Eines der schönsten Zitate der islamischen Mystik beschreibt die Schwierigkeit zwischen Sein und Schein. „Erscheine so, wie Du bist. Oder sei so, wie Du erscheinst!“
Ich sehe darin weniger die Anprangerung von Heuchelei oder Unaufrichtigkeit, sondern vielmehr den Hinweis auf eine Lebenswirklichkeit, die uns vielleicht deutlicher bewusst wird, je länger wir leben und je häufiger wir inneren Widersprüchen, Veränderungen, äußeren Herausforderungen und wechselnden Erwartungen ausgesetzt sind. Es ist nicht immer leicht, nach außen so zu handeln und zu reden, wie man
es im Inneren empfindet.
Soziale Erwartungen und Spielregeln des Zusammenlebens, Regeln der Höflichkeit oder auch das Bewusstsein für sozial erwünschte oder abgelehnte Positionen können zu Dissonanzen zwischen unserem Handeln und Reden und unseren inneren Überzeugungen führen. Jeder Mensch muss für sich selbst entscheiden, welche Dissonanz er oder sie aushält, welchen Spannungen man sich aussetzen will.
Ich habe für mich höchstpersönlich schon vor langer Zeit entschieden, in diesem Punkt eine größtmögliche Übereinstimmung zwischen meinem äußeren Agieren und meinen inneren Überzeugungen zu bewahren. Das macht mich in vielen Fällen zu einem in sozialer Hinsicht schwer ertragbaren Menschen. Gerade im Hinblick auf mein religiöses Umfeld ist mir maximale Transparenz, die Übereinstimmung von Denken und Reden, von Glauben und Handeln sehr wichtig.
Klarheit im Reden
Häufig genug führt diese Klarheit im Reden zu Anfeindungen und Ablehnung. Damit muss ich leben. Alle Vorwürfe, die mir auch auf persönlicher Ebene gemacht werden, bin ich bereit hinzunehmen. Ich bin aber nicht bereit, sie unwidersprochen zu lassen.
Dabei geht es mir in keinem Fall um einen persönlichen Streit. Mir liegt die Sache am Herzen. Und die Sache definiere ich als die größtmögliche Anstrengung, über den Sinn unserer Existenz als Muslime in einer mehrheitlich nicht muslimischen Gesellschaft nachzudenken. Ich bin davon überzeugt, dass uns unsere Lebensumstände in eine Lage versetzen, in einer ganz besonderen, eigenen Weise über diese Frage unserer muslimischen Existenz zu reflektieren. Ich empfinde diese Umstände nicht als Irrtum, sondern als Wink des Schicksals.
Warum diese lange Vorrede? Weil ich ausschließen will, dass der folgende Text als persönlicher Angriff empfunden wird. Ich werde im Folgenden etwas tun, was ich sehr selten getan habe in letzter Zeit. Ich werde konkretes Verhalten kritisieren und dabei Namen nennen. Weil ich glaube, dass die abstrakte Kritik an konkreten Entwicklungen in der muslimischen Landschaft in Deutschland zunehmend einer personellen Einordnung bedarf, um zu konkreten öffentlichen Debatten in der Sache zu führen. Abstrakte Kritik an Phänomenen bleibt unbeantwortet, wird häufig schlicht ignoriert, weil sich niemand angesprochen fühlt oder fühlen will.
Persönliche Verantwortung
Deshalb werde ich die Inhalte, die ich in diesem Text kritisiere, namentlich zuordnen. Meine Hoffnung besteht darin, dass die erwähnten Personen nicht zwingend mit mir diskutieren, aber sich dazu angehalten fühlen, ihre Überzeugungen dem Feld der unmittelbaren Diskussion in ihren jeweiligen sozialen Räumen auszusetzen. Sie sollen offen über ihre Haltungen und Überzeugungen diskutieren müssen. Ich glaube, dass nur so, mit dieser Offenheit und Klarheit im Denken und Debattieren, ein positiver Impuls für gegenseitiges Verstehen und die Bestimmung der eigenen diskursiven Positionen möglich sein kann.
Ohne diese Offenheit bleibt es beim Ausweichen in der Sache und meine Debattengegner beschränken sich auf persönliche Schmähungen gegen mich, um ja nicht die Rolle eines Gesprächspartners einnehmen zu müssen. Dieser Zumutung will ich sie auch nach diesem Text nicht aussetzen. Mir ist nicht wichtig, dass sie mit mir diskutieren. Mir ist wichtig, dass sie ihre Haltungen und Überzeugungen überhaupt einer öffentlichen Diskussion aussetzen.
Der Grund für diesen Text
Was ist der Auslöser für meinen Text? Es sind die Reaktionen vieler Muslime auf die jüngsten Nachrichten aus Israel. Das, was gerade passiert, ist eine Zäsur. Wir können so nicht weitermachen. Das vollständige Versagen der muslimischen Verbände, muslimischer Personen des öffentlichen Lebens und der muslimischen Basis ist nunmehr unübersehbar zu Tage getreten. Wenn man bestialischen Terror nicht mehr als solchen verurteilen kann, weil sie von Glaubensgenossen begangen werden, dann stimmt entweder etwas mit diesem Glauben nicht, oder wir Muslime sind nicht mehr in der Lage, moralische Grundsätze unserer Religion gegen den Hass in den eigenen Reihen aufrechtzuerhalten.
Wenn wir als Muslime Wert darauflegen, dass unsere Religion als Religion des Friedens verstanden wird, müssen wir hinterfragen, ob unser Verhalten diesen Wunsch unterstützt – oder ihm schadet.
Ich versuche die Gründe für die Unfähigkeit der Verbände und unsere muslimischen zivilgesellschaftlichen Abgründe zu verstehen. Ich versuche, den Hass in muslimischen Kreisen auf Israel und auf Juden zu begreifen. Ich will die Ursachen verstehen, die Verbandsvertreter glauben lässt, es sei gut, Rücksicht auf diesen Hass in den eigenen Reihen zu nehmen, ihn nicht zu enttäuschen. Ich will diese Denkweise nachvollziehen, um über sie diskutieren zu können.
