Vorbemerkung:
Die deutsch-türkische Kommunikation ist seit längerer Zeit belastet. Inhalt und Art des öffentlichen Umgangs im deutsch-türkischen Verhältnis tragen immer mehr Züge einer feindseligen Auseinandersetzung. Sachfragen treten immer mehr in den Hintergrund. Selbst sachliche, begründete Kritik wird, wenn sie von außen kommt, als infamer Angriff oder wenn sie intern geäußert wird, als heimtückischer Verrat verstanden. Die Tendenz zur Frontenbildung macht eine nüchterne inhaltliche Debatte nahezu unmöglich. Beide Seiten müssen, wollen sie das dauerhafte Zusammenleben nicht aufs Spiel setzen, sprachlich abrüsten und sich auf inhaltliche Fragen konzentrieren. Und diese Inhalte sind schwierig genug.
Der hier vorliegende Blogtext darf vor dem Hintergrund der obigen Einleitung nicht als eine Art Gegenschlag in den aktuellen Debatten verstanden werden. Eine solche Instrumentalisierung würde dem Thema nicht gerecht und das Andenken der Opfer entwürdigen. Die Arbeit an diesem Text begann vor den aktuellen Diskussionen und sollte im Ergebnis ein Versäumnis offenlegen, vielleicht eine selbstkritische Betrachtung ermöglichen.
Aus diesen Gründen möge dieser Blogtext in den aktuellen, sehr schwierigen Diskussionen auch nicht zu einer weiteren Frontenbildung missbraucht werden. Zu den aktuellen Debatten wurde bereits in den letzten Blogtexten kritisch Stellung genommen. Diverse Reaktionen auf diese Stellungnahmen haben offengelegt, wie groß die Unfähigkeit zu selbstkritischer Reflexion mittlerweile geworden ist.
Dies zu überwinden und eine sachliche und problembewusste Auseinandersetzung mit den wichtigen Themen des deutsch-türkischen Zusammenlebens zu fördern, ist das Grundanliegen dieses Blogtextes. Der immer mehr in Vergessenheit zu driften drohende Skandal, der in dem folgenden Text thematisiert wird – eigentlich müsste man im Plural von diversen Skandalen sprechen – ist und bleibt ein Hindernis im Zusammenwachsen unserer Gesellschaft. Und daran trägt die betroffene türkische Community eine nicht unerhebliche Mitverantwortung: Heute tagt der 3. NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages in seiner 49. Sitzung – wieder einmal ohne dass die türkische Community davon Kenntnis nimmt.
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Mölln
Am 23.11.1992 verüben Michael P. und Lars C., beide als der rechten Szene zugehörig bekannt, einen Brandanschlag auf zwei Wohnhäuser in Mölln. In den Flammen sterben die 10-jährige Yeliz Arslan, die 14-jährige Ayşe Yılmaz und ihre 51-jährige Großmutter Bahide Arslan. Neun Familienangehörige überleben mit teils schwersten Verletzungen.
Lars C. wird nach Jugendstrafrecht zu zehn Jahren Haft verurteilt. Er wird nach siebeneinhalb Jahren aus der Haft entlassen.
Michael P. wird zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Er wird fast auf den Tag genau 15 Jahre nach der Tat im November 2007 aus der Haft entlassen.
Zur Trauerfeier für die Opfer erscheinen der damalige Außenminister Klaus Kinkel und der damalige Arbeitsminister Norbert Blüm. Bundeskanzler Helmut Kohl bleibt der Trauerfeier fern. Hierzu befragt erklärt der damalige Regierungssprecher, die Bundesregierung wolle nicht in einen „Beileidstourismus“ verfallen.
Solingen
Ein halbes Jahr später, am 29.05.1993, verüben Markus G., Felix K., Christian R. und Christian B., mindestens zwei der Täter waren als der rechten Szene zugehörig bekannt, einen Brandanschlag auf ein Zweifamilienhaus in Solingen. Beim Anschlag sterben die 27-jährige Gürsün İnce, die 18-jährige Hatice Genç, die 11-jährige Gülüstan Öztürk, die 8-jährige Hülya Genç und die 4-jährige Saime Genç. 17 Familienangehörige, darunter ein sechs Monate alter Säugling und ein 3-jähriges Kind, überleben mit teils schwersten, bleibenden Verletzungen.
Drei der Täter werden nach Jugendstrafrecht zu jeweils 10 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, einer der Täter zu 15 Jahren Freiheitsstrafe.
Zwei der Täter wurden wegen guter Führung frühzeitig wieder aus der Haft entlassen.
Thüringen
In den 1990er Jahren radikalisieren sich auch das spätere NSU-Kerntrio, Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Die rechte Szene organisiert sich überregional zum „Thüringer Heimatschutz“ mit lokalen Kameradschaften. Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt gehören gemeinsam mit ihren späteren Unterstützern im Untergrund André Kapke, Ralf Wohlleben und Holger Gerlach zur „Kameradschaft Jena“.
Mundlos fällt während seiner Wehrdienstzeit 1994/1995 mit rechter Gesinnung auf und wird wegen Disziplinarverstößen mehrfach bestraft. Aus dieser gemeinsamen Wehrdienstzeit sind sich Mundlos und Thomas Richter bekannt. Richter beginnt als V-Mann „Corelli“ dem Bundesamt für Verfassungsschutz über Mundlos zu berichten. Dort werden in dieser Zeit auch Akten zu Mundlos und Zschäpe angelegt.
Operation Rennsteig
Mit der „Operation Rennsteig“ rekrutieren das Bundesamt für Verfassungsschutz, der Thüringer Verfassungsschutz und der Militärische Abschirmdienst diverse V-Leute aus der rechten Szene. Von 1996 bis Anfang der 2000er Jahre werden so immer mehr Spitzel angeworben. Damit soll das Umfeld des „Thüringer Heimatschutzes“ unter staatlicher Kontrolle observiert und steuerbar gemacht werden.
Tino Brandt, V-Mann „Otto“ / „Oskar“
Als Top-Quelle des Thüringer Verfassungsschutzes wird Tino Brandt alias V-Mann „Otto“/ “Oskar“ geführt und mit erheblichen staatlichen Mitteln – die Rede ist von einem Gesamtbetrag von bis zu 200.000 DM – ausgestattet. Diese Geldmittel setzt der V-Mann zum Aufbau der rechten Szene in Thüringen ein. Telefonkosten, Anwaltskosten, Geldstrafen von rechten Kameraden werden so auch mit Mitteln des Staates beglichen und die Arbeit der rechten Szene zu immer höherer Organisationsstruktur geführt.
