(Anm.: Eine längere Fassung dieses Textes erscheint ab dem 20.09.2023 in der Reihe „Theologisches Forum Christentum – Islam“ im Friedrich Pustet Verlag)
Rechtspopulistische Bewegungen und Parteien prägen die gegenwärtige politische Landschaft in Europa. Es gibt kaum ein europäisches Land, in dem rechtspopulistische Parteien nicht im Parlament vertreten sind, eine Minderheitenregierung stützen oder selbst die Regierung stellen. Auch über europäische Grenzen hinweg sind in Südamerika, den USA und – aus deutscher Perspektive von besonderer Bedeutung – in der Türkei rechtspopulistische Parteien von großer Bedeutung für die öffentlichen Debatten und die politischen Machtverhältnisse.
Unabhängig von ihren jeweiligen besonderen nationalen Ausprägungen haben diese rechtspopulistischen Kräfte wichtige Gemeinsamkeiten. Vielfach sind ihre politischen Inhalte, ihre gesellschaftspolitischen Signale und Narrative ähnlich oder gar deckungsgleich. Zu diesen inhaltlichen und methodischen Gemeinsamkeiten gehört in allen Fällen die Konstruktion einer exklusiven Wir-Gruppe, die sich von einer oder mehreren als fremd und minderwertig markierten Ihr-Gruppen abgrenzt. Bei diesem Prozess wird die Wir-Gruppe als durch ethnische, kulturelle oder auch religiöse Merkmale und Eigenschaften höherwertige Gruppe dargestellt. Die Ihr-Gruppen stehen dieser Wir-Gruppe und der durch die Wir-Gruppe definierten Nation als schädlicher und bedrohlicher Einfluss gegenüber.
Gleichzeitig wird die überlegene Wir-Gruppe als in ihrer zukünftigen Existenz bedrohte Gemeinschaft skizziert. Die etablierten demokratischen, liberalen politischen Kräfte, die sich nicht in den ethnischen, kulturellen oder religiösen Eigenschaften von der Wir-Gruppe unterscheiden, werden als korrupte, elitäre, vom Volk abgewandte, machtfixierte Kaste diffamiert und somit gleichwohl in das Lager der fremden, schädlichen Ihr-Gruppe verschoben.
Das rechtspopulistische Demokratieverständnis reduziert die Demokratie auf formale Aspekte demokratischer Systeme und definiert grundlegende Rechtsgüter einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaftsordnung aus dem Schutzbereich der Verfassung hinaus. Die Demokratie schrumpft auf den Wahlvorgang selbst, wobei eine errungene Mehrheit jede politische Maßnahme rechtfertigt und die Überlegenheitserzählung im Hinblick auf die Wir-Gruppe jede Maßnahme zur Erringung der parlamentarischen Mehrheit legitimiert.
Religion als identitäre Abgrenzung
Kann vor dem Hintergrund dieser Charakteristika des Rechtspopulismus die Religion eine Gegenposition formulieren und zur Resilienz gegenüber rechtspopulistischen Narrativen beitragen? Diese Frage kann nicht selbstverständlich bejaht werden. Denn alle Religionen, jedenfalls die drei abrahamitischen Religionen, die das Zusammenleben in Europa entscheidend mitprägen und vielfach im Zuge rechtspopulistischer Argumentationen herangezogen werden, fungieren in ihren inneren Dynamiken selbst als Instrumente der Identitätsstiftung durch Abgrenzung.
Die historischen europäischen Religionskriege lassen erkennen, dass selbst konfessionelle Unterschiede innerhalb einer Religion zu gewaltsamen Auseinandersetzungen führen, weil Abgrenzungsmechanismen gleichzeitig Abwertungsmechanismen sind, die in letzter Konsequenz die Existenzberechtigung der als fremd und gefährlich markierten Ihr-Gruppen infrage stellen.
Und auch bei näherer Betrachtung des historischen Fundaments unseres deutschen Religionsverfassungsrechts fällt auf, dass die Vorstellung von einer egalitären, pluralistischen Gesellschaft mit unterschiedlichen religiösen Gruppen ein noch sehr junger Gedanke ist, der weniger eine praktizierte Gegenwart beschreibt, sondern als Aufgabenstellung für die Zukunft noch auf seine vollständige Erfüllung wartet.