Versteht mich richtig: ich heiße diesen Hass nicht gut und ich widerspreche ihm ausdrücklich. Das sollte allen klar sein, die meine Texte kennen. Aber ich will nüchtern und ruhig über diese Zustände reden, weil wir sie nicht mehr ignorieren können. Denn sie zerstören unsere muslimischen Institutionen. Sie zerstören unsere muslimische Jugend. Und sie verursachen Unverständnis, Abneigung und Leid bei allen, die keine Muslime sind. Keine Religion kann, keine Glaubensgemeinschaft darf das zum Ziel haben.
Aufruf zur Debatte
Ich wende mich hiermit direkt an die Verbände und an alle Muslime, die mich seit zwei Tagen beschimpfen: Widersteht für einige Minuten eurem Reflex, mich beschimpfen zu müssen. Begreift meinen Text als Versuch, mit euch über den Zustand der muslimischen Seele zu reden.
Es geht mir nicht darum, zu diskutieren, wer im Nahostkonflikt im Recht ist. Wer die moralische Überlegenheit hat. Die vergangenen Jahre, in denen dieser Konflikt immer größer geworden ist, zeigen uns, dass wir mit dieser Diskussion, wer das Recht auf seiner Seite hat, welche Seite legitim handelt, nicht weiterkommen. Eine Kommunikation auf der Grundlage solcher Vergleiche „beider Seiten“ bringt uns keinen Frieden. Ich will stattdessen darüber reden, wozu wir Muslime bereit sind. Was wir als Glaubensgemeinschaft sein wollen.
Dazu nehme ich jetzt ganz ausdrücklich gedanklich eure Perspektive ein: Israel ist im Unrecht. Alle Palästinenser haben großes Unrecht erfahren, sie sind aus ihren Häusern vertrieben worden und müssen dorthin zurückkehren. Die al-Aqsa muss von der israelischen Besatzung befreit werden. Alle vertriebenen Palästinenser und alle ihre Nachkommen müssen nach Palästina zurückkehren und ihre Grundstücke und Häuser zurückbekommen. Free Palestine – from the river to the sea.
Ich diskutiere an dieser Stelle nicht darüber, ob das gerechtfertigt, ob das richtig ist. Ich gestehe euch diese Position in diesem Gespräch zu. Ihr habt Recht! Was ich euch ausgehend von dieser Perspektive und Position frage: Was seid ihr bereit hinzunehmen? Welche Mittel sind euch recht und billig, um dieses Ziel zu erreichen, um euer Recht durchzusetzen?
Gibt es Grenzen?
Mir ist klar, dass viele von euch bereit sind, „Alles!“ und „Jedes Mittel!“ zu sagen. Mir ist nach den Bildern und euren zynischen Kommentaren, euren „diplomatischen“ Presseerklärungen klar, dass die jüngsten Morde, Vergewaltigungen und Verschleppungen noch nicht die Grenze markieren, über die ihr nicht treten wollt. Mir ist klar geworden, dass ihr dafür betet – ja, betet! –, dass die Hamas beim Morden und Verschleppen, beim Erniedrigen von Menschen noch viel größeren „Erfolg“ haben möge. Ich habe begriffen, dass wir als muslimische Gemeinschaft an diesem Punkt angekommen sind, an dem so etwas möglich ist und jeder ein „Verräter“ und „Hausmuslim“ ist, der diesem seelischen Zustand widerspricht. Mir ist klar, dass nicht alle in unserer muslimischen Gemeinschaft so denken. Aber nahezu alle schweigen, weil sie sich nicht mehr trauen, euch zu widersprechen.
Meine eindringliche Frage lautet: Wann ist es zu viel?
Mir ist klar geworden, dass viele von euch bereit sind, die Ermordung von Juden zu akzeptieren, um in die Häuser eurer Großeltern zurückkehren zu können. Oder auch nur in der Al-Aqsa Moschee zu beten. Mir ist klar geworden, dass ihr es akzeptiert, dass die neuen Bewohner dieser Häuser geschlagen, vergewaltigt und ermordet werden, dass ihre Familien, ihre Kinder und dementen Großmütter verschleppt und gefoltert werden, damit ihr in diese Häuser zurückkehren könnt. Ich habe begriffen, dass das für euch absolut gerechtfertigt, zumindest aber ein notwendiges Übel ist, damit ihr eure Ziele erreicht.
Wir sehen aber, dass diese ganze Gewalt und das bisherige Morden nicht ausreichen, um dieses Ziel zu erreichen. Also: Noch wie viele Morde seid ihr bereit zu akzeptieren? Die Hunderten von Toten in den letzten zwei Tagen haben eure Rückkehr nicht ermöglicht. Also wie viele Morde mehr? Nach welcher Zahl an Ermordeten ist es zu viel? Über wie viele Leichen – gleich ob israelische, jüdische, palästinensische, muslimische – wollt ihr steigen, um in eure Häuser zurückzukehren? Nach welcher Leiche, ist es eine Leiche zu viel für dieses Ziel? Ab welcher Zahl an Ermordeten seid ihr bereit zu sagen: „Nicht zu diesem Preis!“?
Die Tradition des Hasses
Ich glaube nicht daran, dass es eine vererbte, genetisch determinierte oder religiös zwangsläufige Niedertracht gibt. Ich glaube nicht daran, dass man eine bestimmte Abstammung oder eine bestimmte Religion haben muss, um derart intensiv hassen zu können. Ich bin überzeugt davon, dass man diesen Hass lernt, dass man eine Tradition des Hasses pflegen muss, diesen Hass nähren muss, damit er sich vermehrt.