Tino Brandt steigt mit dieser staatlichen Hilfe zum Anführer des Netzwerkes „Thüringer Heimatschutz“ auf, in dem auch die „Kameradschaft Jena“, die Gruppierung um das spätere NSU-Kerntrio mit Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos, organisiert ist.
Tino Brandt wird Ende 2014 wegen sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen und deren Vermittlung an andere Erwachsene verurteilt. Allein in 45 von insgesamt 157 Fällen soll Brandt männliche Minderjährige für sexuelle Handlungen an Erwachsene vermittelt und dafür Geld kassiert haben.
Zunehmende Radikalisierung des „Thüringer Heimatschutzes“
Zeitgleich mit dem Auf- und Ausbau der Organisationsstruktur kommt es zu einer stärkeren Radikalisierung der rechten Szene in Thüringen.
1995 wird Mundlos wegen Herstellung und Vorrätighaltens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen verurteilt.
1996 kommt es zu rechtsextremistischen Straftaten, bei denen Bombenattrappen am Tatort platziert werden. In zwei Fällen können die Taten später Böhnhardt zugeordnet werden.
Mitte der 1990er Jahre intensivieren Mundlos und Böhnhardt ihre Kontakte zur rechten Szene in Bayern, insbesondere zu Kameraden in Nürnberg – einem der späteren Tatorte der NSU-Mordserie.
Ende 1996 marschieren Böhnhardt und Mundlos in SA-ähnlichen Uniformen durch die Gendenkstätte des KZ Buchenwald.
Im April 1997 wird Böhnhardt unter Einbeziehung diverser Vorstrafen wegen Volksverhetzung zu zwei Jahren und drei Monaten Jugendstrafe verurteilt. Das Urteil wird aber erst im Dezember 1997 rechtskräftig.
Am 16.10.1997 wird Böhnhardt wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz zu einer Geldstrafe verurteilt.
Im Herbst 1997 werden Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt verdächtigt, eine Bombe in einem mit einem Hakenkreuz bemalten Koffer vor dem Theater in Jena abgelegt zu haben. Wegen eines fehlerhaften Zünders detoniert die Bombe nicht. Das Trio wird vernommen, aber nicht festgenommen.
Observation Garagenanlage
Die Thüringer Polizei verstärkt die Observation des „Thüringer Heimatschutzes“ und der „Kameradschaft Jena“, um deren Bombenwerkstatt zu finden. Sie wird jedoch von dieser Suche abgezogen – der Thüringer Verfassungsschutz übernimmt die Observationen.
Bereits am ersten Tag soll Böhnhardt die Observanten des Verfassungsschutzes zu einem Garagenkomplex geführt haben. Aber fast 2 Monate lang wird die Garage angeblich nicht durchsucht. Böhnhardt bleibt auf freiem Fuß.
Der gegen ihn vorliegende Haftbefehl wegen der Verurteilung vom April 1997 wird nicht vollstreckt, die Akten gehen erst am 23.01.1998 beim zuständigen Richter ein, der den Haftantritt terminieren soll.
Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe nehmen im Januar 1998 in Jena an einer rechten Demonstration gegen die Wehrmachtsausstellung teil. Sie tragen das Transparent „Nationalismus – Eine Idee sucht Handelnde!“
Das NSU-Kerntrio geht in den Untergrund
Am Tag nach der Demonstration in Jena, also am 26.01.1998 werden Wohnung und Garage Böhnhardts durchsucht. Das polizeiliche Vorgehen ist von Ungereimtheiten geprägt. Der zuständige Staatsanwalt ist krankgeschrieben, der leitende Polizeibeamte zu einer Schulungsmaßnahme abgestellt, erst mit Verspätung wird die Garage durchsucht. Es werden Sprengstoff, einsatzbereite Rohrbomben und Material zur Anfertigung von Rohrbomben gefunden. Böhnhardt ist zum Zeitpunkt der Durchsuchung vor Ort. Er wird nicht festgenommen. Sein Auto wird nicht durchsucht. Böhnhardt fährt einfach davon.
In der zu einer Bombenwerkstatt ausgebauten Garage wird auch eine Diskette gefunden, auf der ausländerfeindliche Schmähungen enthalten sind („Türkenschwein, das heut noch stirbt – so ein Pech“, „Alidrecksau, wir hassen dich.“).
Mundlos und Zschäpe tauchen ebenfalls unter. Sie fliehen mit einem auf Ralf Wohlleben zugelassenen Fahrzeug nach Chemnitz und werden dort von Freunden aus der Kameradschaft unterstützt. Ralf Wohlleben ist heute einer der Mitangeklagten im NSU-Prozess vor dem OLG München.
„Operation Drilling“
Mit der „Operation Drilling“ sucht der Thüringer Verfassungsschutz nach dem untergetauchten Trio. Die intensive Überwachung der rechten Unterstützerszene führt die Ermittler auf die Spur der Gruppierung „Blood & Honour“ und zu Jan Werner und Thomas Starke, die in dieser Szene aktiv sind.
Starke ist ein früherer Freund Zschäpes und vermittelt dem Trio eine leerstehende Wohnung. Er wird später, von Ende 2000 bis 2011, V-Mann des Berliner Landeskriminalamtes unter dem Decknamen „VP 562“. Allein zwischen 2001 und 2005 liefert er bei fast 40 Treffen mehrfach Hinweise zu dem NSU-Kerntrio und dem Unterstützerumfeld. Er weist u.a. auch auf Jan Werner hin, der in seiner Rolle als „Blood & Honour“-Führungskader Kontakt zu dem NSU-Kerntrio hat.
Carsten Szczepanski alias „Piatto“
Über den Kontakt des „Thüringer Heimatschutzes“ zur Gruppierung „Blood & Honour“ wird deutlich, wie international vernetzt die rechte Szene ideologisch und logistisch tatsächlich ist. Durch diesen Kontakt zur rechtsextremen Szene in England und den USA werden auch Überzeugungen eines bevorstehenden Rassenkrieges, die daran anknüpfenden ideologischen Denkmuster und Symbole übernommen. Es werden Kontakte zu anderen gleichgesinnten Gruppierungen wie dem auch in Europa aktiven „Ku-Klux-Klan“ (KKK) aufgebaut.
