Am 2. Juli vor 29 Jahren wurde der Brandanschlag auf das Madımak Hotel in Sivas verübt, bei dem 33 alevitische Hotelgäste und zwei Mitarbeiter des Hotels getötet wurden. Wer Details zu diesen Ereignissen und meine Meinung zu diesem Pogrom wissen will, kann sich die ausführliche Podcast-Folge der Dauernörgler anhören: https://dauernoergler.org/2020/07/02/episode-18-unutmadlm-aklimda-das-pogrom-von-sivas/
In diesem Text geht es mir um ein anderes Detail. Ich habe am 2. Juli ganz bewusst geschwiegen und genau hingeschaut, wie an dieses Pogrom erinnert wird und wer sich wie und wer sich wieder nicht äußert. Was mir auffällt, ist erneut – bis auf ganz wenige individuelle Ausnahmen – das Schweigen der sunnitisch-muslimischen Gemeinschaft. Aber auch die Art und Weise des Erinnerns der vielen alevitischen Stimmen wirkt auf mich in einem ganz bestimmten Detail unvollständig oder vielleicht besser formuliert: zu unpräzise.
Natürlich will ich gerade als sunnitischer Muslim AlevitInnen nicht vorschreiben, wie sie zu trauern oder dem Pogrom zu gedenken haben. Aber gerade als sunnitischer Muslim muss ich feststellen, dass die Sprache des Gedenkens an einem ganz bestimmten Punkt hinter der schmerzhaften Realität zurückbleibt.
In den vielen Postings zum Gedenken an diesen Brandanschlag war auch am vergangenen 2. Juli wieder die Rede von einem „islamistischen Anschlag“, von „Islamisten“, die dieses Pogrom begangen haben, vom „Islamismus“ als Ursache des Pogroms. Es wäre mir ein sehr schwacher, aber immerhin ein Trost, wenn das die Wirklichkeit dieses Pogroms akkurat wiedergäbe. So ist es aber nicht.
Gewiss waren Islamisten an dem Pogrom beteiligt. Gewiss haben islamistische Agitation und Propaganda ihren schändlichen Beitrag zu dem Pogrom geleistet. Aber entscheidend für die Möglichkeit dieses Anschlages war nicht das Verhalten von Menschen, die den Islam oder Versatzstücke des Islam als ein ideologisches Werkzeug missbrauchen, um ihren Glaubensüberzeugungen folgende politische Interessen im Hinblick auf den Zustand der Gesellschaft und der Staatsordnung zu verwirklichen. Wäre das so, beträfe mich dieser Anschlag nicht. Denn ich bin kein Islamist. Ich nutze meine Glaubensüberzeugungen nicht als Ideologie, um Gesellschaft und Staat zu verändern.
Aber dieser Anschlag betrifft mich – als Muslim. Denn der Anschlag wurde erst möglich, nicht bloß durch ideologischen Hass, sondern durch religiösen Hass. Er wurde ermöglicht durch das Tun und Unterlassen von Muslimen. Ich als sunnitischer Muslim gehöre der gleichen religiösen Gruppe an, der die Täter dieses Anschlages angehören. Als das Hotel in Flammen stand, waren es vielleicht auch Islamisten, aber ganz bestimmt Muslime, die euphorisch brüllten, dass dies die Flammen des Höllenfeuers seien. Es waren Muslime der Stadt Sivas, die sich den Tätern nicht in den Weg stellten, als Gäste dieser Stadt ermordet wurden.
Es waren Muslime der Stadt Sivas, die nur zwei Jahre nach dem Brandanschlag keinen Anstoß daran nahmen, dass im Erdgeschoss des ehemaligen Hotelgebäudes ein Restaurant für Fleischgerichte vom Grill eröffnet wurde. Soweit ich weiß, hat zunächst kein Muslim protestiert, dass die Opfer eines Brandanschlages auf diese Weise ein weiteres Mal durch einen dauerpräsenten Akt des symbolischen Kannibalismus verhöhnt wurden. Es waren Muslime, die im Wissen um die Geschichte dieses Ortes, ausdrücklich dort ihren auf Grillfeuer gegarten Kebap verzehren wollten. 14 Jahre lang blieb es bei dieser Nutzung des Gebäudes.
Ich bin kein Islamist. Ich bin sunnitischer Muslim. Ich bin damit ein Teil der Tätergruppe, von der jahrhundertelange Gewalt gegen AlevitInnen ausgeht. Lange bevor der sozialwissenschaftliche Begriff des Islamismus öffentlich verwendet wurde. Vor Sivas beim Pogrom von Çorum im Jahr 1980. Davor beim Pogrom von Kahramanmaraş im Jahr 1978. Das waren keine bloß politisch-ideologischen Exzesse, sondern Ausbrüche des Hasses, an denen sich Muslime beteiligten, bei denen Imame in Moscheen Hetzreden gegen AlevitInnen hielten. Bei denen Muslime sich an unzähligen Morden, Körperverletzungen, Vergewaltigungen, Zerstörungen und Plünderungen beteiligten. Davor im Osmanischen Reich, ausgehend vom späten 15. Jahrhundert bis zum Ende des Reiches Anfang des 20. Jahrhunderts eine wiederkehrende Geschichte der alevitischen Unterdrückung und zigtausendfacher Vernichtung mit der stets gleichen Begründung der Häresie und der „moralischen Abweichung“.
Diese Gewalt entlud sich nicht bloß, weil die Täter durch eine bestimmte ideologische Gesinnung verbunden waren, sondern vielmehr, weil sie sich als eine religiöse Gruppe verstanden, die sich den AlevitInnen gegenüber als überlegen und höherwertig empfand. Und bis heute empfindet. Bis heute halten sich unter sunnitischen Muslimen Vorstellungen von unmoralischen Praktiken im Zuge alevitischer Glaubensausübung, die ich an dieser Stelle nicht durch genaue Beschreibungen reproduzieren will. Leider wissen alle MuslimInnen und AlevitInnen, was gemeint ist.
Deshalb wäre es eine unpräzise, der schmerzhaften Wirklichkeit nicht gerecht werdende Erinnerungskultur, könnte ich als sunnitischer Muslim die Verantwortung für diese Pogrome einfach einer ideologischen Gesinnung und ihren Anhängern zuschreiben. So ist es nun mal nicht. Die Verantwortung, an diese Pogrome zu erinnern, damit sie sich nicht wiederholen, liegt bei uns sunnitischen MuslimInnen. Und wir entziehen uns dieser Verantwortung mit einer hartnäckigen Ignoranz. Die religiöse Überzeugung, im Besitz einer exklusiven religiösen Wahrheit zu sein, bestärkt uns in der Illusion, gleichzeitig im Besitz eines exklusiv wahren und vollkommenen Anstandes zu sein, der uns nicht falsch und moralisch verwerflich handeln lässt.
Und solange wir uns diesen Irrtum nicht eingestehen und bereit sind, auf eine von uns und von unseren Vorgängern verursachte Geschichte des Leids zurückzublicken, werden wir nicht in der Lage sein, dieses Leid zu erkennen und nachzuempfinden, was AlevitInnen empfinden. Solange werden wir es auch nicht verhindern können, dass diese Ignoranz als Wesensmerkmal von MuslimInnen wahrgenommen wird. Solange wir nicht verändern, was in unseren Herzen ist, wird sich der Zustand unserer muslimischen Gemeinschaft nicht verändern – und das Schicksal unseres vielfältigen gesellschaftlichen Zusammenlebens auch nicht.