Ich selbst stamme aus einer Familie, die auf mütterlicher und väterlicher Seite Vertreibung und Heimatverlust erlebt hat. Meine Familie mütterlicherseits ist aus dem heutigen Skopje vertrieben worden. Die Familie meines Vaters ist aus Kreta vertrieben worden. Mein Urgroßvater, also der Großvater meines Vaters, musste alles, was er besaß, auf Kreta zurücklassen. Weil er Muslim war. Seine Tochter, meine Großmutter, hat fünfmal am Tag gebetet. Sie konnte sich im hohen Alter, im fortgeschrittenen Stadium ihrer Demenz, nur noch mit wenigen Worten verständigen. Auf Griechisch. So tief war diese alte Heimat in ihr verankert.
Ich habe während meiner Kindheit auf beiden Familienseiten niemals ein einziges schlechtes Wort über Mazedonier, Albaner oder Griechen gehört. Während der Besatzung der heutigen Westtürkei durch griechische Truppen wurden viele Familienangehörige der später neuen Nachbarn meines Großvaters und Urgroßvaters massakriert. Ich habe auch von den Familien dieser Nachbarn nie ein Wort des Hasses auf Griechen gehört. Zu keinem Zeitpunkt wurde uns Kindern erzählt, wir müssten Christen hassen, weil sie uns vertrieben haben. Mein Urgroßvater war damit beschäftigt sich ein neues Haus, in einer neuen Heimat aufzubauen. Nie haben wir Kinder gehört, dass wir in unsere alten Häuser auf Kreta zurückkehren müssen. Nie wurde uns beigebracht, dass wir Mörder werden müssen, und dass das in Ordnung ist, ja dass das unsere Religion von uns verlangt, damit wir zu unserem Recht kommen.
Ich meine damit, dass man den Hass weitergeben muss, eine Tradition des Hasses begründen muss, damit dieser Hass nicht aufhört. Und das ist eine Entscheidung. Ihr könnt mir nicht erzählen, dass es an der verstrichenen Zeit liegt, an der Tatsache, dass es mein Urgroßvater war, der vertrieben wurde und nicht mein Großvater. Es kann nicht an dieser einen Generation liegen. Der Judenhass von Palästinensern, von Muslimen, die mit der Hamas solidarisch sein wollen, wird nicht in der nächsten Generation verschwinden. Man muss sich gegen den Hass entscheiden. Man kann diese Tradition des Hasses durchbrechen. Man kann sich für Versöhnung und gegen Hass entscheiden. Es muss nicht mal Vergebung sein, Versöhnung ist auch ohne Vergebung möglich. Aber dazu muss man bereit sein. die Bereitschaft, sich zu versöhnen und auf sein Recht zu verzichten, muss größer sein als die Bereitschaft für die Durchsetzung seines Rechts immer mehr und immer mehr Leichen zu akzeptieren.
Und kommt mir jetzt nicht wieder mit dem Hinweis auf die Gewalt des israelischen Militärs oder der Freude radikaler Juden an toten Palästinensern. Als Muslime tragen wir keine Verantwortung dafür, was in der jüdischen Gemeinschaft geschieht. Und die Politik eines Staates und seines Militärs sind nicht das Vorbild für das Verhalten einer Glaubensgemeinschaft. Wir tragen Verantwortung für das, was in unserer Gemeinschaft geschieht. Und um es wieder in der Logik eurer Gedankenwelt zu formulieren: Wenn für euch Israel der Feind ist, wollt ihr dann so werden, wie euer Feind? Kommt es nicht darauf an, dass Muslime einer schlechten Tat mit einer besseren Tat begegnen, wie es im Koran steht?
Die aktive Entscheidung gegen Hass
Deshalb ist auch der Satz von Golda Meir, den Cem Özdemir vor einigen Jahren zitiert hat und dafür als „Rassist“ beschimpft wird, eben nicht rassistisch. Er beschreibt die Bereitschaft der Palästinenser und der mit ihnen um jeden Preis solidarischen Muslime, ihre Kinder zu potenziellen Mördern zu erziehen. ‚Du musst bereit sein, ein Mörder zu werden oder zumindest Morde zu akzeptieren, damit wir zu unserem Recht kommen.‘ Wer seinen Kindern diese Tradition des Hasses beibringt, dessen Hass auf Juden ist größer als die Liebe zu seinen Kindern. Das ist nicht die rassistische Behauptung, Araber liebten ihre Kinder nicht, weil sie Araber sind. Das ist die Beschreibung der gegenwärtigen Tradition des Judenhasses bei vielen Muslimen, die eine solche Zukunft des Hasses und der Mordverherrlichung für ihre Kinder zu akzeptieren bereit sind.