In dieser Szene ist Carsten Szczepanski aktiv. Er gehört zu jenen Rechtsextremen, die zum Import der extremistischen Ideologien des KKK und des Netzwerks „Blood & Honour“ beitragen. Bereits seit 1994 ist er V-Mann des Verfassungsschutzes Brandenburg unter dem Decknamen „Piatto“. „Piatto“ berichtet dem Verfassungsschutz über Jan Werner als wichtigsten Unterstützer des NSU-Kerntrios.
1998 kontaktiert Jan Werner den V-Mann „Piatto“ und fragt nach Waffen für das NSU-Kerntrio. Die Erkenntnisse über das Vorhaben, Waffen für den NSU zu besorgen, berichtet „Piatto“ dem Verfassungsschutz. Diese Informationen werden von dort jedoch nicht den nach Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos fahndenden Polizeibehörden weitergeleitet, so dass eine Bewaffnung des NSU-Kerntrios ungehindert stattfinden kann.
„Piatto“s damaliger V-Mann-Führer ist Gordian Meyer-Plath – heute Leiter des Verfassungsschutzes Sachsen.
Bewaffnung des NSU-Kerntrios
Über V-Mann Tino Brandt erhält das NSU-Kerntrio Geld des Verfassungsschutzes Thüringen, mit dem neue Pässe für die Untergetauchten beschafft werden.
Ende 1998 liegen dem Verfassungsschutz anhand der von V-Mann „Piatto“ berichteten Ereignisse also bereits Informationen vor, dass das NSU-Kerntrio sich Waffen beschafft, um durch Überfälle das Leben im Untergrund zu finanzieren.
Im Januar 1999 überfallen zwei Männer einen EDEKA-Markt in Chemnitz. Kurz nach dem Überfall geht auf dem Konto der Lebensgefährtin des NSU-Unterstützers Jan Werner ein hoher Geldbetrag ein.
Jan Werner steht in Kontakt mit Wilf Browning, dem Anführer des bewaffneten Arms der englischen „Blood & Honour“-Szene: „Combat 18“.
Aus dem „Combat 18“-Umfeld kommt David Copeland. Copeland ist ein britischer Neonazi, der im Frühjahr 1999 eine Serie von drei Nagelbombenanschläge in England verübt. Die Anschläge, bei denen es zu Toten und einer Vielzahl von Schwerverletzten kommt, richten sich gegen Schwarze, Migranten aus Bangladesch und Homosexuelle.
Die „Blood & Honour“-Ideologie ist geleitet von der Vorstellung über einen bevorstehenden Rassenkrieg, der nach Vorbild fiktionaler Hetzschriften wie den „Turner Tagebüchern“ und konkreten Anleitungen zum bewaffneten Kampf wie den „Field Manuals“ der „Blood & Honour“-Szene mittels einer anführerlosen, zellenartigen Organisationsstruktur zum Erfolg geführt werden soll.
2 Monate nach Copelands letztem Anschlag in London, wird in einer von einem Türken betriebenen Kneipe in Nürnberg, eine Bombe platziert. Aufgrund fehlerhafter Konstruktion kommt es nur zu einer verzögerten Explosion und damit zu leichten Verletzungen einer Person.
Im Frühjahr 2000 beschafft sich das NSU-Kerntrio über ihren Unterstützer Ralf Wohlleben die Tatwaffe der späteren Mordserie, eine Ceska 83.
Weitere „Ermittlungspannen“
Mittlerweile wird die Fahndung nach dem NSU-Kerntrio auch mit öffentlichen Mitteln wie Fernsehsendungen intensiviert. Im Frühjahr / Sommer 2000 observiert der Thüringer Verfassungsschutz eine Wohnung, die mit dem Unterstützer des NSU-Kerntrios Thomas Starke in Verbindung steht. Sie filmt eine Person beim Betreten des Hauses, verzichtet aber auf eine Personenkontrolle.
Erst nach mehreren Wochen wird das Material vom BKA ausgewertet – bei der verdächtigen Person handelte es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um Uwe Böhnhardt.
Nach einer Sendung im MDR, die auf die öffentliche Fahndung hinweist, wechselt das NSU-Kerntrio den Unterschlupf und bezieht eine neue Wohnung in Zwickau.
Wehrhahn-Anschlag
Am 27. Juli 2000 kommt es zu einem Bombenanschlag auf eine S-Bahn-Station in Düsseldorf-Wehrhahn. Opfer sind vornehmlich jüdische Migranten aus Russland. Zehn Menschen werden zum Teil schwer verletzt, ein ungeborenes Kind stirbt. Die Ermittlungen zu diesem Fall werden im Juli 2009 ergebnislos abgeschlossen.
Im Januar 2017 – über 16 Jahre nach der Tat – wird Ralf S. unter dem Verdacht, den Anschlag verübt zu haben, festgenommen. Ralf S. gehörte Anfang der 2000er Jahre der rechten Szene in Düsseldorf an und betrieb unweit des Tatortes einen Militarialaden. Ein früherer V-Mann des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes Andre M. alias „Apollo“ hatte im Sommer 2000 für den mutmaßlichen Täter gearbeitet. Diese Tatsache wurde den Ermittlungsbehörden bis 2012 nicht mitgeteilt.
Im gleichen Jahr des Wehrhahn-Anschlages, im September 2000, wird die rechte Gruppierung „Blood & Honour“ verboten, aus deren Umfeld viele Unterstützer des NSU-Kerntrios stammen – unter diesen Unterstützern sind auch die V-Leute Thomas Starke alias V-Mann „VP 562“ und Thomas Richter alias V-Mann „Corelli“.
Nahezu zeitgleich mit dem „Blood & Honour“-Verbot wird der V-Mann „Piatto“ öffentlich enttarnt.
Enver Şimşek
Am 09.09. 2000 wird in Nürnberg, in der Nähe des ehemaligen Reichsparteitagsgeländes, der türkische Blumenhändler Enver Şimşek niedergeschossen. Er stirbt – getroffen von 8 Kugeln, abgegeben aus zwei Waffen – zwei Tage später im Krankenhaus. Enver Şimşek wurde 38 Jahre alt und hinterließ eine Ehefrau und zwei Kinder.