Im Kontext konfessioneller Vielfalt war die historische Antwort des Augsburger Religionsfriedens von 1555 nicht die Skizzierung einer pluralistischen Koexistenz. Das friedliche Zusammenleben sollte vielmehr durch eine territoriale Trennung und eine dadurch geschaffene regionale Homogenität gewährleistet werden.
Im Reichstag von Augsburg einigten sich die Reichsstände und der Kaiser auf einen Land- und Religionsfrieden, der nicht nur als historischer Ursprung des deutschen Religionsverfassungsrechts zu betrachten ist. In ihm sind auch Denkstrukturen und das Selbstverständnis von Staat und Religionen angelegt, die sich bis in die Gegenwart hinein und – in angepasster Form – bis in den Rechtspopulismus hinein auswirken.
Religionsfreiheit wurde damals nicht als Freiheitsrecht der Untertanen verstanden, sondern als Freiheit der Reichsfürsten, ihre christliche Konfession zu wählen und damit die Glaubensrichtung aller ihrer Untertanen zu bestimmen. Dieses »ius reformandi« ließ sich auf eine einfache Formel reduzieren: »cuius regio, eius religio« – wessen Land, dessen Religion.
Dem gegenüber hatte der einfache Untertan, der nicht so glauben wollte, wie sein weltlicher Fürst, nur die Möglichkeiten, die ihm das »ius emigrandi« eröffnete – nämlich sich unter Ablösung von weltlichen Schulden und Leibeigenschaft von seinem Herrn freizukaufen und in ein Territorium seiner Konfession auszuwandern.
Diese Gedanken der Abgrenzung/Trennung religiöser Gruppen, die Konstruktion von (religiös-)identitärer Homogenität und die angenommene Unvereinbarkeit des Zusammenlebens innerhalb einer pluralistischen Gesellschaftsordnung sind auch heute wieder die Merkmale rechtspopulistischer Argumentationsmuster.
Muslimische Überlegenheitsvorstellungen
Auch innerhalb muslimischer Wir-Gruppen gibt es die historisch, kulturell und religiös begründete Vorstellung einer Trennung und Unvereinbarkeit der eigenen muslimischen Wir-Gruppe gegenüber anderen nicht religiösen oder nicht muslimischen Bevölkerungsgruppen. Dabei wird – wie auch in anderen Religionen – die eigene Gruppe mit dem Anspruch einer absoluten, exklusiven religiösen Wahrheit über jeder anderen Ihr-Gruppe verortet.
Ein aktuelles Beispiel der Tragweite und gesellschaftlichen Wirkmacht solcher rechtspopulistischen, religiös verbrämten Vorstellungen zeigt sich im Inhalt und in der Rhetorik der politischen Lager im türkischen Präsidentschaftswahlkampf. Durch das religiös fundamentalistische Lager wird die Wahl als ein Entscheidungskampf zwischen Gläubigen und Ungläubigen, zwischen einer ethnisch, nationalistisch definierten Wir-Gruppe und einer von Feinden geformten, vielfältigen und damit bedrohlichen Ansammlung von Ihr-Gruppen gerahmt.
Der Blick auf die innerdeutschen Verhältnisse im Zusammenhang mit der türkischen Präsidentschaftswahl offenbart eine vergleichbare Szenerie. Vor allem türkisch geprägte muslimische Verbände waren nicht nur Orte des rechtspopulistischen Wahlkampfes, sondern im gesteigerten Maße auch ein Nährboden für eine latent antidemokratische, durch militante, nationalistische Rhetorik geprägte Gesinnung, die letztlich auch die Wahlentscheidung für das antidemokratische, rechtspopulistische Lager in der Türkei beeinflusst hat.