Ich höre schon den Widerspruch: „Murat, Du bist nicht betroffen. Deine Familie leidet nicht unter der Besatzung Israels. Du verstehst uns nicht.“ Ich nehme diesen Widerspruch nicht hin. Habt ihr die Fernsehbilder des jüdischen Vaters gesehen? Er ist der Vater der jungen Frau, die auf Videos der Hamas zu sehen ist, wie sie schreiend und flehend auf ein Motorrad gepackt und verschleppt wird. Man sieht in ihrem Gesicht, dass sie ahnt, was man ihr antun wird. Und ihr Vater sieht diese Videos. Auch er ahnt, was seiner Tochter angetan werden wird und dass er sie wahrscheinlich nie wieder lebend sehen wird. Er spricht – wenn die Übersetzung korrekt ist – weinend in die Fernsehkamera: „Auch in Gaza gibt es Opfer – Mütter, die weinen, lasst uns diese Emotion nutzen, wir sind zwei Nationen von einem Vater, lasst uns Frieden schaffen, einen echten Frieden.“
Kommentare – vermutlich muslimischer Urheber – unter diesen Bildern unterstellen dem Vater, dass er nur so redet, weil er sich um seine Tochter sorgt. Aber das ist doch nichts Geringes oder Wertloses. Selbst wenn er in Wirklichkeit anders fühlt, sich rächen will, sich den Tod der Entführer wünscht – für das Wohl seiner Tochter, für die Zukunft seiner Tochter ist er bereit, selbst solche Regungen zu unterdrücken und zur Versöhnung und zum Frieden aufzurufen. Wieso sind nur so wenige muslimische Stimmen zu so einer öffentlichen Geste fähig? Warum geschieht das so selten, dass wichtige öffentliche Stimmen von uns Muslimen so eindeutig zur Versöhnung aufrufen? Ist unser Schmerz über erlittenes Unrecht der Palästinenser so viel größer als der Schmerz dieses Vaters? Befähigt ihn seine Religion zu so einem Verhalten und hindert uns unsere Religion daran? Ist er in diesem Sinne „auserwählt“? Ich glaube nicht daran. Denn es gibt ja auch jüdische Stimmen, die zur Gewalt und zur Ermordung aller Palästinenser aufrufen. Also ist es eine individuelle Entscheidung des Gewissens und des Herzens, aus Liebe zum Frieden oder auch nur aus Liebe zu seinen Kindern und ihrer Zukunft, dass man sich gegen den Hass entscheidet. Es gibt keine muslimische Determination, die uns daran hindert. Es ist der Judenhass, den wir wie eine Folklore pflegen und weitergeben, der uns daran hindert.
Unheilige Folklore
Und unsere muslimischen Personen des öffentlichen Lebens sind wichtige Akteure dieser unheiligen Folklore. Sie liefern sich ein Wettrennen des Zynismus, um die verheerende Wirkung des Hasses auch noch zu steigern. So wie Bülent Uçar, Professor an der Uni Osnabrück, der am Morgen, als die Nachrichten aus Israel hier aufschlagen, natürlich nur rein „zufällig“ Aufnahmen ausgelassen tanzender orthodoxer Juden teilt und diesem Bild die Überschrift „Guten Morgen“ gefolgt von einem lächelnden und augenzwinkernden Emoji. ‚Juden werden gerade ermordet … hi hi… habt alle einen guten Morgen … zwinker zwinker.‘ Ihr könnt mich nicht davon überzeugen, dass das ein Zufall ist. Dass das kein augenzwinkerndes Signal an seine muslimischen Follower ist, was für einen freudigen Morgen er als Muslim angesichts dieser Nachrichten gerade hat. Es gibt Gründe für meine Überzeugung, dass das nichts anderes ist als ein vermeintlich „geschicktes“ menschenverachtendes Jonglieren mit dem Judenhass seiner Follower. Warum bin ich dieser Überzeugung? Dazu gleich mehr im Verlauf dieses Textes.
Über all das müssen wir endlich öffentlich streiten. Wir dürfen diesen Zustand unserer muslimischen Gemeinschaft nicht als Normalzustand hinnehmen. Es ist ein Ausnahmezustand, aber leider schon lange keine Ausnahme mehr. Es ist eine spirituelle Katastrophe.
Ich will euch die Dimension dieser Katastrophe vor Augen führen. Dabei geht es mir – das will ich explizit versichern – nicht um eine persönliche Fehde oder Abrechnung. Ich nenne Namen, weil ich will, dass diese Personen sich endlich öffentlich äußern, öffentlich Stellung beziehen. Nicht mehr taktierend hinter den Kulissen tuscheln und mit Andeutungen und augenzwinkernden internen Botschaften den Antisemitismus ihrer Gefolgschaft pinseln.
Mir ist klar, dass ich gemieden werde. Das sich diese Personen niemals mit mir auf ein öffentliches Podium setzen würden. Das müssen sie auch nicht. Es geht mir nicht darum, dass sie mit mir diskutieren. Aber es muss eine neue Debatte über die Zukunft der muslimischen Organisationen, über die Zukunft der islamischen Theologie in Deutschland geben, wenn wir diesen katastrophalen spirituellen Zustand der muslimischen Zivilgesellschaft und ihrer öffentlichen Repräsentanten nicht weiter fördern wollen.
Ich beschreibe euch das am Beispiel einer persönlichen Situation, die, wie gesagt, meinerseits nicht als persönliche Auseinandersetzung gemeint ist. Es ist nur ein sehr prägnantes und sehr anschauliches Beispiel für die Probleme, die ich benennen will.
Chizari
Diese auch für mich eindrückliche Sichtbarkeit des Problems begann mit einer Veröffentlichung von Navid Chizari. Chizari ist ein junger Mann, der islamische Theologie in Osnabrück und Arabisch und Islamwissenschaften in Münster studiert hat. Gegenwärtig setzt er seine wissenschaftliche Arbeit an der Ibn Haldun Universität in Istanbul fort.
Noch im vergangenen September war er Referent beim Avicenne Studienwerk anlässlich des Promovierendenkolloquiums in Istanbul. Das Avicenna-Studienwerk ist laut Wikipedia
„das jüngste der 13 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung anerkannten Begabtenförderungswerke in Deutschland. Es fördert begabte und gesellschaftlich engagierte muslimische Studierende und Doktoranden aller Fachrichtungen durch die Vergabe von Stipendien. Finanziert wird der Verein von der Bundesregierung, der Stiftung Mercator und von privaten Spendern.“
Der eingetragene Verein hat seinen Sitz in Osnabrück. Auf der dortigen Webseite erfahren wir, wer der Vorstandsvorsitzende ist: Es ist Prof. Dr. Bülent Uçar, Professor für Islamische Theologie und Religionspädagogik an der Universität Osnabrück – der oben bereits erwähnte augenzwinkernde „Guten Morgen“-Professor.