2001 stellt das NSU-Kerntrio das erste Bekennervideo her. Es zeigt Aufnahmen des schwerverletzen Opfers und den Schriftzug „E. Simsek ist nun klar, wie ernst uns der Erhalt der Deutschen Nation ist.“
Ralf Marschner alias „Primus“
In Zwickau, am Wohnort des NSU-Kerntrios, lebt zur gleichen Zeit auch Ralf Marschner, seit 1992 V-Mann des Bundesamtes für Verfassungsschutz mit dem Decknamen „Primus“. Er ist ein Freund des NSU-Unterstützers Jan Werner und ebenfalls im Umfeld der Gruppe „Blood & Honour“ aktivonour aktivH.
2000 leitet er eine Abrissfirma mit dem Namen „Bauservice Marschner“. Er beschäftigt auch Kameraden aus der rechten Szene in seiner Baufirma. Darunter offenbar auch Uwe Mundlos. Marschner bestreitet dies, Zeugen wollen aber Mundlos als Vorarbeiter in der Baufirma des V-Mannes erkannt haben.
Marschner wurde zu diesen Fragen durch die Schweizer Polizei vernommen. Er gab dort an, nur einen Max-Florian Burkhardt beschäftigt zu haben. Auf einem Bild konnte er den wirklichen Burkhardt aber nicht identifizieren. Max-Florian Burkhardt war der Tarnname von Uwe Mundlos. Er hatte Ausweisdokumente, die auf diesen Namen ausgestellt waren.
In der Zeit, in der Mundlos wahrscheinlich bei der Baufirma Marschners arbeitete wurden in zwei Fällen Fahrzeuge auf den Namen der Baufirma angemietet, zunächst am 13.06.2001.
Abdurrahim Özüdoğru
Am gleichen Tag, dem 13.06.2001, wird in Nürnberg der Schneider Abdurrahim Özüdoğru erschossen. Er wurde 49 Jahre alt und hinterließ eine Tochter.
Bei der Anmietung des Fahrzeuges durch die Baufirma Marschners wurde als Fahrer Jens G. aus Zwickau eingetragen, ein Freund des V-Mannes „Primus“ alias Marschner. In unmittelbarer Nachbarschaft zu Jens G.s Wohnung in Zwickau lebte ab Mai 2001 – 7 Jahre lang – das NSU-Kerntrio.
Süleyman Taşköprü
Am 27.06.2001 wird in Hamburg Süleyman Taşköprü in seinem Lebensmittelgeschäft ermordet. Er wird, wie im ersten Mordfall, von Kugeln aus zwei verschiedenen Waffen getroffen. Süleyman Taşköprü wurde 31 Jahre alt und hinterließ eine 3-jährige Tochter.
Habil Kılıç
Für den Zeitraum 15.08. – 01.09.2001 mietet Marschners Baufirma erneut ein Fahrzeug an.
Am 29.08.2001 wird Habil Kılıç in seinem Lebensmittelgeschäft in München erschossen. Er wurde 38 Jahre alt und hinterließ eine Ehefrau und eine Tochter.
2002 schaltete das Bundesamt für Verfassungsschutz Marschner alias V-Mann „Primus“ ab.
Bis heute bestreitet Marschner, das NSU-Kerntrio gekannt zu haben. Ob und was er hierzu seinem V-Mann-Führer berichtet hat, kann nicht vollständig aufgeklärt werden. Während des Hochwassers 2010 sollen ausgerechnet zwei Akten vernichtet worden sein, die Marschners Rolle im NSU-Komplex betrafen.
Öffentlicher Dank an den NSU
Im Laufe des Jahres 2001 erhält eine Zeitschrift aus der rechtsextremen Szene, „Der weiße Wolf – Rundbrief für Kameraden“, eine Spende des NSU-Kerntrios. Die Zeitschrift bedankt sich für diese Zuwendung mit dem Abdruck einer Danksagung:
„Vielen Dank an den NSU, es hat Früchte getragen 😉 Der Kampf geht weiter …“
Spätestens mit dieser Veröffentlichung war der Name NSU öffentlich bekannt. Eine mögliche Verbindung zu den gesuchten Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt konnten die Behörden offenbar nicht erkennen.
Während dessen verübt der NSU eine Serie von Banküberfällen, um das Leben im Untergrund zu finanzieren. Insgesamt werden es am Ende 15 Überfälle auf Sparkassen und Postfilialen im Zeitraum zwischen 1998 und 2011 sein.
Mehmet Turgut
Am 25.02.2004 wird in Rostock der Imbissmitarbeiter Mehmet Turgut ermordet. Er wurde 25 Jahre alt. Die BILD Zeitung textet am 28.02.2004 die Überschrift „Mord am Dönerspieß – Wer kennt das Opfer?“
Die Behörden fahnden weiterhin nach dem untergetauchten Trio aus Thüringen, bringen diese gewalttätigen Rechtsextremisten aber immer noch nicht in Verbindung mit Mordtaten, die nur durch die immer gleiche Tatwaffe miteinander verbunden sind und deren Opfer immer Menschen ausländischer Herkunft sind.
Nagelbombenanschlag in Köln
Am 09.06.2004 verübt der NSU einen Nagelbombenanschlag in der Kölner Keupstraße. Die Bombe wird auf einem Fahrrad transportiert und abgestellt. Der Anschlag zielt nicht auf eine konkrete Person, sondern auf eine Straße, die für ihr Publikum ausländischer Herkunft bekannt ist. Der Anschlag ähnelt dem Konzept nach den Copeland-Anschlägen in London. Das Vorgehen der Täter, die Bauart der Bombe, die auf möglichst große Streuwirkung angelegte Konstruktion der Bombe mit Nägeln, der Tatort in einem von Migranten geprägten Straßenzug, all das gleicht dem Vorgehen Copelands.
Mindestens ein Zeuge gibt bei der Polizei an, dass es sich bei einem der Täter um einen blonden Mann handelt – der Hinweis wird ignoriert.
İsmail Yaşar
Am 09.06.2005 wird İsmail Yaşar in seinem Imbissgeschäft in Nürnberg erschossen. Er wurde 50 Jahre alt und hinterließ drei Kinder.
Zeugen berichten, dass sie in der Nähe des Tatortes zwei Männer auf Fahrrädern beobachtet haben.
Theodoros Boulgarides
Am 15.06.2005 wird Theodoros Boulgarides in seinem Ladengeschäft für Schlüsseldienste in München erschossen. Er wurde 41 Jahre alt und hinterließ eine Frau und zwei Töchter.