Denn muslimische Verbände sind im innermuslimischen Erfahrungsbestand vielfach nicht die Orte, an denen demokratische Tugenden vorgelebt und gestärkt werden. Prinzipien der demokratischen Ämtervergabe und der innerverbandlichen Willensbildung sind zwar in den Verbandssatzungen niedergeschrieben. Aber in der gelebten Verbandswirklichkeit gehören in vielen Fällen die „Wahl“ bereits durch die Obrigkeit bestimmter Kandidaten, die Manipulation und Beugung demokratischer Verfahren im Interesse der Verbandsführung und ihrer politischen Interessenträger zur regelmäßigen Erfahrung. In einem solchen Umfeld kann sich kein gefestigtes demokratisches Verständnis herausbilden, sondern nur das Gespür für einen strategischen Umgang mit demokratischen Strukturen und ihrem Missbrauch für die Interessen der eigenen Wir-Gruppen. Deshalb verwundert es nicht, dass Menschen, die hier in demokratischen Verhältnissen leben, gleichzeitig eine Wahl zu Gunsten antidemokratischer rechtspopulistischer Kräfte in der Türkei treffen.
Kein fremdes Problem
Die Affinität und Nähe zu antidemokratischen Kräften und rechtspopulistischer Agitation können wir indes nicht als ein fremdes, kulturelles Phänomen einer Randgruppe beschreiben. Sie haben auch mit unseren innerdeutschen politischen Debatten und ihrer Signalwirkung in die Gesellschaft zu tun. Die parlamentarische Präsenz und das stetige Erstarken rechtspopulistischer Parteien und Forderungen ist zum größten Teil zur neuen politischen Normalität unseres Landes geworden, ohne dass sich eine breite demokratische Allianz gegen diese Strömungen herausbildet.
Die häufig beschworene „Brandmauer gegen Rechts“ bleibt bislang eine rhetorische Formel ohne inhaltliche Substanz. Vielmehr greifen auch demokratische Parteien Forderungen und Argumente der rechtspopulistischen Szene auf und verstärken somit ihre Anschlussfähigkeit bis tief in die Mitte unserer Gesellschaft. Die gesellschaftliche Missbilligung, die türkische Wähler:innen in Deutschland bei ihrer Wahlentscheidung zu Gunsten ausländischer rechtspopulistischer Parteien und Politiker erleben, findet keine gesellschaftliche Entsprechung in den innerdeutschen politischen Debatten. Statt in diesem Punkt eine glaubwürdige einheitliche Haltung gegenüber rechtspopulistischen Narrativen schlechthin zu demonstrieren, steigern sich die demokratischen Kräfte wechselseitig in einen zunehmenden rhetorischen Dekonstruktionswettkampf und verlieren dabei den Instinkt für einen längst überfälligen deutlichen Zusammenhalt gegenüber dem zunehmenden Rechtspopulismus und Rechtsradikalismus in Deutschland.
Ein weiterer Fehler in der Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Rechtspopulismus ist die bewusste oder unbewusste Verstärkung rechtspopulistischer Argumente durch demokratische Akteure in unseren politischen Debatten.
So hat sich angesichts der Herausforderung, die die zunehmende gesellschaftliche Vielfalt für das demokratische politische Spektrum bildet, die Vorstellung einer Notwendigkeit von homogenisierenden Einflüssen verfestigt.
Der Wunsch nach Homogenität
Bemerkenswert ist in diesem Kontext die bekannte Aussage des früheren Richters am Bundesverfassungsgericht Ernst-Wolfgang Böckenförde. Er stellt in seinem Werk „Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation“ die Frage, worin der säkulare Staat die ihn tragende, „homogenitätsverbürgende Kraft“[1] und die „inneren Regulierungskräfte der Freiheit“ findet, deren er bedarf, nachdem die Bindungskraft der Religion für ihn nicht mehr essenziell ist und sein kann.
Böckenförde formuliert auf diese Frage sein mittlerweile legendäres Statement: „Der freiheitliche säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Und weiter: „Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des Einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Andererseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“
Zwei Formulierungen zeigen die Problematik und zugleich vielleicht auch Lösungsansätze auf, die sich in Böckenfördes Worten niederschlagen: Er geht von einer „homogenitätsverbürgenden Kraft“, von der „Homogenität der Gesellschaft“ als Voraussetzung von Freiheit aus.