Zurück zu Chizari: Er betreibt einen Social Media Account, über den er eine „Deutschsprachige Online-Plattform für ein ganzheitliches Verständnis des Islam“ propagiert. Über diesen Kanal verwendet er einen Video-Auszug aus meinem Online-Format „Das unbequeme Gespräch“, in welchem ich mich regelmäßig mit verschiedenen Gästen über muslimisches Leben in Deutschland unterhalte. Der von Chizari zitierte Video-Auszug stammt aus meinem Gespräch mit Navid Wali aus Frankfurt, mit dem ich mich über die Kommunikation innerhalb der muslimischen Community unterhalten habe. Hier meine im zitierte Video-Auszug gesprochenen Worte:
„Aber man muss verstehen, dass ein anderer ein anderes Verständnis haben kann, das exakt aus den gleichen Quellen hervorgeht. Und dass es eben nicht den Anspruch hat, dass die eine Auffassung der anderen überlegen ist, nur weil ich 20 historische Gelehrte zitiere. Wer sagt mir, dass die nicht falsch lagen?“
Man könnte meinen, dass das eine sehr banale und selbstverständliche Äußerung ist: Verschiedene Personen nehmen Bezug auf die gleichen historischen Quellen und kommen in ihrem Verständnis des Aussagegehalts dieser Quellen zu gänzlich anderen Ergebnissen und Auffassungen. Eine Normalität, die sich gerade im akademischen Betrieb vermutlich tagtäglich wiederholt. Warum sonst, sollte jemand eine akademische Laufbahn einschlagen, wenn die wissenschaftliche Forschung ihn nicht davon träumen lässt, aus und mit den Quellen, die auch allen anderen zugänglich sind, neue, innovative Gedanken, Schlussfolgerungen, Bezüge und Ergebnisse ableiten zu können? Die Möglichkeit, auf der Grundlage des Überlieferten und zuvor Gedachten einen eigenen, neuen Gedanken zu entwickeln, ist doch gerade die Quelle des Fortschritts, die durch die Wissenschaft verkörpert wird.
Die Gefahr neuer Gedanken
Warum sollen die zuvor entwickelten Gedanken und Schlussfolgerungen eine Überlegenheit für sich beanspruchen dürfen, nur weil sie immer wieder reproduziert worden sind? Warum soll ein neuer Gedanke keine Gültigkeit beanspruchen dürfen, nur weil er chronologisch später artikuliert wird?
Ganz offensichtlich hält Chizari dies für nicht möglich oder jedenfalls für nicht zulässig. Man fragt sich, welches Theologieverständnis Chizari in Osnabrück gelernt hat, das ihn überzeugt sein lässt, dass seine wissenschaftliche Anstrengung nur darin liegen darf, zuvor Gedachtes, also das Ergebnis früherer Gelehrtenmeinungen, nur nachzuahmen. Nicht Reflexion und Relativierung sind für Chizari zulässige wissenschaftliche Methoden, sondern ausschließlich die Reproduktion. Das Sich-Aneignen von historischem Wissen ist der Endpunkt der chizarischen Gedankenanstrengung. Einen Schritt weiter zu gehen und sich zu fragen, was diese Inhalte für ihn persönlich bedeuten, ob er auch persönlich von diesen Ergebnissen überzeugt ist, ob er sie weiter für Ergebnisse hält, die es wert sind, praktiziert zu werden oder ob er sie für überholt und veraltet hält, ob er in seinem neuen Lebenskontext vielleicht zusätzliche, ergänzende oder gar gegensätzliche Gedankenanstrengungen benötigt – all das sind Fragen, die Chizari nicht beschäftigen.
Und das Bemerkenswerte ist: Chizari ist davon überzeugt, dass sich auch andere nicht mit diesen Fragen beschäftigen sollten. Im Verlauf seines Video-Beitrages lässt Chizari dem Auszug aus meinem Video seine Meinung zu dem von mir Gesagten folgen. Und nochmal: Es geht mir nicht um eine persönliche Auseinandersetzung. Mir ist es egal, wer welche Meinung zu meinen Äußerungen hat. Es geht hier um etwas viel Wichtigeres als meine Person. Es geht um das Glaubensverständnis, das Chizari hier zeigt und das er gelernt hat. In Deutschland. Das ist das Problem, über das wir reden müssen.
„Liberaler Extremismus“
Deshalb hier die Verschriftlichung von Chizaris Video-Beitrag, der den Titel „Liberaler Extremismus“ trägt (Anm.: Die grammatikalischen Fehler des Originals lasse ich unverändert):
„Es ist kein Zufall, dass sich in den letzten Jahren so ein relativistisches Verständnis der Religion verbreitet hat. Sie ist eine Reaktion auf eine überstrenge Auslegung des Islam, in dem es kaum oder keine Meinungsverschiedenheiten gibt. Eine Extreme ruft eine andere hervor. Wir sind von einem Extrem, in dem es keine Meinungsverschiedenheiten gibt, zu einem anderen Extrem – Meinungsverschiedenheiten ohne Grenzen – geraten.
Doch interessanterweise akzeptieren liberale Extremisten keine andere Auslegung der Religion außer ihrer eigenen. Man sagt zwar, alles wäre subjektiv und man wäre tolerant. Doch dadurch entstehen nicht nur Widersprüche, sondern es offenbart sich, was das Maßstab ist, wenn man genau hinschaut. Wenn man sagt, alles sei subjektiv, dann hat man das eigene Verständnis der Religion zum objektiven Verständnis der Religion gemacht. Mit anderen Worten: Mein Verständnis der Religion, dass alles subjektiv sei, ist das richtige Verständnis von der Religion.
Zweitens: Wenn alle Auslegungen subjektiv sind, wer entscheidet dann, was extrem ist und was nicht? Und hier zeigt sich der eigentliche Maßstab. Nicht die Offenbarungstexte, die Gelehrtentradition oder die islamischen Wissenschaften entscheiden, was der Islam ist und was nicht, sondern die vorherrschende Meinung innerhalb der Gesellschaft oder vor allem auch der Politik. Selbst nicht muslimische Islamwissenschaftler nehmen die liberale extremistische Form des Islams ernst. Darum sollten wir das auch nicht tun.(…)“.