Nach dem nun siebten Opfer der Ceska-Mordserie wird immer deutlicher, dass die Opfer keine persönlichen Beziehungen zueinander haben und dass die Taten nur durch die gemeinsame Mordwaffe und die ausländische Herkunft der Opfer miteinander verbunden sind.
Gleichwohl wird die Familie Boulgarides zu diversen Motivlagen befragt, zu etwaigen Kontakten des Opfers ins Rotlichtmilieu, in die Drogenszene, zur Organisierten Kriminalität, zu Waffenhändlern, gar zu etwaigem sexuellen Missbrauch des Vaters an den beiden Töchtern.
Auf die Frage, ob der Mordserie ein rechtsextremistisches Motiv zu Grunde liegen könnte, sind die Behörden nicht gekommen.
Thomas Richter alias „Corelli“
Am gleichen Tag, an dem Theodoros Boulgarides ermordet wird, stellt das Bundesamt für Verfassungsschutz den zuvor abgeschalteten V-Mann Thomas Richter alias „Corelli“ wieder in Dienst. Es heißt, der damalige Präsident des Bundesamt für Verfassungsschutz Heinz Fromm habe den V-Mann „Corelli“ persönlich wieder aktiviert.
Thomas Richter hatte intensive Kontakte zum KKK. Er kannte Uwe Mundlos aus der gemeinsamen Wehrdienstzeit in den 90er Jahren. Seit Mitte der 90er Jahre ist er auch V-Mann des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Dort gilt er als Top-Quelle mit umfangreichen Verbindungen in die verschiedenen Gruppierungen der rechten Szene.
Wenige Monate nach dem Mord an Theodoros Boulgarides übergibt Thomas Richter alias „Corelli“ dem Bundesamt für Verfassungsschutz eine CD mit einem Cover, auf dem u.a. eine Waffe und der Schriftzug „NSU / NSDAP“ abgebildet ist.
Richter soll dem Verfassungsschutz im Zeitraum von 1994 bis 2007 über Erkenntnisse aus der rechten Szene berichtet haben. Für seine Dienste soll er insgesamt fast 300.000 € erhalten haben.
Richter berichtete bereits in den 90er Jahren dem Verfassungsschutz, dass Uwe Mundlos als Mitbegründer der „Kameradschaft Jena“ im „Thüringer Heimatschutz“ aktiv war. In persönlichen Kontaktverzeichnissen von Mundlos befanden sich auch Kontaktdaten von Thomas Richter.
Richter alias „Corelli“ hatte auch Verbindungen zum deutschen Ableger des KKK, jener Gruppierung, zu der auch Kollegen der später ermordeten Polizistin Michèle Kiesewetter gehörten.
Nach offiziellen Angaben des Bundesamtes für Verfassungsschutz heißt es, der V-Mann „Corelli“ habe nichts mit dem NSU zu tun gehabt.
Im Jahr 2014 sollte er wegen der von ihm an den Verfassungsschutz übergebenen CD mit dem Titel „NSU / NSDAP“ vernommen werden. Dazu kam es nicht mehr. Das Ende des V-Mannes „Corelli“ weist bis heute ungeklärte Fragen auf.
Im März 2006 leitet das Bundesamt für Verfassungsschutz Erkenntnisse über die Ceska-Mordserie an die Landesämter für Verfassungsschutz weiter und bittet um die Sensibilisierung der V-Mann-Führer für diesen Sachverhalt – ihre V-Leute in der rechten Szene sollen sich konkret nach Details der Mordserie umhören.
Mehmet Kubaşık
Am 04.04.2006 wird in Dortmund Mehmet Kubaşık in seinem Kiosk erschossen. Er wurde 39 Jahre alt und hinterließ Frau und drei Kinder.
Zeugen beschreiben zwei Männer, die sich auf Fahrrädern in der Nähe des Tatortes aufhielten. Der Tatort liegt in der Nähe eines damaligen Treffpunktes der Neonazi-Szene in Dortmund.
Halit Yozgat
Zwei Tage später, am 06.04.2006, wird in Kassel der 21-jährige Halit Yozgat in seinem Internetcafé erschossen.
Zur Tatzeit sind sechs Personen im Internetcafé anwesend, die als Zeugen in Betracht kommen. Alle – bis auf einen – machen Angaben zu ihren Beobachtungen. Der einzige Zeuge, der sich nicht bei den Ermittlungsbehörden meldet, wird von einem weiteren Zeugen beschrieben und anhand der Daten des von ihm genutzten Computers identifiziert: Es handelt sich um Andreas Temme, V-Mann-Führer des Hessischen Verfassungsschutzes.
V-Mann-Führer Andreas Temme
Weder bei der Polizei, noch bei seinem Dienstherren meldet Temme, dass er sich zum Tatzeitpunkt im Internetcafé aufgehalten hat. Erst zwei Wochen nach dem Mord gelingt es der Polizei, Temme als letzten Zeugen zu ermitteln. Bei der Durchsuchung einer seiner Wohnungen werden Waffen, Nazimaterial und Dokumente des Verfassungsschutzes gefunden.
Er ist einer der V-Mann-Führer, die sich bei ihren V-Leuten zu Erkenntnissen über die Ceska-Mordserie erkundigen sollten.
Temme gibt an, das Internetcafé verlassen zu haben, ohne das am Boden hinter einem Schreibtisch liegende Mordopfer bemerkt zu haben. Halit Yozgat wurde mit zwei Kopfschüssen ermordet. Er sank hinter dem Schreibtisch zusammen, an dem er erschossen wurde. Auf dem Schreibtisch waren deutliche Blutspuren zu erkennen. Genau auf diesen Schreibtisch – praktisch zwischen die Blutspuren – will Temme das Geld für die Internetnutzung abgelegt und das Café verlassen haben – angeblich ohne das Mordopfer zu bemerken.
Temme ist V-Mann-Führer des in der rechten Szene aktiven V-Mannes Benjamin Gärtner. Beide haben kurz vor und nach der Ermordung Yozgats miteinander telefoniert. Worum es bei diesen Gesprächen ging, ist ungeklärt. Benjamin Gärtner soll bei dem rechten Netzwerk „Blood & Honour“ aktiv gewesen sein. Sein Name steht auf einer Liste des Bundeskriminalamtes, auf der Personen verzeichnet sind, die Kontakt zum NSU gehabt haben könnten.
