum „jüdischen Aussehen“ sich in unseren Kopf schleicht? Kann das der Grund dafür sein, dass auch in der Causa der Documenta in Kassel antisemitische Bilder nicht als solche erkannt wurden?

Ich korrigierte meinen Gedanken schnell: Wie wahrscheinlich ist es, dass mich diese Jugendlichen aufgrund der Tragetasche als Juden betrachten, als Juden „lesen“? Die Frage stellte sich mir, weil ich die drei Jugendlichen auf eine ganz bestimmte Weise las, nämlich als muslimisch. Auch dieser Gedanke ist grundsätzlich rassistisch. Zu glauben, jemand sei ein Antisemit, weil er für mich muslimisch aussieht, ist für sich genommen eine rassistische Reflexion. Aber sie ist aufgrund der Ereignisse in Berlin leider nicht völlig unbegründet. Ich lief nun also als Angehöriger einer bestimmten, von Juden als bedrohlich wahrgenommenen Community durch das nächtliche Berlin und konnte jederzeit von den „eigenen Leuten“ als „der Andere“ wahrgenommen werden.

Wie würde ich mich verhalten, wenn es zur Konfrontation käme? Würde ich Haltung zeigen, um die Freiheit zu verteidigen, als Jude, erkennbar als Jude, unbehelligt durch Berlin spazieren zu können? Oder würde ich etwaige Angreifer davon zu überzeugen suchen, dass ich kein Jude bin? Dass ich vielmehr „einer von ihnen“ bin? Würde mir die Entscheidung leichter fallen, wenn ich allein in der Situation wäre oder in Begleitung eines jüdischen Freundes, der die Tasche des Zentralrats trägt?

Würde ich die Zuschreibung, Jude zu sein, leugnen und zu widerlegen suchen, um keine Schläge oder Schlimmeres zu riskieren? Würde ich damit nicht bestätigen, dass es richtig ist, Juden abzuwerten und anzugreifen? Kann es sein, dass die Verteidigung der Freiheit nur erst dann wirklich einen Sinn erhält, wenn ich auch dazu bereit bin, eigene Nachteile zu erdulden, um die Freiheit eines Fremden zu verteidigen?

Ich kenne Muslime, die für Ihren öffentlichen „Einsatz“ gegen Antisemitismus gelobt werden und dann im vertraulichen Kreis von Muslimen die Ansicht vertreten, es gäbe keinen Antisemitismus unter Muslimen – das sei eine Erfindung der Medien.

Das ist in etwa so, wie jemanden zu verteidigen, wenn er neben einem steht und ihn zu verleugnen, wenn er abwesend ist. Das kann nicht der richtige Weg sein.

In einer zunehmend vielfältigen Gesellschaft kann unser sozialer Zusammenhalt nicht mehr von der Frage abhängen, welche Eigenschaften wir teilen. Ob wir an das Gleiche glauben oder nicht. Ob wir etwas Bestimmtes sind oder nicht. Ob wir etwas können oder nicht.

Das Gemeinsame, das uns eint, das uns verbindet muss sich immer mehr von bloßen Eigenschaften entfernen und dafür intensiver auf Haltungen konzentrieren. Und damit ist nicht eine Haltung im Sinne einer bloß öffentlichen Pose gemeint. Die Haltung muss sich als gemeinsame Auffassung und Einstellung zu unserem Zusammenleben in der konkreten Lebenswirklichkeit als Einsatz für den anderen manifestieren. Was ist das Ziel dieses Einsatzes?

In einer Welt zahlloser religiöser und säkularer Wahrheiten, muss es uns gelingen, ein gemeinsames Verständnis von Wahrheit zu erlangen, das unser Handeln fest auf ein gemeinsames Anliegen ausrichtet. Entscheidend ist dabei, welches Kriterium wir an die Glaubwürdigkeit einer behaupteten Wahrheit anlegen. Über das Wesen der Wahrheit hat Dietrich Bonhoeffer, der mir als Muslim vielleicht deshalb so sympathisch ist, weil er in ähnlicher Weise an den Institutionen seines Glaubens verzweifelte, folgendes gesagt:

„Wirkliche Wahrheit unterscheidet sich von jeder phrasenhaften Wahrhaftigkeit dadurch, daß sie etwas ganz Bestimmtes will, daß etwas geschieht – nämlich daß sie den Menschen löst, frei macht.“

Gleichgültig, ob und an welches heilige Buch wir glauben, egal, was wir für das Richtige und Gute halten – die Glaubwürdigkeit unserer Haltung entscheidet sich an der Frage, ob wir uns mit unserem Glauben oder weltlichen Gesinnung nicht nur für die eigene Freiheit, sondern für die Freiheit jeder Person einsetzen. Dann sind wir dem Wahren auf der Spur. Solange Menschen Mitten in Berlin sich Gedanken darüber machen müssen, wie sehr sie als Juden erkennbar sein dürfen, um ohne Angst vor gewaltsamen Übergriffen einfach nur durch die Stadt gehen zu können, haben wir unser Ziel, frei zu sein, noch nicht erreicht.