Darin spiegelt sich aber die Vorstellung einer homogenen Wir-Gruppe als Ausgangspunkt auch rechtspopulistischer Narrative wider. Wir können als Gesellschaft aber rechtspopulistische Narrative nicht bekämpfen, wenn wir sie gleichzeitig als Grundlage unserer Antworten auf die Herausforderung des Pluralismus reproduzieren. Denn die Vorstellung, dass es einer durch besondere gemeinsame Eigenschaften der Individuen geformten Homogenität bedarf, führt zwangsläufig zu einem Gesellschaftsbild, in welchem dieser homogenen Wir-Gruppe andere heterogene und damit fremde Ihr-Gruppen entgegenstehen. Das markiert nichts anderes als den Anfang eines rechtspopulistischen Weltbildes, in welchem die bedrohliche und schädliche Eigenschaft der fremden Ihr-Gruppen nur noch einen winzigen gedanklichen Schritt entfernt ist.
Hieran knüpfen viele problematische Fragen an: Wie kann die Antwort auf die Frage des Zusammenlebens lauten, wenn von der Wirklichkeit einer zunehmend heterogenen Gesellschaft auszugehen ist? Was sind die freiheitlichen Regulierungskräfte, wenn sich die Bürger in ihrer Verschiedenheit und Vielfalt nicht aushalten, nicht wertschätzen, nicht achten wollen? Kann der Staat dann nur noch mit Verboten und der Ausgrenzung des Religiösen aus dem öffentlichen Raum reagieren? Muss dann eine Art Grundsatz der »Freiheit durch öffentliche, religionsfeindliche Homogenität« gelten? Soll religiöse Verschiedenheit dann nur noch in der Rolle des Privaten den Anspruch auf Freiheit erheben dürfen? Wird der freiheitliche Staat, nach dessen Bewahrung seine Bürger streben sollen, damit nicht erst recht preisgegeben?
Freiheit ist kein Geschenk des Staates
In der Zurückweisung oder Präzisierung einer zweiten Formulierung Böckenfördes kann vielleicht ein Schlüssel zum besseren Verständnis und zu Antworten auf diese wichtigen Fragen gefunden werden: Böckenfördes Formulierung zufolge ist Freiheit etwas, das der Staat seinen Bürgern gewährt. Dem muss widersprochen werden.
Freiheit wird nicht durch den Staat gewährt. Der Staat ist nicht mehr der Reichsfürst, der seinen Untertanen mit seiner Wahl des Glaubens nur die gleiche Freiheit gewährt, die er selbst für sich beansprucht. Freiheit ist kein Gnadenakt des Staates. Die bürgerlichen Freiheiten werden durch das Grundgesetz garantiert!
Das ist die historische Lehre aus den Ermächtigungsgesetzen der NS-Diktatur. Es gibt unverrückbare Grundrechtsgarantien, wie eben die Religionsfreiheit – sie wird durch den Staat nicht gewährt, sondern durch die Verfassung garantiert. Und zwar ohne die Voraussetzung von gesellschaftlicher Homogenität, sondern gerade auch und insbesondere dann, wenn sie Heterogenität und damit also Verschiedenheit und Andersartigkeit des einzelnen Bürgers bedeutet. Der Staat steht in der Pflicht, dieser verfassungsrechtlichen Freiheitsgarantie die Achtung und den Schutz durch all seine Institutionen zu gewähren.
Deshalb kann das Böckenförde-Diktum in einer vielfältigen und religiös pluralen Gesellschaft nur dann Geltung und Bedeutung entfalten, wenn es auch in einer Formulierung wirksam ist, die von der Religion her gedacht wird.
Die Religion in einem freien und säkularen Staat lebt von Voraussetzungen, die sie selbst nicht garantieren kann. Die religiöse Vielfalt einer Gesellschaft kann sich nur dann als eine das Zusammenleben fördernde Kraft entfalten, wenn sie sich auf Voraussetzungen stützt, welche die Religion selbst nicht geschaffen hat. Denn jeder Religion liegt – mal mehr, mal weniger – ein Anspruch auf Absolutheit oder gar Exklusivität zugrunde. Deshalb muss dieser Anspruch auf Absolutheit, der nichts anderes ist als die Vorstellung von Überlegenheit gegenüber anderen Religionen, im gesellschaftlichen Zusammenleben durch einen für alle geltenden, weltlichen Maßstab entkräftet werden.