Bis heute sind die Ereignisse im Internetcafé nicht vollständig aufgeklärt. Grund dafür ist auch, dass die Hessischen Verfassungsschutzbehörden und das Hessische Innenministerium weitere Ermittlungen gegen Andreas Temme blockieren. Der damalige Innenminister und heutiger hessischer Ministerpräsident Volker Bouffier untersagt im Oktober 2006 den Ermittlern die Vernehmung von V-Leuten und erteilt Temme ein Aussageverbot in Bezug zu den von ihm geführten V-Männern.
Es existieren Telefonaufzeichnungen von Gesprächen Temmes mit Kollegen aus den hessischen Verfassungsschutzbehörden. Gerald Hess, Geheimschutzbeauftragter des Landesamtes für Verfassungsschutz Hessen ist einer dieser Kollegen. Im Gespräch mit Temme sagt er: „Ja, keine einfache Situation für Sie. […] Ich sage ja jedem: Wenn er weiß, dass irgendwo so etwas passiert, bitte nicht vorbeifahren.“ Dieser Satz war in der Polizeiabschrift des Telefonats nicht zu finden, befand sich aber noch auf den originalen Abhörbändern. Hess soll Temme auch geraten haben, bei seiner Aussage vor der Polizei „so nahe wie möglich an der Wahrheit“ zu bleiben.
Die Ermittlungen gegen Temme wurden eingestellt. Er arbeitet heute in der Abteilung für Beamtenversorgung.
Michèle Kiesewetter
Am 25.04.2007 wird die Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn erschossen. Sie wurde 22 Jahre alt. Ihr Kollege wird durch einen Kopfschuss lebensgefährlich verletzt und überlebt den Mordanschlag.
Kiesewetters Heimatort war Oberweißbach, in der Nähe von Rudolstadt – wo der „Thüringer Heimatschutz“, und damit der NSU, seine Wurzeln hat.
Kiesewetters Polizeieinheit wurde von Timo H. geführt. Er war wenige Minuten nach der Ermordung Kiesewetters am Tatort. Timo H. war in den Anfängen seiner Polizeilaufbahn Mitglied der KKK-Gruppe „European White Knights oft the Ku Klux Klan“ (EWK KKK), ebenso ein weiterer Polizeikollege Kiesewetters. Thomas Richter alias V-Mann „Corelli“ hatte Kontakt zum NSU und auch zum EWK KKK.
Enttarnung des NSU-Kerntrios
Am 04.11.2011 unternehmen Böhnhardt und Mundlos einen weiteren Banküberfall, diesmal in Eisenach. Sie flüchten auf Fahrrädern, die sie dann in einem Wohnmobil verstecken. Dabei werden sie von Zeugen beobachtet, welche die Polizei verständigen.
Der Wohnwagen wird im weiteren Verlauf des Tages in einer Anliegerstraße in teilweise ausgebranntem Zustand aufgefunden. Im Wohnwagen befinden sich die Bekennervideos des NSU und die Dienstwaffen der ermordeten Polizistin Kiesewetter und ihres schwerverletzten Kollegen.
Böhnhardt und Mundlos werden tot aufgefunden. Sie sollen Suizid begangen haben. Mundlos soll zuerst Böhnhardt erschossen, dann das Feuer gelegt und sich anschließend selbst getötet haben.
Ob dieser Tathergang den tatsächlichen Vorgängen entspricht, ist bis heute nicht vollständig aufgeklärt. Ereignisse bei der Sicherung des Wohnwagens und der Beweise am Fundort der Leichen von Mundlos und Böhnhardt bieten bis heute Anlass zu Zweifeln und Diskussionen.
Bevor irgendwelche kriminaltechnischen Untersuchungen vorgenommen werden konnten, wurden Wohnwagen samt Leichen über eine schräge Rampe auf ein Abschleppfahrzeug geladen und in eine Abstellhalle gebracht. Eine Spurensicherung vor Veränderung der Beweislage im Wohnwagen, verursacht durch den Abtransport, unterblieb. Ebenso unterblieb eine gesetzlich zwingend vorgeschriebene Leichenschau, mittels derer die genaue Todesursache und der Todeszeitpunkt hätten festgestellt werden können. Den am Fundort des Wohnwagens bereitstehenden Notärzten und Gerichtsmedizinern wurde jedoch keine Gelegenheit zu einer solchen Ermittlung gegeben.
Das Spurenbild am Tatort und die vorgefundenen Asservate lassen Zweifel zu, ob sich Mundlos tatsächlich selbst erschossen hat.
Im Wohnwagen wurde ein neuer Rucksack gefunden, der auf dem oberen hinteren Schlafplatz lag. Die Matratze und auf der Matratze befindliche Textilien wiesen durch die Brandfolgen erhebliche Verschmutzungen auf. Der Rucksack blieb jedoch fleckenlos. Bei der Durchsuchung des Rucksackes am 05.11.2011 wurden Geldbündel mit über 20.000 € aus einem Bankraub und Kartons mit Patronen aus den Innentaschen des Rucksacks aufgefunden. Erst vier Wochen später fand die Polizei laut Ermittlungsakten sechs DVDs mit Bekennervideos in einer Innentasche des Rucksackes. Wie dieser Fund bei der ersten Durchsuchung des Rucksackes unentdeckt blieb, ist bis heute ungeklärt.
Am Nachmittag des 04.11.2011 setzt Beate Zschäpe das Wohnhaus des NSU-Kerntrios in Zwickau in Brand und ergreift die Flucht. Sie stellt sich am 08.11.2016 der Polizei in Jena. In dem teilweise ausgebrannten Wohnhaus wird u.a. die Tatwaffe der Ceska-Mordserie gefunden.
Vorgänge nach der Enttarnung des NSU-Kerntrios
Mit der Ceska-Mordserie, Sprengstoffanschlägen und Banküberfällen werden bislang 27 Tatorte dem NSU-Kerntrio zugeordnet. An keinem dieser Tatorte wurden DNA-Spuren von Mundlos, Böhnhardt oder Zschäpe gefunden, jedoch andere DNA-Spuren, die bislang niemandem zugeordnet werden konnten.
Gleichzeitig wurden aber an Asservaten aus dem Besitz des NSU-Kerntrios 43 DNA-Spuren sichergestellt, die keiner Person zugeordnet werden können, gegen die bisher ermittelt wurde.
