„Geht es wirklich um Versöhnung?“ Mit dieser Frage beginnt Mehmet Daimagüler seinen aktuellen Gastbeitrag zum Tode Mevlüde Gençs im SPIEGEL. Am Ende des Textes hat man das Gefühl, dass es eine unbeantwortete Frage bleibt. Daimagüler schreibt über das Engagement Mevlüde Gençs, die beim Brandanschlag von Solingen im Mai 1993 fünf Familienmitglieder verliert. Er würdigt ihren Einsatz gegen Hass. Aber Versöhnung? Dieses Wort, das häufig in Verbindung mit dem Wirken Mevlüde Gençs zitiert wurde, stellt Daimagüler gleich zu Beginn seines Textes in Zweifel. Er schreibt: „Je mehr ich darüber nachdenke, umso mehr Zweifel habe ich bei dieser Wortwahl. Setzt Versöhnung nicht einen Konflikt zwischen mindestens zwei Seiten voraus? Suggeriert er nicht, dass hier die Opfer und die Täter, dass alle Seiten gleichermaßen Beteiligte eines Konflikts sind – und damit moralisch gleich zu werten sind?“
Daimagüler hat den Eindruck, dass das Anliegen Mevlüde Gençs nicht ernst genommen wurde. Bei den politischen Parteien und bei der Mehrheitsgesellschaft hat sich seiner Wahrnehmung nach nichts „fundamental geändert“.
Er skizziert eine Chronik rechtsradikaler Gewalt der letzten 30 Jahre in Deutschland und die Risse in unserer bürgerlichen Gesellschaft, durch die die Motive rechtsradikaler Gewalt in die Rhetorik der Politik und der Zivilgesellschaft einsickern. Er beschreibt eine „Arbeitsteilung“ zwischen der abwertenden Sprache der bundesdeutschen Politik und den Gewalttaten, die dieser Sprache folgen.
Er wünscht ich eine größere, aktivere Sensibilität gegen jede Form der rechtsradikalen Hetze und Abwertung. – auch als lebendiges Erinnern an das Erbe Mevlüde Gençs.
Man kann Daimagüler in seiner historischen Rückschau und seiner Analyse der gegenwärtigen gesellschaftlichen Defizite nicht widersprechen. Man muss seine Ausführungen – gerade jetzt am 9. November – aber ergänzen.
Es geht um Versöhnung
Denn es muss tatsächlich um Versöhnung gehen. Versöhnung bedeutet nicht, dass Opfer und Täter, dass alle Seiten eines Konflikts moralisch gleich zu werten sind. Die Fokussierung auf einen Konflikt und der Versuch seiner Regelung sind nur eine Facette der Versöhnung. Der Konfliktregelung muss die Wahrheitsfindung und die Bewältigung dieser vergangenen Wahrheit vorausgehen. In beiden Punkten, also in der Frage der Vergangenheitsbewältigung durch das Erkennen der historischen Wahrheit und der darauffolgenden Konfliktregelung, haben wir als deutsche Gesellschaft mit allen ihren Beteiligten noch große Lücken.
Die bisher praktizierte Form der Vergangenheitsbewältigung wird uns jetzt, am 9. November, wieder begegnen. Wir werde das historische Unrecht der „Nazis“ in Erinnerung rufen. Es sind immer die Taten der „Nazis“, an die wir uns erinnern – nie die Taten der Deutschen, nie unsere Taten.
Wir werden ihren Opfern gedenken. Unsere deutsche Vergangenheitsbewältigung war und ist in ihren wesentlichen Zügen stets und nur die Inszenierung einer Trauerfeier. Wir trauern seit über 75 Jahren unablässig den Toten. Unsere Gedenkfeiern sind seit über 75 Jahren gedankliche Friedhofsbesuche. Wir gedenken still. Denn auf einem Friedhof gehört es sich, still zu sein.
