Osmanische Krieger am Rheinufer

Die türkische Regierungspartei AKP bereitet sich intensiv auf die bevorstehenden Wahlen am 24.06.2018 vor. Auch in Deutschland. Die AKP hat ein „Yurt Dışı Seçim Koordinasyon Merkezi“ – offizielles Kürzel: AKYSKM. Das ist ein „Wahl-Koordinationszentrum für das Ausland“. Seine Aufgabe ist es, die Stimmen der im Ausland wahlberechtigten Türken für die AKP zu mobilisieren. Der Internetauftritt präsentiert sich unter dem Namen „hedef1milyon.net“. Das ist ein Wortspiel, mit welchem die Zielvorgabe der AKP verdeutlicht wird: Das klare Ziel sind 1 Million Stimmen für die AKP aus dem Ausland. Hauptzielgruppe dieser Mobilisierungskampagne sind die Wahlberechtigten in Deutschland.

Vorsitzender des AKYSKM-Koordinationszentrums ist Mustafa Yeneroğlu – ehemaliger Generalsekretär der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüş (IGMG) mit Sitz in Köln. Ihm ist vor etwa vier Jahren das gelungen, woran Bekir Alboğa, ehemaliger Generalsekretär des DITIB Bundesverbandes, kürzlich erst scheiterte – der Wechsel in die türkische Regierungspolitik.

Yeneroğlu hat nun auf seiner Homepage und der Homepage des AKYSKM eine „Seçim Beyannamesi“ veröffentlicht. Das ist etwas mehr als nur eine Pressemitteilung und deutlich weniger als ein Wahlprogramm. Es kommt einem Wahlmanifest oder einer Wahlerklärung nahe, mit welchem an Erfolge der Parteipolitik erinnert werden soll und in welcher Absichtserklärungen für die Zukunft formuliert werden. Zielgruppe des Papiers sind „unsere Landsleute im Ausland“.

Zielgruppe: Türkeistämmige in Deutschland

Der Inhalt gibt einen tiefen Einblick in die bisherige Auslandspolitik und die zukünftige Strategie der AKP im Zusammenhang mit den gerade auch in Deutschland lebenden türkeistämmigen Mitbürgern. Die AKP sieht einen „Bedarf darin, diejenigen Arbeiten zu vermehren, mit denen die Landsleute in den Staaten unterstützt und gestärkt werden, in denen sie leben.“ Sie ist der Überzeugung, dass „diese Arbeiten und Initiativen in Beratung mit der im Ausland befindlichen Zivilgesellschaft realisiert und die Angelegenheiten systematisch weiterverfolgt werden müssen.“

Das Papier zählt die „Grundsäulen unserer Diasporapolitik“ auf, die sich an „unsere Landsleute im Ausland“ richten. Dazu gehören u.a.: „ihre Bindungen mit dem Mutterland und ihre kulturelle Zugehörigkeit zu schützen“ und „ihre sprachlichen und kulturellen Kenntnisse zu erweitern“. „Mit diesem Verständnis und zusammen mit unseren Landsleuten im Ausland wird beabsichtigt, alle Lebensbereiche umfassende kulturelle und wirtschaftliche Initiativen zu entwickeln und es werden Arbeiten umgesetzt, um die institutionelle Kapazität der türkischen Diaspora weiterzuentwickeln.“

Hierbei erkennt die AKP folgende „Grund-Priorität“: „Die Koordination der durch unsere verschiedenen Institutionen im Ausland für die dort ansässigen Landsleute erbrachten vielfältigen Dienste soll im Sinne einer ganzheitlichen Strategie umgesetzt werden.“ Dabei gilt es zu beachten, „was weiterhin zu unseren unverzichtbaren Zielen gehört“: nämlich „der Bewahrung unserer kulturellen Identität höchste Beachtung zu zeigen und die hierfür notwendige Unterstützung zu gewähren.“