Deformationen in der muslimischen Community
Ich nehme Chizaris Worte sehr ernst. Weil sie für mehr stehen als nur die persönlichen geistigen Blüten eines jungen Mannes. Seine Worte sind das Ergebnis sozialer und spiritueller Entwicklungen innerhalb der muslimischen Gemeinschaften in Deutschland und deshalb für mich wert, intensiver beleuchtet und diskutiert zu werden. Welche Dimensionen diese Entwicklungen haben, können wir gleich näher betrachten, wenn wir uns mit jenen beschäftigen, denen diese „Entlarvung“ eines neuen Extremismus durch Chizari so sehr gefällt, dass sie sich gezwungen fühlen, dieses Gefallen auch öffentlich zu bekunden.
Doch zunächst ein genauerer Blick auf das, was Chizari sagt.
Für Chizari bin ich ein Extremist. Ein „liberaler Extremist“. Ich bin Vertreter eines „Liberalen Extremismus“. Was er darunter versteht, wird deutlich als Chizari meinen „Extremismus“ als Gegenbewegung, als Reaktion auf den muslimischen Extremismus beschreibt, den er als „überstrenge Auslegung des Islam, in dem es kaum oder keine Meinungsverschiedenheiten gibt“ definiert. Die gewaltbereiten fundamentalistischen und radikalen Strömungen und Organisationen innerhalb islamischer Gesellschaften sind also gleichzusetzen mit meiner Position, in der es nach dem Empfinden Chizaris zu viel Meinungsverschiedenheit gibt – nämlich das Extrem der „Meinungsverschiedenheiten ohne Grenzen“.
Welche Grenzen sollen das sein? Welche Grenzen für Meinungsverschiedenheiten wünscht sich Chizari? Wer soll diese Grenzen definieren? Wer soll ihre Einhaltung überwachen? Und sollen Überschreitungen dieser Grenzen geahndet werden? Durch wen? Mit welchen Sanktionen?
Grenzen der Freiheit
In der Vorstellung islamischer Frömmigkeit gibt es für Chizari Grenzen, die man als Muslim mit einer eigenen Meinung nicht überschreiten darf. Die Vorstellung, dass es ein Segen sein könnte, möglichst viele Meinungsverschiedenheiten in Fragen des Glaubens zu habe, ist für Chizari ein Akt des Extremismus.
Bemerkenswert ist, dass Chizari – immerhin ein Akademiker, der an zwei Standorten unterschiedliche Fächer studiert hat und weiter im akademischen Betrieb tätig ist – in diesem recht kurzen Video Aussagen formuliert, in denen er Extremismus attestiert und gleichzeitig über Subjektivität und Objektivität sinniert, ohne sich der eigenen gedanklichen Widersprüchlichkeit bewusst zu sein.
Die Befürwortung vielfältiger Meinungen über den Glauben hält Chizari für einen extremistischen und damit gefährlichen Relativismus, weil sie subjektiv sei. Nach Chizaris Vorstellung ist Subjektivität im Glauben also etwas Schlechtes, etwas Gefährliches. Chizari stellt laut die Frage: „Wenn alle Auslegungen subjektiv sind, wer entscheidet dann, was extrem ist und was nicht?“
Chizari braucht also jemanden, eine Person oder Institution, die für ihn verbindlich entscheidet, was extrem ist und was nicht. Ein eigenes subjektives Urteil über diese Frage ist für Chizari nicht denkbar, jedenfalls nicht zulässig, weil (zum Beispiel in meiner Gestalt) extremistisch.
Für Chizari muss es also einen objektiven Glauben, einen objektiven Islam geben, der durch eine Befürwortung der Subjektivität von Glaubensauslegungen nur verwässert und verfälscht wird.
Objektiver Islam
Als Quellen dieser subjektiven Gefahr diagnostizier Chizari folgende Einflüsse: „Nicht die Offenbarungstexte, die Gelehrtentradition oder die islamischen Wissenschaften entscheiden, was der Islam ist und was nicht, sondern die vorherrschende Meinung innerhalb der Gesellschaft oder vor allem auch der Politik.“
„Vorherrschende Meinung innerhalb der Gesellschaft“ und „Politik“ sind also laut Chizari gefährliche, subjektive Verfälschungen des objektiven Islam. In der hiesigen deutschen Gesellschaft sind dies – das traut sich Chizari nicht ausdrücklich auszusprechen, aber sein Publikum ist empfänglich für diese zwingende Schlussfolgerung – die mehrheitlich nicht muslimische und damit „ungläubige“ Gesellschaft und eine ebensolche „Politik“, also die staatliche Sphäre.
Damit begibt sich Chizari in die bedenkliche Nähe der Glaubensvorstellung radikaler Gruppen, die in den sozialen Medien jungen Muslimen eintrichtern, dass sie ihren Glauben nicht mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung vereinen können, weil der deutsche Staat und diese „ungläubige“ Gesellschaft von ihnen erwarten, dass sie sich assimilieren und damit ihren muslimischen Glauben aufgeben.
Dem gegenüber steht in der Glaubenswelt Chizaris ein unverfälschter, objektiver Islam, der durch „Offenbarungstexte, die Gelehrtentradition oder die islamischen Wissenschaften“ definiert wird. Es gibt nach der Überzeugung Chizaris also „einen wahren Islam“, also eine einzige absolute islamische Wahrheit, die in den Offenbarungstexten steht. Die Gelehrtentradition hat diese Wahrheit quasi gedanklich extrahiert und in ihren Werken festgehalten. Und die islamischen Wissenschaften propagieren nunmehr diese einzige objektive islamische Wahrheit.