Das wiederum bedeutet, dass der säkulare und freiheitliche Staat über nicht-religiöse Voraussetzungen verfügen muss, die ihm selbst zu eigen sind: nämlich über die größtmögliche Entfaltung und den Schutz der Freiheit seiner Bürger, öffentlich und sichtbar anders zu sein – nicht nur, aber gerade auch in Fragen der Religion und Religionsausübung.
Dies bedeutet, dass es möglich sein und von der Gesamtgesellschaft nicht nur geduldet, sondern geradezu getragen werden muss, dass sich alle Bürger mit ihrer religiösen Prägung in das gesellschaftliche Zusammenleben einbringen können. Der religiöse Wissens- und Glaubensbestand der gesamten Bevölkerung muss als gleichwertiger, nützlicher, förderlicher und fruchtbarer Beitrag für das Gelingen der gesamten Gesellschaft begriffen und unterstützt werden. Nur darin liegt eine aufrichtige und wirkungsvolle Einladung an alle Bürger jeden Glaubens oder Nichtglaubens, eine freiheitliche und demokratische Gesellschaft mitzugestalten.
Der Maßstab bei der Würdigung dieser religiösen Beiträge darf keine konfessionell vergleichende Bewertung, keine religionsskeptische Abwertung sein. Der Maßstab kann und muss sich an der Frage orientieren, ob die vielfältigen Beiträge die Freiheit aller fördern und dem Allgemeinwohl gewidmet sind.
Denn wir dürfen nicht aus dem Blick verlieren, dass unsere geltende Verfassungsordnung auf die Frage, wie ein Zusammenleben gestaltet sein soll, eine klare Antwort gibt: pluralistisch – und in dieser Vielfalt und Verschiedenheit gleichberechtigt.
Eine Homogenität der Haltungen
Deshalb kann die Überzeugung, es bedürfe homogenisierender Kräfte innerhalb einer Gesellschaft, sich nicht weiter auf ethnische, kulturelle oder religiöse Eigenschaften der Individuen fokussieren, sondern muss eine Einladung formulieren, bei der jedes Individuum innerhalb der Gesellschaft einen Beitrag zur Homogenisierung im Sinne der Stärkung einer freien Zivilgesellschaft leisten kann. Folgerichtig kann es nicht mehr um derartige Eigenschaften gehen, sondern müssen gemeinsame, homogene demokratische Haltungen zu unserer pluralistischen Gesellschaftsordnung entscheidend sein. Denn nur durch solche Haltungen, die nicht religiösen oder sonstigen Unterscheidungsmerkmalen folgen, sondern eine prinzipielle Einstellung zum gesellschaftlichen Zusammenleben in Vielfalt bedingen, sind in der Lage, gesellschaftlichen Zusammenhalt über partikuläre Interessengruppen hinweg zu fördern.
Die Religionen stehen hierbei vor einer besonderen Herausforderung. Wie kann es ihnen gelingen, den Zugriff rechtspopulistischer Kräfte auf den absoluten und exklusiven religiösen Wahrheitsanspruch als Abgrenzungsmerkmal einer Wir-Gruppe abzuwehren und sich deutlich von der Abwertung anderer religiöser Ihr-Gruppen zu distanzieren, obwohl ihre religiösen Quellen auch eben solche Abwertungserzählungen beinhalten?
Die Religionsgemeinschaften müssen sich der Frage stellen, wie sie vor dem Hintergrund des globalen Erstarkens rechtspopulistischer Argumente ein Verständnis von Gläubigkeit formulieren und vorleben, das substanziell mit gelebter sozialer Anteilnahme und Verantwortung für die gesamte pluralistische Gesellschaft zu tun hat, und das durch die äußere kultische Ausdrucksform eher praktisch umrahmt und nicht identitär abgeschottet wird.