Hauptziel: Schutz der kulturellen Identität

Die AKP verspricht „unseren im Ausland lebenden Landsleuten“ im Zusammenhang mit ihrer „Diasporapolitik“ für die kommende Legislaturperiode, „ihre kulturelle Identität zu schützen, die zivilgesellschaftlichen Organisationen noch wirksamer zu unterstützen, ihre Kapazität zur aktiven gesellschaftlichen Teilnahme zu entwickeln und ihre Rechte als Staatsbürger zu stärken.“

Die AKP will erkannt haben, was eine der „wichtigen Bedürfnisse unserer im Ausland lebenden Landsleute“ ist. Nämlich „die Möglichkeit, zu sie interessierenden Themen in unterschiedlichen Perioden zusammenzukommen.“ Deshalb will die AKP jährliche „Diaspora Zusammenkünfte realisieren“.

Das Papier gliedert sich in unterschiedliche Abschnitte. Sie tragen Überschriften, unter denen aufgezählt wird, was die AKP zu diesem Thema bereits geleistet hat und was sie zukünftig umzusetzen beabsichtigt. Eines der Kapitel trägt die Überschrift „Wir haben das Ziel, dass unsere Jugendlichen ihre Muttersprache lernen, ihre Kultur leben und als gut ausgebildete Individuen die Zukunft errichten“. Die AKP zählt auf, was sie bereits geleistet hat, um dieses Ziel zu erreichen. U.a.: „Um die Muttersprache, die Kultur und die Religion unserer im Ausland befindlichen Jugendlichen lebendig zu erhalten, haben wir mehr als 2.000 Lehrer und Religionsbeauftragte ins Ausland entsandt.“, „Wir haben im Rahmen des Internationalen Theologie Programms die Zahl der im Ausland herangewachsenen und in der Türkei ausgebildeten Jugendlichen erhöht.“, „Wir haben tausende unserer Jugendlichen mit dem Programm ‚Wurzeln und Brücken‘ in die Türkei gebracht, damit sie mit ihrer Geschichte zusammentreffen und mit ihrer Kultur verschmelzen.“

Anschließend weist die AKP darauf hin, dass sie zur Verwirklichung des vorgenannten Ziels insbesondere im universitären Bereich die Möglichkeit eines Studienaufenthaltes in der Türkei und Stipendien für im Ausland lebende Studierende fördern und erweitern will und so „die Zahl der Programme erhöht“, „mit denen die ‚öncü‘ der türkischen Diaspora herangezogen werden.“ Die Formulierung „öncü“ lässt sich unterschiedlich übersetzen: als Pioniere oder Vorreiter; aber auch als Vorkämpfer, Wegbereiter oder Anführer.

Staatliche Gestaltung der Gesellschaft und des Individuums

Die zahlreichen Wahlversprechen des Papiers dokumentieren, dass die Inhalte weniger auf einer Analyse der Bedürfnisse oder der Ermittlung des Meinungsbildes der in Deutschland beheimateten türkeistämmigen Menschen beruhen, sondern vornehmlich einer geistigen Haltung entspringen, mit der die Gesellschaft nach dem Bilde einer politischen Ideologie geformt werden soll. Die Politik will mehr, als seinen Bürgern nur Angebote zu machen. Sie will sich ihre Bürger so formen, wie sie es für nützlich und gut erachtet. Deutlich wird das in den Formulierungen der entsprechenden Ankündigungen, u.a.:

„Wir werden unsere Unterstützung der im Ausland befindlichen zivilgesellschaftlichen Organisationen fortsetzen, um die Erteilung muttersprachlichen Unterrichts umfassend zu ermöglich und die kulturelle Identität zu schützen.“,

„Insbesondere um den neuen Generationen Türkisch beizubringen und um unsere Kultur zu schützen, werden wir neue Schritte unternehmen, um unsere vorhandenen Dienste fortzuentwickeln.“,