Wenn man es nachsichtig formuliert, ist das ein sehr schlichter Kinderglauben, in dem es alte, bärtige, Männer gibt, die als gütige und weise Gelehrte erkannt haben, was Gott in seiner Offenbarung wirklich gemeint hat und die in vollkommener Kenntnisfülle und Herzensreinheit diese Bedeutung verschriftlich haben. Mehr als diese historischen Gelehrten können wir heute nicht wissen, denn sie waren ja historisch viel näher an der objektiven Wahrheit als wir es jemals sein können.
Die „objektive Natur“ des Extremismus
Wenn man es nüchterner und kritischer formuliert, ist es gerade dieser Absolutheitsanspruch, der extremistisches Denken ausmacht. Für Extremisten gründen die Kernaussagen der Offenbarung eben auf solchen „objektiven Erkenntnissen“, die absolut wahr sind und über die es niemals zwei Meinungen geben kann. Die Gewaltbereitschaft extremistischen Denkens resultiert ja gerade aus der fehlenden Bereitschaft, Mehrdeutigkeit, Ambiguität in der Deutung religiöser Inhalte zuzulassen. Dass das Chizari gerade in seiner Studienzeit in Münster – mit einem Thomas Bauer und seiner Publikation zur Ambiguitätstoleranz im Islam – nicht gelernt oder nicht verstanden hat, ist besonders enttäuschend.
Für Extremisten gibt es stets ein kohärentes Denksystem, in dem kein Platz ist für Widersprüche und Mehrdeutigkeit. Die Überzeugung von einer einzig wahren, einer objektiven, einer allein richtigen Glaubenswirklichkeit ebnet Extremisten den Weg in die Gewalt, weil neben dieser objektiven Wirklichkeit alle anderen subjektiven Auffassungen keine Existenzberechtigung beanspruchen dürfen. Deshalb – und das muss allen Chizaris deutlich entgegengehalten werden – ist im Feld des Glaubens nicht die Suche nach einem objektiv richtigen Islam die notwendige Anstrengung, sondern der Pluralismus der religiösen Sichtweisen und die Vielfalt der Deutungen und Auslegungen.
Wunsch nach Eindeutigkeit ist Missachtung der islamischen Tradition
Nichts anderes hat sich durch die Entwicklung islamischer Rechtsschulen und der vielfältigen Meinungsverschiedenheiten unter ihnen und innerhalb einzelner Rechtsschulen als gelebte Tradition des Glaubens manifestiert. Diese Tradition der Subjektivität als „liberalen Relativismus“ abzuwerten, zeigt nur, dass man diese Tradition nicht weiterführen will, sondern bestimmte Auslegungsergebnisse als neuen Versuch der Etablierung vermeintlich objektiver, allein wahrer religiöser Deutungen sakralisiert.
Oder glaubt Chizari, dass die historischen Gelehrten nicht beeinflusst waren von der „vorherrschenden gesellschaftlichen Meinung“ ihrer Zeit? Oder gar von den politisch Mächtigen ihrer Zeit? Glaubt er nicht, dass historische Gelehrte nicht auch Gefälligkeitsgutachten verfasst haben, weil sie sich um die Gunst der Machthaber sorgten oder bestimmte persönliche Moralvorstellungen hatten, die in das Ergebnis ihrer Quellendeutung eingeflossen sind?
Oder glaubt Chizari, dass die vorherrschende öffentliche Meinung oder die Politik im Iran oder Saudi-Arabien oder allein die Gelehrtenmeinung der angesehenen Theologischen Hochschule der Al-Azhar in Ägypten die besten Voraussetzungen für seine Vorstellung eines „objektiven Islam“ liefern?
Diese Inkonsistenz im Denken und Reden wäre keinen Text wert, wäre sie nicht ein Indiz für die verheerende geistige Zerstörung, die sie unter jungen Muslimen anrichtet. Denn was bleibt nach so einem Video hängen? Die jungen Menschen nehmen mit, dass Freiheit etwas Negatives ist. Sie hören, dass es Grenzen für Meinungen geben muss. Sie bekommen gesagt, dass es extremistisch, also gefährlich ist, subjektiven Überzeugungen nachzugehen. Sie sollen lieber auf Obrigkeiten hören. Auf „Gelehrte“. Auf „Ustadhs“. Auf „Sheiks“. Die werden ihnen schon sagen, woran sie glauben sollen. Zum Beispiel auf eben diese Al-Azhar Universität, die in diesen Tagen „mit größtem Stolz“ den „Widerstand des stolzen palästinensischen Volkes“ begrüßt und ihr Mitgefühl mit den „Märtyrern der islamischen und arabischen Nation“ bekundet. Diese Gelehrten unterstützen in ihrer jüngsten Erklärung „die Herzen und Hände des palästinensischen Volkes, das uns mit Geist und Glauben inspiriert hat“.
Zerstörung im muslimischen Denken
Das ist der Kontext, in dem die Glaubensvorstellung Chizaris gelesen und verstanden werden muss. Die Botschaft, die Chizari hier letztlich formuliert, lautet: Nehmt Menschen nicht ernst, die sich anmaßen, eine eigene Meinung zu vertreten! Und wagt es selbst ja nicht, einer Gelehrtenmeinung – wie der obigen Meinung der Al-Azhar-Gelehrten – zu widersprechen!
Was Chizari hier propagiert, ist nichts anderes als die Vorstellung eines islamischen Klerus, der den Menschen schon erzählt, was ein objektiv wahrer Islam zu sein hat. Und wenn diese objektive Gelehrtenmeinung zur Gewalt aufruft – wie im Fall der Taliban oder des IS, oder der Al-Azhar und der Hamas –: welcher junge Mensch hat dann nach jahrelanger Indoktrination mit diesem Glaubensverständnis von einem vermeintlich objektiven Islam die innere Kraft, sich dem Aufruf eines „Gelehrten“ noch zu widersetzen?