Die Pietät unseres Schweigens soll die Unvollständigkeit und Verzerrung unseres Erinnerns verdecken. Die wesentlichen 12 Jahre unserer deutschen Geschichte werden im Kontext dieser Art des Gedenkens immer mehr zum Ausnahmefall. Diese 12 Jahre sind – so wollen wir glauben und uns erinnern – über uns hereingebrochen. Plötzlich. Wie ein unvorhergesehener Todesfall. Wie der Termin einer Beisetzung auf dem Friedhof haben uns diese 12 Jahre, in historischen Dimensionen gedacht, kurz aus unserer noblen Geschichte als Kulturvolk herausgerissen. Sie haben unsere vermeintliche Normalität und den natürlichen Zustand unseres Landes und unseres Volkes abrupt unterbrochen. Diese 12 Jahre sind der Betriebsunfall unseres historischen Selbstbewusstseins. Eine als unangenehme Störung empfundene Unterbrechung unseres Alltagslebens. Wie eine Totenfeier eines entfernten, fast schon fremden Bekannten auf dem Friedhof. Von dem Verlust fühlen wir uns nicht richtig betroffen. Die Toten empfinden wir nicht als „unseren Trauerfall“. Wir verhalten uns wie Gäste einer Trauerfeier, die uns im Innersten nicht wirklich betrifft. Wir achten zwar die Grundregeln einer solchen Trauerfeier, fragen uns aber ständig, wann sie endlich endet.
Fremde Opfer fremder Täter
So fremd uns die Toten bleiben, so fremd sind uns auch die Mörder. Die „Nazis“ das sind nicht „wir Deutschen“. Die „Nazis“ waren eine Art Fremdwesen, die sich dieses Landes bemächtigt haben und nach einer kurzen, heftigen Episode wieder vertrieben werden konnten. Danach haben wir Deutschen wieder ganz normal unsere deutsche Erfolgsgeschichte fortgesetzt.
Mit dieser „Wahrheit“ leben wir unser gegenwärtiges Leben und praktizieren wir unsere aktuelle „Erinnerungskultur“, auf deren Gründlichkeit und Ordentlichkeit wir sehr stolz sind. Dass an all dem etwas falsch oder unvollständig sein könnte, kommt uns nicht in den deutschen Sinn. Wir scheitern bereits daran, die Wahrheit der realen Zustände unserer deutschen Geschichte als solche wahrzunehmen und an diese Wahrheit zu erinnern. Die Wahrnehmung dieser Wahrheit fehlt uns dann in der Frage der gegenwärtigen Konfliktregelung.
Weil wir unsere deutsche Wahrheit immer noch leugnen und verdrängen, entwerfen wir als gegenwärtige Konfliktlösung immer noch Konzepte einer deutschen Leitkultur, einer im Vergleich zu und mit anderen wertvolleren deutschen Wesensart. Wir sind fest davon überzeugt, dass alles, was wir als „deutsch“ definieren, allem anderen so überlegen ist, dass alle anderen, die zu uns kommen, sich anpassen müssen. Über deutsche Sprachkenntnisse und Achtung der deutschen Gewohnheiten hinaus müssen sie alles übernehmen, was wir ihnen anbieten. Dabei fragen wir uns zu keinem Zeitpunkt, ob nicht diejenigen, die zu uns kommen, etwas mitbringen, das wir in unsere Lebensführung übernehmen und einbinden sollten.
Uns selbst erkennen
Die große Herausforderung unserer deutschen Gesellschaft wird in den nächsten Jahren darin bestehen, sich der deutschen Wahrheit zu stellen. Die „Nazis“ sind nicht über uns hereingebrochen. Sie haben mit ihrer antidemokratischen Radikalität leicht Zugang gefunden in die Mentalität preußischer Untertanen, die lieber einer mächtigen Obrigkeit den Nacken beugen, als bürgerliche Selbstbestimmung einzufordern. Die späte Nationenwerdung des deutschen Volkes war die von Untertanen einer Monarchie. Das deutsche Volk hat, als es historisch darauf ankam, nicht um demokratische Freiheit gekämpft, hat sich nicht einer freiheitlichen „res publica“ hingegeben. In freien und demokratischen Wahlen hat sich das deutsche Volk letztlich doch für die Abschaffung der Demokratie und die diktatorische Alleinherrschaft von Schlägern und Mördern entschieden. Das Versprechen, dass es ihm besser gehen wird als seinen Nachbarn, war dem deutschen Volk dafür überzeugend genug.
Wir und unsere Feinde. Die Widmung „Dem Deutschen Volke“ hat dieses Volk aus eingeschmolzenen feindlichen Kanonen gegossen. Es hält im überwiegenden Geist bis heute daran fest, dass dieses „deutsche Volk“ eine mythische, andere ausgrenzende Blutsgemeinschaft ist. Es ist bis heute in weiten Teilen davon überzeugt, dass es biologische Eigenschaften sind, die uns Deutsche sein lassen und dieses Deutsch-Sein deshalb von anderen nicht ohne diese vererbten Eigenschaften beansprucht werden kann.