„Damit unsere im Ausland lebenden Jugendlichen die weite Geschichte und Kultur der Türkei höchstpersönlich erfahren, werden wir die kulturellen Reisen und Camp-Programme in ihrer Kapazität erweitert fortsetzen.“,

„Wir werden 100.000 unserer Jugendlichen in die Türkei bringen und mit ihrer Geschichte und Kultur zusammenführen.“,

„Wir werden für die Kinder und Jugendlichen, die ihren Sommerurlaub in der Türkei verbringen, Bildungsprogramme in Sprach-, Kultur- und Wertevermittlung veranstalten.“,

„Die Neugestaltung von TRT Türk (Anm.: staatlicher Rundfunksender) werden wir in kurzer Zeit abschließen und dafür sorgen, dass dieser Kanal die Stimme der türkischen Diaspora wird.“,

Und all das soll natürlich unter fester stattlicher Kontrolle und Lenkung geschehen:

„Wir werden im türkischen Parlament eine Kommission für Türken im Ausland gründen, welche die Anliegen der türkischen Diaspora verfolgen wird.“,

„Um die Dienste der Ministerien wirkungsvoll führen zu können, werden wir einen Koordinationsrat für im Ausland befindliche Landsleute ins Leben rufen.“,

„In den Konsulatsbezirken werden wir unter breiter Beteiligung Beratungsräte für im Ausland befindliche Landsleute errichten, deren Sekretariate vom ‚Präsidium für Auslandstürken und verwandte Bevölkerungsgruppen‘ geleitet werden.“

Eine „Diaspora“ als Wagenburg in Feindesland

Diese Wahlerklärung der AKP macht vor allem eines deutlich: Unter dem Gewand einer sich vermeintlich um die Belange türkeistämmiger Menschen im Ausland kümmernden Regierungspolitik versteckt sich eine fremdbestimmende, autoritäre Gesinnung.

Natürlich kann dem Wunsch nach Förderung von Mehrsprachigkeit und nach einem breiten Angebot an Kultur und Geschichte an sich nichts Nachteiliges vorgeworfen werden. Ich selbst schöpfe immer wieder und mit großer Dankbarkeit aus den reichen Schätzen meiner sprachlichen Möglichkeiten und dem intensiven Einblick, den ich aus der türkischen Perspektive auf Geschichte und Kultur nehmen kann. Das habe ich einem offenen und Neugier und Hinterfragung zulassenden und motivierenden Elternhaus zu verdanken.

Allerdings ist aufgrund der bisherigen Erfahrungen mit dem Regierungsstil der AKP nicht davon auszugehen, dass die schon praktizierten und angekündigten Vorhaben einem ausgewogenen pädagogischen Konzept und dem Ideal eines mündigen Bürgers innerhalb eines demokratischen Gesellschaftsgefüges folgen werden.

Im Gegenteil ist zu befürchten und zeichnet sich in den offenen Verlautbarungen dieser Wahlerklärung auch ab, dass es hier wiedermal um den Wunsch staatlicher Lenkung gesellschaftlichen Bewusstseins geht. Der Staat will sein Geschichtsverständnis, seinen Blick auf Geschichte, Religion und Kultur als Maßstab für alle durchsetzen.

Die AKP sieht in den religiösen Diensten in Deutschland nicht nur und nicht einmal zuvörderst ein seelsorgerisches und gottesdienstliches Angebot, sondern – wie hier deutlich wird – ein Instrument der Sprachvermittlung, der Gestaltung von kollektiver Geschichtswahrnehmung und der identitären Definition von Kultur. Welchen Schaden sie damit der islamischen Religionsvermittlung in Deutschland zufügt, ist ihr gleichgültig. Sie hat andere Prioritäten.