Drei Tage, nachdem sich Beate Zschäpe in Jena der Polizei stellte, also am 11.11.2011 ordnet der Leiter des Referates Beschaffung des Bundesamtes für Verfassungsschutz – Tarnname „Lothar Lingen“ – an, mehrere V-Mann-Akten zu vernichten. Darunter auch die Akte des V-Mannes „Tarif“.
Unter diesem Decknamen führte das Bundesamt für Verfassungsschutz Michael von Dolsperg bis 2003 als Informant über die rechte Szene in Thüringen. Drei Jahre später, im März 2014, soll V-Mann „Tarif“ in einer Vernehmung bei der Bundesanwaltschaft ausgesagt haben, er sei 1998 von einem Mitglied des „Thüringer Heimatschutzes“ gebeten worden, das NSU-Kerntrio zu verstecken. Diesen Vorgang will „Tarif“ seinem damaligen V-Mann-Führer mitgeteilt haben.
Im November 2011 werden die Akten zu diesen Vorgängen geschreddert. Alle vernichteten Akten betrafen V-Männer aus Thüringen, also dem Umfeld des NSU-Kerntrios, fünf davon aus der „Operation Rennsteig“, mit der in den 90er Jahren gezielt Aktivisten der rechten Szene und aus dem Umfeld von Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt in Thüringen als V-Leute angeworben wurden.
Als Grund für die Vernichtungsaktion wurde angegeben, die Löschfristen der Akten seien überschritten worden und daher eine zügige Vernichtung geboten. In einem taz-Artikel vom 05.10.2016 heißt es dazu:
„Vor der Bundesanwaltschaft aber machte Lingen noch eine andere Angabe. Ihm sei „völlig klar“ gewesen, dass mit dem NSU-Auffliegen die Frage kommen würde, „aus welchem Grunde die Verfassungsschutzbehörden über die terroristischen Aktivitäten der drei eigentlich nicht informiert gewesen sind“ – trotz der „seinerzeit in Thüringen vom BfV geführten Quellen mit acht, neun oder zehn Fällen“. So heißt es im Vernehmungsprotokoll, das der taz vorliegt. Mit der Vernichtung habe er gehofft, so Lingen, „dass dann die Frage, warum das BfV von nichts gewusst hat, vielleicht gar nicht auftaucht“.
Diese und weitere ungeklärte Details begleiten die Aufarbeitung des NSU-Komplexes.
Zeugensterben im NSU-Komplex
Der Zeuge Florian H., ein Aussteiger aus der rechten Szene, gab bereits 2011 – vor der Enttarnung des NSU-Kerntrios – an, er wisse, wer die Mörder der Polizistin Kiesewetter seien. Zeugen hatten während der Ermittlungen zu diesem Polizistenmord angegeben, sie hätten drei Fluchthelfer gesehen. Florian H. sollte 2013 vom zuständigen Landeskriminalamt zum NSU-Komplex befragt werden. Wenige Stunden vor der Vernehmung starb Florian H., 21-jährig, in seinem brennenden Auto. Er soll Suizid begangen haben.
Seine Ex-Freundin Melisa M. wurde Anfang März 2015 vom NSU-Untersuchungsausschuss in Stuttgart befragt. Die Befragung erfolgte nichtöffentlich. Von Melisa M. war bekannt, dass sie sich im Zusammenhang mit dem NSU-Komplex bedroht fühlte. Sie starb Ende März 2015 – vier Wochen nach ihrer Aussage im NSU-Untersuchungsausschuss – mit 20 Jahren an einer Lungenembolie.
Am 08.02.2016 wurde Sascha W. tot aufgefunden. Er war der Verlobte der im März 2015 verstorbenen Melisa M. – der Ex-Freundin von Florian H. Auch Sascha W. soll Suizid begangen haben. Die Details sind bisher unbekannt. Eine natürliche Todesursache konnte offenbar nicht gefunden werden, ein Fremdverschulden ist bislang aber nicht bestätigt.
Bereits 2009 wurde die verbrannte Leiche des 18-jährigen Arthur C. auf einem Parkplatz bei Heilbronn gefunden. Sein Name stand in den Ermittlungsakten zum Mordfall Kiesewetter. Auch Arthur C. soll Suizid begangen haben.
Das Ende des V-Mannes „Corelli“
Thomas Richter alias V-Mann „Corelli“, jahrelang Top-Quelle des Bundesamtes für Verfassungsschutz, wurde 2012 enttarnt und in das Zeugenschutzprogramm des Verfassungsschutzes aufgenommen. Er lebte unter Tarnnamen in einer Wohnung in Paderborn. Ende März 2014 sollte er wegen der von ihm im Jahr 2005 an den Verfassungsschutz übergebenen CD mit dem Titel „NSU / NSDAP“ vernommen werden. Dazu kam es nicht mehr. Am 07.04.2014 wurde der 39-jährige Thomas Richter alias „Corelli“ tot in seiner Wohnung aufgefunden.
Die Todesursache war laut Staatsanwaltschaft eine unentdeckte Diabetes-Erkrankung. Ein Fremdverschulden wurde ausgeschlossen. Der leitende Oberstaatsanwalt aus Paderborn wurde vor dem Innenausschuss des Bundestages zu den Vorgängen befragt. Er verweigerte die Herausgabe der toxikologischen Gutachten aus den Ermittlungsakten zum Todesfall Richter.
Mittlerweile hat der vom NSU-Untersuchungsausschuss in Nordrhein-Westfalen angehörte Mediziner Werner Scherbaum seine frühere Bewertung der Todesursache zurückgenommen und will Fremdverschulden nicht ausschließen. Weitere Recherchen hätten zum Ergebnis, dass auch durch das Rattengift „Vacor“ jene Symptome hervorgerufen werden könnten, die im Todesfall Richter festgestellt worden seien. Im Juni 2016 gab die Staatsanwaltschaft Paderborn bekannt, dass das Todesermittlungsverfahren zu Thomas Richter wieder aufgenommen werde.
Im Mai 2016 wurde bekannt, dass im Bundesamt für Verfassungsschutz deutsche und niederländische Prepaid-Karten des V-Mannes „Corelli“ gefunden wurden, die nie im Zusammenhang mit dem NSU-Komplex untersucht worden waren. Sie sollen sich unter den Unterlagen seines damaligen V-Mann-Führers befunden haben.