Schaffen es die Religionsgemeinschaften, ihre jeweilige konfessionelle Religionspraxis nur als ein Fragment der göttlichen Wirklichkeit zu beschreiben, in welchem noch Platz für andere Wirklichkeiten bleibt?
Diesen Gedanken beschreibt der Benediktinermönch und Zen-Meister Willigis Jäger mit einer Metapher zur Einheit Gottes, die aus konfessioneller Sicht womöglich provozieren muss, die uns aber in einer pluralistischen Gesellschaft zur Reflexion über unser Verhältnis zu anderen religiösen Gruppen zwingt. Er beschreibt sein Religionsverständnis als einen Weg „zur Erfahrung des Göttlichen“. Dies billigt er allen Religionen zu und schränkt gleichzeitig ein, dass keine Religion behaupten kann, den einzigen Zugang zu Gott zu besitzen. Er verdeutlicht dies mit dem Bild von schönen bunten Kirchenfenstern, die dem Licht eine bestimmte, für uns wahrnehmbare Struktur geben. Aber ohne das scheinende Licht bleiben die Fenster „dumpf und nichtssagend“. Der Mensch ist nicht in der Lage, das Licht mit den eigenen Augen zu sehen. Sichtbar wird es erst durch die Brechung seines Spektrums in einzelne Fragmente.
Für Jäger gilt dieses Phänomen auch für die verschiedenen Religionen im Hinblick auf das Göttliche. Die Religionen „verleihen dem Unfassbaren eine fassbare Struktur“. Für diese Möglichkeit des Menschen, das Göttliche zu erfassen, müssen die Religionen das Göttliche auf einen bestimmten Ausschnitt, auf ein konfessionelles Fragment reduzieren. Nur weil wir diesen Ausschnitt erblicken und danach leben, dürfen wir aber nicht annehmen, dieses Fragment sei das göttliche Ganze:
„Alle Religionen sind Wege zur Erfahrung des Göttlichen, aber keine von ihnen kann behaupten, den einzigen Zugang zu ihm zu besitzen. Ich verdeutliche auch das gerne mit einem Bild: Religionen sind wie schöne bunte Kirchenfenster. Sie geben dem Licht, das durch sie hindurchscheint, eine bestimmte Struktur. Scheint kein Licht, sind sie dumpf und nichtssagend. Deshalb ist das Licht das eigentlich Entscheidende. Das Licht aber können wir mit unseren Augen nicht sehen. Licht macht sichtbar, ist selbst aber unsichtbar. Sichtbar wird es nur, wenn es in Farben zerlegt und strukturiert wird. Ebenso verhält es sich mit den Religionen im Blick auf das Göttliche. Sie verleihen dem Unfassbaren eine fassbare Struktur. Den Preis, den die Religionen dafür zu entrichten haben, ist die Reduktion des Göttlichen auf einen Ausschnitt seines Spektrums. Diesen Ausschnitt für das Ganze zu halten, wäre töricht. Ebenso töricht, wie zu glauben, das Glasfenster hätte eine eigene Leuchtkraft unabhängig von dem Licht, das es erhellt. Umgekehrt muss man aber auch sehen, dass sich das Licht in sein Spektrum brechen muss, wenn es nicht nur scheinen, sondern auch erscheinen will. Gott erscheint in den Religionen. Aber er ist in ihnen nie in der ganzen Fülle seines Lichts erfahrbar, wenn sie nicht offen sind für die Erfahrung.“[2]
Diese Erfahrung, für die Fülle des göttlichen Lichts in der Gestalt seiner vielen Erscheinungen offen zu sein, ist unabdingbar, wenn die Religionen zukünftig nicht Stichwortgeber oder argumentative Steinbrüche des Rechtspopulismus bleiben wollen.
[1] Ernst Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Säkularisation und Utopie. Ebracher Studien, Ernst Forsthoff zum 65. Geburtstag, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1967, 75–94, 92 .
[2] Willigis Jäger, Die Welle ist das Meer: Mystische Spiritualität, Freiburg 2010, 47f.