Wir müssen uns zuallererst der Wahrheit stellen, dass die 12 Jahre unserer Geschichte von 1933 bis 1945 nicht eine Verirrung unseres deutschen Wesens waren, sondern seine Sichtbarwerdung. Im Moment größter Stärke und weitester Ausbreitung hat dieses Volk sein wahres Gesicht gezeigt. Es hat sich nicht aus Verzweiflung, sondern aus Überzeugung, aus Gier, aus Egoismus, aus Überheblichkeit dem Bösen zugewandt. Dieses Potenzial hat es ordentlich, fleißig, gründlich und effizient zum Schaden aller anderen entfaltet.
Nichts ist wirklich überwunden
Erinnern wir uns an folgende Worte Heinrich Himmlers aus seiner Posener Rede 1943: „Es ist grundfalsch, wenn wir unsere ganze harmlose Seele mit Gemüt, wenn wir unsere Gutmütigkeit, unseren Idealismus in fremde Völker hineintragen. […] Ein Grundsatz muß […] absolut gelten: ehrlich, anständig, treu und kameradschaftlich haben wir zu Angehörigen unseres eigenen Blutes zu sein und zu sonst niemandem. […] Ob die anderen Völker im Wohlstand leben oder ob sie verrecken vor Hunger, das interessiert mich nur soweit, als wir sie als Sklaven für unsere Kultur brauchen, anders interessiert mich das nicht. Ob bei dem Bau eines Panzergrabens 10 000 russische Weiber an Entkräftung umfallen oder nicht, interessiert mich nur insoweit, als der Panzergraben für Deutschland fertig wird. Wir werden niemals roh und herzlos sein, wo es nicht sein muß; das ist klar.“
Sind das längst vergangene Wahnvorstellungen eines Monsters? Oder sind diese Gedanken gar nicht so weit weg, wenn wir uns heute die Nachrichten im Fernsehen ansehen? Welche Gefühle haben wir, wenn wir die Bilder von afghanischen Menschen sehen, die am Flughafen in Kabul startenden deutschen Transportmaschinen hinterherlaufen? Wägen wir nicht auch heute öffentlich ab, ob es für uns nicht besser und wärmer wäre, wenn der „Ukrainer“ sich endlich russischer Folter und Unterdrückung ergeben würde? Wenn wir den iranischen Frauen bei ihren tödlichen Protesten gegen ein menschenfeindliches Regime live im Fernsehen zuschauen, gilt unsere Sorge doch nur solange diesen Menschen, solange sich daraus keine negativen Konsequenzen für unser Alltagsleben in Deutschland ergeben. Oder? Wenn wir das heute teilnahmslos Realpolitik nennen, machen wir dann nicht aus Himmler einen Realpolitiker seiner Zeit?
Wenn Günter Wallraff von „Ganz unten“ berichtet und schildert, wie er als „Ali“ gesundheitsgefährdende Arbeitsbedingungen, Ausbeutung, Verachtung und Hass erdulden musste, war das nicht auch ein Bericht über die in Grundzügen ähnliche Gleichgültigkeit deutscher Arbeitgeber gegenüber ihren nicht deutschen „Gastarbeitern“? Ist angesichts dieser Arbeitsumstände das Wort „Gastarbeiter“ nicht die Fortsetzung eines Denkens und Sprechens, das die Formulierungen „Sonderbehandlung“, „Evakuierung nach dem Osten“ oder „Kristallnacht“ hervorbrachte?
Wenn das alles zu hart und schockierend klingt – hier die etwas mildere Beschreibung unserer realen historischen bundesrepublikanischen Zustände:
Wir grölen schunkelnd und ausgelassen seit über 50 Jahren zu „griechischem Wein“. Das Lied erinnert an Traurigkeit und Sehnsucht. Es berichtet vom Gefühl, in der Stadt, in der man lebt, immer nur der Fremde und allein zu sein. Es trauert um die einsamen Ehefrauen in der Ferne und um Kinder, die noch nie ihre Väter gesehen haben. Es erzählt von den Entbehrungen der Arbeiter, die, um Geld anzusparen, alles zu ertragen bereit waren. Wir singen seit über 50 Jahren fröhlich immer nur den Refrain mit. Und immer nur bis zur Aufforderung, nochmal einzuschenken. Aus dem Klagelied unserer „Gastarbeiter“ haben wir ein heiteres Sauflied für unsere Partys gemacht.
Es mag abwegig anmuten, aber all das hängt miteinander zusammen. Denn „Ali“, das waren unsere Väter, unsere Mütter. Wir erinnern uns an sie, wenn wir versuchen, gleichzeitig Deutsche zu sein – es schmerzt.