Bereits im Oktober 2014 fand das Bundeskriminalamt im Archiv des Bundesamtes für Verfassungsschutz jene CD mit dem Titel „NSU / NSDAP“, die „Corelli“ bereits 2005 seinem V-Mann-Führer übergeben hatte. Dieser frühe Hinweis auf das NSU-Kerntrio ist im Bundesamt für Verfassungsschutz offenbar schlichtweg ignoriert worden.
Zuvor wurde schon einmal ein bislang unbekanntes Handy „Corellis“ im Bundesamt für Verfassungsschutz gefunden. Auf dem Handy sollen umfangreiche Kontaktdaten aus der rechten Szene gefunden worden sein.
Quellenschutz und Staatswohl
Insgesamt sollen in den verschiedenen Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder bis zu 40 V-Leute in der rechten Szene geführt worden sein. Ihre genauen Identitäten und das von ihnen gelieferte Material sind nicht in Gänze bekannt. Aktenvernichtungen und „Ermittlungspannen“ machen eine vollständige Aufarbeitung der Vorgänge unmöglich. Es bleibt unklar, in welchem Ausmaß im Interesse des Quellenschutzes über Straftaten hinweggesehen wurde und Ermittlungen behindert wurden. Es bleibt unklar, ob man der zunehmenden Radikalisierung der Szene und den erheblichen Straftaten, die begangen wurden, tatenlos zugesehen hat, um nicht die Enttarnung von V-Leuten zu riskieren.
Noch im April und Mai 2012 wurden im Bundesamt für Verfassungsschutz Akten vernichtet, bei denen der Bezug zum NSU-Komplex nicht abschließend geklärt war.
Nach einem Bericht des Sonderbeauftragten des Bundesinnenministeriums sollen im Zeitraum vom 04.11.2011, dem Tag der Enttarnung des NSU, bis 04.07.2012, dem Tag des Verbots der Vernichtung von Akten mit Bezug zum Rechtsextremismus, insgesamt 310 Akten vernichtet worden sein, darunter Personalakten, Sachakten aus dem Bereich Auswertung, Akten der Forschung und Werbung und Akten zu Gewährspersonen des Verfassungsschutzes.
Die vielen Ermittlungspannen, die Aktenvernichtungen, die Aussageverbote, die „bedauerlichen Versehen“, die zahllosen Ungereimtheiten und Widersprüche in den Ermittlungen, so umfangreich, dass sie selbst in diesem langen Text nicht alle aufgezählt werden können, – all dies dient nicht dem Staatswohl.
Denn solange eine tatsächlich vollständige und schonungslose Aufklärung des NSU-Komplexes unterbleibt, solange werden zwei Möglichkeiten die Bewertung des NSU-Komplexes dominieren: Entweder haben wir es mit einer Nähe staatlicher Behörden zum kriminellen und rechtsextremistischen Milieu zu tun, bei der im Interesse des Quellenschutzes sogar über schwerwiegendste Straftaten hinweggesehen wurde und bei der die Verfolgung und Bestrafung der Täter bis zum heutigen Tag bewusst verhindert wird.
Oder es gibt einen NSU-Komplex, dessen Netzwerk deutlich größer ist, als die enttarnten Unterstützer des NSU-Kerntrios. Dann muss aber darüber nachgedacht werden, ob die Straftaten, welche dem NSU-Kerntrio zugeordnet werden, nicht auch von anderen als den bekannten Tätern und Unterstützern verübt worden sein könnten. Das würde bedeuten, dass die staatlichen Behörden die wahre Dimension des NSU-Komplexes bis zum heutigen Tag nicht vollständig aufgedeckt haben. Dann wäre es auch möglich, dass vielleicht heute noch ein im Untergrund aktives NSU-Netzwerk weiter schwerste Straftaten verübt – unterstützt auch von V-Leuten der Sicherheitsbehörden.
Nachtrag
Bundeskanzlerin Angela Merkel während der Trauerfeier zum Gedenken an die Opfer des NSU im Februar 2012:
„Als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland verspreche ich Ihnen: Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Daran arbeiten alle zuständigen Behörden in Bund und Ländern mit Hochdruck. Das ist wichtig genug. Es würde aber noch nicht reichen. Denn es geht auch darum, alles in den Möglichkeiten unseres Rechtstaates stehende zu tun, damit sich so etwas nie wiederholen kann.“
Ist dieses Versprechen erfüllt worden? Ja oder Nein?
Nachtrag 2
Die türkische Community hat sich in zahlreichen Grabenkämpfen der deutschen und türkischen Politik verloren. Mit großer Leidenschaft und unermüdlichem Eifer streitet sie für oder gegen Ansichten und Meinungen im Zusammenhang mit politischen Ereignissen in der Türkei und hier in Deutschland. Diese Streitigkeiten werden zuweilen mit einer solchen Intensität ausgefochten, dass man teilweise um die geistige Gesundheit der Beteiligten fürchten muss.
Mit welchem Anteil dieses Elans und dieser Beharrlichkeit hat sich die türkische Community um den NSU-Komplex gekümmert? Ist sie der Verantwortung gegenüber den Opfern und ihren Angehörigen, die ja aus der Mitte eben dieser Community stammen, gerecht geworden? Ja oder Nein?
Hat sie den Anwälten und Nebenklägern im NSU-Prozess die notwendige Unterstützung zukommen lassen? Ja oder Nein?
Hat sie mit ihren zivilgesellschaftlichen Kräften und Organisationen dem NSU-Komplex die notwendige Aufmerksamkeit geschenkt, den zahlreichen Fragen und Diskussionen eine Bühne gegeben, die unzähligen Widersprüche und Ungereimtheiten des NSU-Komplexes zum Thema der Tagespolitik gemacht? Ja oder Nein?
Kümmert sich die türkische Community tatsächlich um jene wirklich wichtigen Fragen, die den Kern ihres gesellschaftlichen Lebens hier in Deutschland betreffen? Ja oder Nein?
Könnten das vielleicht die existenzielleren Fragen sein, die auf eine Antwort warten? Ja oder Nein?
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Nachbemerkung:
Der NSU-Komplex und die Details der einzelnen Teilbereiche dieses Themas sind so umfangreich, dass der obige Text trotz seiner erheblichen Länge nur ein erster Einblick, ein grober Überblick sein kann. Er ist als erster Einstieg in diese Materie gedacht und benennt Stichpunkte, die jeweils in gesonderter Eigenrecherche vertieft werden können. Sollten Ergänzungen oder Korrekturen dringend erforderlich sein, bin ich für entsprechende Hinweise dankbar und werde sie in den Text einpflegen.