Entfremdung als politische Agenda

Sie will den jungen Menschen in Deutschland kein Angebot kulturellen Reichtums und sprachlicher Kompetenz machen, in welchem sie sich nach ihren individuellen Neigungen und Interessen orientieren können. Sie will historisches Bewusstsein und kulturelle Zugehörigkeit diktieren und gleichschalten. Sie will nicht hinnehmen, dass sich die türkeistämmigen Menschen in Deutschland individuelle und selbstbestimmte Gedanken zu ihrer Beheimatung machen. Sie gibt ihnen ihre Selbstverortung als „Diaspora“ vor – als eine in sich hermetisch geschlossene Gemeinschaft in der Fremde und immer nur von Fremden umgeben. Und diese Entfremdung des eigenen Selbstverständnisses will sie fördern.

Sie will sich dazu – das erklärt sie mit diesem Papier unmissverständlich – noch intensiver als in der Vergangenheit der deutsch-türkischen Organisationen in Deutschland bedienen, sie konsularisch betreuen und anleiten, ihre inhaltliche Arbeit nach eigenem Interesse formen und unter den Dienst der eigenen politischen Agenda zwingen. Eigenständiges zivilgesellschaftliches Engagement deutsch-türkischen Ehrenamtes findet damit endgültig sein Ende. Jeder Einsatz auf diesem Gebiet verkommt zum Staatsdienst, der sich dem bestimmenden Einfluss und der Lenkung aus der Türkei nicht mehr wird entziehen können. So werden die Entfremdeten gesellschaftlich isoliert und zur politischen Verfügungsmasse der AKP, die ihnen dann als einzige Instanz das Gefühl von Verständnis, Anerkennung und Beheimatung verspricht.

Die AKP macht mit ihrer Erklärung deutlich, dass sie keine Brücken zwischen den Ländern bauen will. Sie errichtet Zäune, die sie zu identitären Festungsmauern verstärken will. Darin eingeschlossen bleiben Deutsch-Türken, die zur Entscheidung gezwungen werden, welcher Seite sie angehören wollen – denn die Option einer vielfältigen, einer ambivalenten Selbstwahrnehmung ist in diesem Verständnis von Identitätsschutz und kultureller Zugehörigkeit nicht mehr möglich.

Eine zunehmende Feindrhetorik

Diese Ausschließlichkeit und dieser Zwang zur Eindeutigkeit wird letztlich auch in der Sprache deutlich, derer sich diese Politik bedient und die immer mehr in der Bevölkerung um sich greift. Es ist die Sprache des Antagonismus, eine Sprache des Konflikts, des Kampfes. Geschichte und Kultur werden militarisiert. Argumentation, Denken und Handeln werden zunehmend militant.

Das kann die AKP selbst in dieser Wahlerklärung nicht verbergen. Schon im zweiten Satz des 28-seitigen Papiers heißt es aus dem Munde des Staatspräsidenten: „In unserer Regierungszeit, die wir Dank der Gunst unseres Volkes innehaben, haben wir durch große Veränderungen, Maßnahmen und Investitionen unseren Freunden und Feinden gezeigt, was für ein starkes Land die Türkei sein kann.“

Die Welt besteht in dieser Gesinnung immer aus Freunden und Feinden. Es gibt keine Meinungsverschiedenheiten, sondern nur Feindseligkeiten, keine Argumente, sondern nur Angriffe, keine Kritik, sondern nur Verrat. Deshalb ist die Geschichts- und Kulturvermittlung innerhalb einer solchen Weltsicht und politischen Agenda auch nicht darauf ausgerichtet, zu differenzieren und Vielschichtigkeit sichtbar werden zu lassen. Es gibt immer nur den eigenen heroischen Edelmut und immer nur die schändliche Niedertracht des Feindes – und der lauert überall.

Osmanische Krieger am Rheinufer

Die Risse und Brüche, die eine solche Indoktrination mit sich bringt, sind nicht bloß theoretischer Natur. Sie werden immer sichtbarer. Die jungen Menschen, die in letzter Zeit dem intensiven Einfluss dieser ganz besonderen Vermittlung von Geschichte und Kultur ausgesetzt sind, verändern sich. Erst kürzlich konnte man diese Veränderung exemplarisch auf Facebook verfolgen: Eine Gruppe junger Männer trifft sich zum abendlichen Fastenbrechen. Ein Teilnehmer teilt ein Foto dieses Treffens. Es zeigt die jungen Leute beim Picknicken am Rheinufer, im Hintergrund die Mülheimer Brücke in Köln, die mit ihren Pfeilern an die Bosporus-Brücke in Istanbul erinnert.