Blinde Flecken
Zu der Wahrheit, der wir uns stellen müssen, gehört auch: Außer unserer Rolle als reuiger Gast(-geber) auf alljährlich wiederkehrenden Trauerfeiern haben wir nicht viel bewältigt. Mit mindestens der gleichen Sorgfalt, wie wir Dokumentationen über Vernichtungslager und Hitlers Haustiere produzieren, hätten wir uns auch mit der unterbliebenen Entnazifizierung nach 1945 befassen müssen. Zwischen all den Dokumentationen zu Frontverläufen, Kesselschlachten und Führerbiografien finden wir kaum Produktionen zu der nahtlosen Fortsetzung von Nazi-Karrieren in der jungen Bundesrepublik. In allen Institutionen und auf allen Ebenen, von Behörden, Politik, Sport, Wissenschaft, Kunst und Unterhaltung fanden überzeugte Antidemokraten wieder ihren gesellschaftlichen Platz. Die Täter waren immer die anderen.
Wie sehr eine fehlende Auseinandersetzung mit diesem Nachkriegserbe den Boden für ein Wiederaufleben des für das Rechtsradikale anfälligen deutschen Wesens bereitet, erleben wir heute in besonderem Maße im Osten unseres Landes. Dort tritt unmaskiert von halbwirksamen gesellschaftlichen Tabus die deutsche Bereitschaft, das Blut über den Mitanspruch auf den hiesigen Boden entscheiden zu lassen, deutlich an den Tag. Letztlich hat also nur der „antifaschistische Schutzwall“ uns Menschen, die türkischer Abstammung sind oder so aussehen, 40 Jahre lang vor dem Morden des NSU geschützt. Wenn wir Wiedervereinigung feiern, müssen wir zukünftig auch an diese Wahrheit erinnern.
Ich bin 1973 in Deutschland geboren. Im gleichen Jahr tritt Herbert Günther Schlichting unter seinem Künstlernamen Jonny Buchardt beim Kölner Karneval auf. Am Mikrofon treibt er die Karnevalsgesellschaft an – und die antwortet in Feierlaune:
„Lasst mal hören, wie ist denn die Stimmung? Zicke-Zacke, Zicke-Zacke!“
„HOI, HOI, HOI!“
„Zicke-Zacke, Zicke-Zacke!“
„HOI, HOI, HOI!“
Buchardt variiert seine Publikumsanimation:
„Hipp-Hipp!”
„HURRRA!“
„Hipp-Hipp!“
„HURRRA!“
Dann, mit der Hand einen Hitlergruß andeutend:
„Sieg!“
„HEIL!“
Buchardt tut nur überrascht. Die reflexartige Antwort, die er erwartet, ist verlässlich abrufbar.
„Das darf doch nicht wahr sein, Mensch! … Was? … So viele alte Kameraden heute Abend hier, das ist ja tzzz …“, stellt er in Begleitung allgemeinen Gelächters noch fest. Das Publikum wirkt erleichtert, denn pikiert. Die 12 Jahre waren ja auch irgendwie eine närrische Zeit, in der man unter sich war.
Keine 40 Jahre später werden biologistische Selbstgespräche über minderwertigere Gene nichtdeutscher Bevölkerungsgruppen zum deutschen Bestseller – endlich darf man laut sagen, was viele schon immer gedacht haben. Die Kameraden verstecken sich heute nicht hinter einer bürgerlichen Fassade. Sie sitzen mit dem Anspruch, das bürgerliche Deutsche zu vertreten, im Bundestag.
„Reinheit“ liegt uns im Blut
Das alles können wir nur durch Versöhnung überwinden. Der erste Schritt zu so einer Versöhnung liegt darin, sich diese Wahrheit einzugestehen: Wir waren und sind als Deutsche anfällig für antidemokratische Gesinnungen, für das Recht des Stärkeren, für sozialdarwinistische Elitevorstellungen, für eine biologistische Herrenmenschenideologie, die wir heute nicht mehr so nennen, die sich aber in unseren Vorstellungen von über das Blut weitergegebenen Volkseigenschaften erhalten hat.
Dieses innere Potenzial haben wir nach 1945 nicht problematisiert oder überwunden. Wir haben es aus Erwägungen der Praktikabilität, der Nützlichkeit und Effizienz nur sehr lückenhaft eingehegt. Wir trauen Menschen, die wir wegen ihrer äußeren Eigenschaften als nicht deutsch wahrnehmen, nicht über den Weg. Aber wir sind bereit, Personen die höchsten Ämter unserer Sicherheitsbehörden anzuvertrauen, nur weil sie Hans-Georg heißen. Wir haben in unseren behördlichen Strukturen viele Maßstäbe der Bestenauslese – demokratische Standfestigkeit ist offensichtlich nicht in jedem Fall ein zwingendes Kriterium.