Entsprechend ist in dem Bild ein Text eingepflegt: „Das hier ist nicht Istanbul. Das hier ist der Nabel Westeuropas. Köln“ Und welche Gedanken die jungen Männer mitten in Westeuropa an diesem Abend überkommen, dichtet einer der Teilnehmer, der das Bild gepostet hat: „Gestern Abend, nach langem Marsch, lehnen wir uns an die Festungsmauern. Bevor wir die Festungsmauern überwinden, haben wir unser Lager am Rhein aufgeschlagen, Allah sei Dank, um noch einmal ein Auge auf die Landkarte zu werfen und vor dem Kampf unser Fasten zu brechen… ‚Der Rhein sagt, er will nicht fließen, er sagt, er will sein Ufer nicht einreißen…‘ Es werden Helden geboren, wachsen auf, leben, die nach der Donau auch dem Rhein ‚türkü‘ niederschreiben lassen werden..“

Es ist ein Wortspiel: ‚türkü‘ kann in diesem Kontext „Volkslied“ bedeuten oder auch „den Türken“. Der junge Mann hofft also, dass die „Helden“, mit denen er sich hier getroffen hat, den Rhein dereinst Volkslieder schreiben lassen bzw. von den Heldentaten „des Türken“ berichten lassen werden. Welche Heldentaten, welche Volkslieder er meint, ist nur Insidern dieser sprachlichen Codes ersichtlich. Es sind Inhalte, welche er vielleicht auf den vielen Bildungsreisen in die Türkei, bei den vielen staatlich geförderten Bildungsangeboten kennengelernt hat?

Mit den Worten „Die Donau sagt, sie will nicht fließen, sie sagt, sie will ihr Ufer nicht einreißen..“ beginnt der Marsch von Plewen (türkisch: Plevne Marşı). Plewen ist eine Stadt im Norden des heutigen Bulgarien. Die dortige Festung war Schauplatz der entscheidenden Schlacht im Russisch-Türkischen Krieg Ende des 19. Jahrhunderts, in dessen Folge die osmanische Herrschaft über den Balkan beendet wurde. Dem Anführer der osmanischen Garnison in Plewen, Osman Pascha, gelang es trotz deutlicher zahlenmäßiger Überlegenheit des Feindes, mit einer geschickten Verteidigungsstrategie die wiederholten russisch-rumänischen Erstürmungsversuche unter hohen Verlusten zurückzuschlagen.

Erst nach mehrmonatiger Belagerung der Festung, wodurch die russischen Truppen bei Plewen gebunden waren und nicht weiter auf Istanbul vorrücken konnten, entschied sich Osman Pascha aufgrund der zunehmenden Versorgungsnot zum Ausbruchsversuch. Er wurde während der Kämpfe außerhalb der Festung verwundet und ergab sich letztlich zusammen mit seinem Heer den Russen. Nach relativ kurzer Kriegsgefangenschaft kehrte er an den osmanischen Hof nach Istanbul zurück und erfreute sich großer Popularität. Zu seinen Ehren wurde später der Marsch von Plewen komponiert, der seinen Heldenmut besingt. Und die Niedertracht der Verräter – nämlich der bulgarischen Untertanen, die sich für die Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich den russischen Truppen angeschlossen hatten. In einer Strophe heißt es: „Olur mu böyle olur mu? Evlât babayı vurur mu? Sizi millet hainleri, Bu dünya size kalır mı?“ – „Kann es denn so sein? Dass der Sohn den Vater niederschießt? Ihr Verräter des Volkes, kann es denn sein, dass diese Welt euch überlassen bleibt?“. Für die Information, dass von über 40.000 jungen Männern, die Osman Pascha in die Kriegsgefangenschaft führte, nur etwa 10.000 wieder den Weg zurück in die Heimat fanden, bleibt in den Heldensagen kein Platz.