Wir müssen die Wahrheit erkennen, dass wir in unseren Sicherheitsbehörden Menschen mit einer rechtsradikalen Neigung oder einer solchen offenen Gesinnung dulden oder gar nicht erst als Problem wahrnehmen, weil wir immer noch glauben, eine solche Gesinnung sei nur ein Ausdruck einer etwas übertriebenen Heimatliebe, aber in jedem Fall ein Garant für die Verteidigungsbereitschaft zu Gunsten unseres Landes. Rechtsradikale Antidemokraten verteidigen aber nicht unser Land, sie gefährden es. Jedenfalls dann, wenn wir „unser Land“ als die Heimstätte aller Bürger und als freiheitlich-demokratische Gesellschaft verstehen. Rechtsradikale verteidigen hingegen ein Land, das als Stamm einer Blutsgemeinschaft verstanden wird und in dem dereinst wieder Massengräber ausgehoben werden müssen, um ihre Vorstellung von Reinheit des Blutes zu verwirklichen.
Zu dieser historischen Wahrheit gehört es, uns einzugestehen, dass es wohl mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Komplizen, Mitwisser, Mittäter, zumindest tatenlose Zuschauer in den Sicherheitsbehörden gab, die dem Morden des NSU einen wie auch immer gearteten Nutzen für unser Land zuschrieben. Unzählige geschredderte Akten sind insoweit ein wortloses Geständnis.
Nur wenn wir diese historische Wahrheit erkennen und ernst nehmen, können wir sie auch bewältigen. Wir bewältigen sie dadurch, dass wir unser Verständnis von Deutsch-Sein verändern. Unser bisheriges Verständnis hat der Welt nur Unheil gebracht. Nicht Demokratie, sondern „Reinheit“ liegt uns im Blut. Wir haben in Fragen der kulturellen Identität der Menschheit nur die Vorstellung von Reinheit anzubieten, die ins Verderben und in die Vernichtung führt. Deshalb ist Vielfalt nicht eine Gefahr, nicht eine Bedrohung für uns Deutsche und unser Land – sie ist die Rettung vor uns selbst.
Keine Versöhnung ohne Wahrheit
Versöhnung setzt das Erkennen dieser Wahrheit voraus. Nur mit dieser Wahrheit können wir die Konflikte unserer Gegenwart und Zukunft überwinden. Dazu ist es auch zwingend erforderlich, dass die bisherige Vorstellung von deutscher Reinheit und die gegenwärtigen Folgen dieser nicht wahrgenommenen und noch nicht bewältigten Wahrheit bei all jenen, die zu Deutschen geworden sind oder werden, nicht zu einer Abwendung von diesem Land und von dieser Gesellschaft führen. Eine enttäuschte und frustrierte Reaktion auf die beschriebenen Probleme darf nicht die konsumartige, zweckmäßige Nutzung einer deutschen Selbstbezeichnung sein.
Die Geschichten von Erfolg und Aufstieg in dieser Gesellschaft dürfen nicht als Geschichten von praktisch denkenden, Nutzen optimierenden Individuen werden, die diesem Land und seiner Bevölkerung gegenüber innerlich unbeteiligt, gar abgewandt bleiben. Selbsthass darf nicht das neue deutsche Ich-Gefühl sein.
Deutsch zu werden und deutsch zu sein, sind keine Bequemlichkeiten. Deutsch zu sein setzt in jeder Generation und in jedem Altersabschnitt die Bewältigung der oben beschrieben historischen Wahrheit voraus. Diese Bewältigung wird nie überwunden, nie beendet sein. Denn nur Eigenschaften können allenfalls permanent sein. Demokratische und freiheitliche Haltungen müssen sich erst entwickeln, sich stabilisieren und sich im Handeln ausdrücken. Immer wieder. Deutsch-Sein muss zu einer solchen, immer wieder eingeübten und damit stabilisierten demokratischen Haltung werden. Das kann nur gelingen, wenn wir nach der Zugehörigkeit zu uns Deutschen nicht mehr im Blut des anderen suchen. Und das kann nur gelingen, wenn wir zusätzlich zum Erinnern an die Toten auch die Frage nach den aktuellen Erwartungen der Lebenden stellen. Mit einem solchen Ergebnis könnte ich mich versöhnen.