Neue bildungspolitische Herausforderungen

Und so wächst im Sinne der AKP auch in Deutschland eine Jugend heran, die sich am Ufer des Rheins in einem osmanischen Feldlager wähnt. Damit beschäftigt, die eigene Identität vor einem feindlichen Umland zu schützen und von Heldentaten träumend, in denen der Feind – wer ist das in Deutschland? – und die Verräter in den eigenen Reihen – alle anderen, die nicht so zu denken bereit sind? – niedergekämpft werden. In einer solchen Gesinnung, ist das Eigene stets heroisch, das Andere stets niederträchtig. Ist kein Platz für einen differenzierenden Blick, ist Geschichte immer nur der Bericht über siegreiche Schlachten und den Heldenmut der Vorfahren. Das ist ein Selbst-Bewusstsein, das nur das Instrument der Verherrlichung kennt. Erinnerungskultur ist in der türkischen Sprache ein Fremdwort.

Den jungen Männern und Frauen, die zum Spielball einer solchen Politik werden, kann man kaum einen Vorwurf machen. Sie sind den ihnen weit überlegenen Instrumenten einer identitären, militaristischen Kulturpolitik ausgeliefert und oftmals fehlt ihnen das geistige Rüstzeug, diese Indoktrination als solche zu erkennen. Und es handelt sich dabei nicht nur um intellektuell einfach gestrickte Jugendliche, leicht verführbare, unbedarfte, junge Menschen, die nur neugierig auf ihre historischen Wurzeln sind und mit der Sehnsucht nach einem positiven Selbstbild dann den Heldengeschichten allzu leicht verfallen.

Auf diesem Facebook-Bild, im „osmanischen Feldlager“ am Ufer des Rheins, sind auch gebildete, erfolgreiche junge Männer aus dem ATIB Verband in Deutschland und aus dem Vorstand des CDU-nahen Jungen Wirtschaftsrates in Hamburg zu finden, der Sohn eines ehemaligen langjährigen Spitzenfunktionärs des DITIB Verbandes ist mit dabei. Und auch ihnen gefällt die abendliche Reminiszenz an die Heldenlieder zum Lob osmanischer Heeresführer und das implizite Versprechen neuer kämpferischer Großtaten. Die Unfähigkeit zu einem selbstkritischen Blick und die fehlende Bereitschaft zur kritischen Auseinandersetzung mit vermeintlichen Heldenerzählungen haben sie aber hier in Deutschland gelernt.

Wenn ihnen also die Fähigkeit fehlt, der Erzählung vom vermeintlichen Heldentod im sonnendurchfluteten Kornfeld zu Ehren des Vaterlandes den skeptischen Gedanken an die Grausamkeit des Krieges und die Erinnerung an millionenfaches Leid entgegenzusetzen, dann sollte das für uns nicht Anlass sein, auf die Vereinnahmungs- und Umerziehungsabsichten der AKP zu schimpfen, sondern darüber nachzudenken, wie wir in unserer Bildungspolitik die Festigung einer demokratischen und pluralistischen Gesinnung fördern können.

Und wir müssen uns damit auseinandersetzen, dass die Wirklichkeit einer mehrdeutigen, vielfältigen Selbstwahrnehmung junger Menschen uns zu einem vorbildlichen positiven Umgang mit dieser historischen und kulturellen Vielfalt auffordert. Mit der Beschwörung einer Dominanzkultur, die andere kulturelle Einflüsse abwertet und ausschließt und mit der Aufrüstung religiöser Symbolpolitik werden wir nichts gewinnen. Dieser Methoden bedient sich ja schon die AKP.