Chizari will seinen objektiven Islam, in dem es Grenzen für Meinungsverschiedenheiten gibt. Wer bestimmt diese Grenzen? Ich will Chizari ein Beispiel aus seiner eigenen Biographie geben, an dem er vielleicht nachvollziehen kann, dass Meinungsverschiedenheiten zu der Wirklichkeit unseres Lebens gehören. Wieder: nicht als Belehrung, aber als Grundlage einer öffentlichen Diskussion.
Auf der Webseite „musikwoche.de“ findet sich eine Nachricht aus der früheren Schaffensphase von Navid Chizari. Dort heißt es: „Das Hamburger Produzentenduo M3 & Noyd und EMI Music Publishing Germany haben eine neue Verlagsedition namens Edition Tasneef gegründet. Den Brüdern Hamid und Navid Chizari gelang mit „Prison Break Anthem (ich glaub an dich)“ von Azad featuring Adel Tawil 2002 ein Nummer-eins-Hit.“
Ein schöner Erfolg für den jungen Navid Chizari. Wie verhalten wir uns jetzt aber gemeinsam zu der islamischen Gelehrtenmeinung, Musik sei haram – also religiös verboten? Ist diese Meinung ein Beispiel für den „objektiven Islam“, nach dem sich Chizari sehnt? Was ist der „objektive“ islamische Maßstab für sein früheres musikalisches Schaffen? Oder gibt es so einen Maßstab gar nicht? Gibt es vielmehr subjektive, vielfältige Meinungen dazu, wie sich Muslime zum Thema Musik verhalten sollten? Und warum soll nicht jede Muslimin und jeder Muslim seine ganz persönliche Meinung dazu haben dürfen?
Die Angst vor persönlicher Verantwortung
Werden wir dereinst am Tag der Rechenschaft danach gefragt, welchem Gelehrten wir gehorcht haben? Oder nach unseren persönlichen Beweggründen für unser Handeln? Wer will – wenn er denn ans Jenseits und an den Tag der Rechenschafft glaubt – ernsthaft die Ansicht vertreten, er könne auf die Frage nach dem Grund seines Handelns seinem höchsten Richter 20 Gelehrtenmeinungen entgegenhalten?
Worin liegt für Chizari das Gefährliche, das Extremistische an der Überzeugung, dass jeder eine eigene Verantwortung für sein Glaubensverständnis trägt und sich dieser Verantwortung nicht durch den Hinweis auf Fußnoten in einem Werk der islamischen Jurisprudenz entziehen kann?
Es gibt historische Gelehrte, die bei der Auslegung religiöser Quellen zu dem Ergebnis kommen, dass die Tötung eines anderen Menschen zulässig und erlaubt sei. Es gibt Muslime, die solche Auslegungsergebnisse für den einzig wahren, den „objektiven“ Islam halten und danach handeln. Wie jetzt die Hamas in Israel.
Warum will Chizari die Möglichkeit der Zurückweisung solcher Meinungen durch andere Meinungen, die sich auf die gleichen Quellen beziehen, ausschließen?
Für die Erkenntnis, dass ein Menschenleben mehr wert ist als eine historische Gelehrtenmeinung, muss niemand islamische Theologie studiert haben oder die gesammelten Werke einer bestimmten historischen Epoche erforschen. Der „Maßstab“ für richtiges oder falsches muslimisches Verhalten, den Chizari so verzweifelt sucht und glaubt, nur in historischen Gelehrtenwerken finden zu können, liegt in unserem eigenen, persönlichen, ja subjektiven Gewissen.
Die Entwertung des eigenen Gewissens
Keine Gelehrtenmeinung ist diesem subjektiven Gewissen überlegen. Denn beide teilen sie die gleiche Anfälligkeit für Fehler und Makel. Und im Gegensatz zu Chizaris Sehnsucht nach einem objektiv richtigen Islam und einer absoluten Gelehrtenwahrheit ist meine subjektive Meinung nur für mich selbst verbindlich. An keiner Stelle, nirgends in meinen Texten erheben ich meine subjektive Auslegung, mein subjektives Verständnis über meinen Glauben zur Maxime eines allgemein gültigen Handelns.
Das ist der fundamentale Unterschied zu Chizari. Er ist auf der Suche nach „Maßstäben“, die allgemeine, kollektive Verbindlichkeit beanspruchen. Ich bin davon überzeugt, dass es im Feld des Glaubens nur die Wirklichkeit der subjektiven Vielfalt geben kann. Denn am Ende reflektiert ein jeder von uns mit seinem höchstpersönlichen Verständnis des Glaubens nur ein Fragment der göttlichen Wahrheit. Wer will so töricht sein, seine individuelle Kenntnis von den Werken historischer Gelehrter für die Gänze der göttlichen Wahrheit zu halten?
Das ist keine rein akademische, glaubenstheoretische Diskussion. Seine Glaubensvorstellung motiviert Chizari zum Beispiel dazu, ein Bild zu teilen, das die Überschrift trägt: „Heute nach dem Mittagsgebet bei meine lokalen Moschee“. Darunter das Zeichen der palästinensischen Fahne. Es handelt sich wahrscheinlich um eine Moschee in Istanbul.
Das Bild zeigt einen kleinen Jungen am Ausgang der Moschee. Er hält eine Box mit Süßigkeiten, die er den Moscheebesuchern entgegenstreckt. Auf der Innenseite des Deckels der Schachtel ist eine palästinensische Fahne zu sehen. Es ist wohl Chizari selbst, der die Kamera so hält, dass man den Eindruck hat, er würde im nächsten Moment nach den Süßigkeiten greifen.
Wie soll man das anders verstehen, als das Chizari die Morde in Israel, die Verschleppung von Besuchern eines Friedensfestivals mit Süßigkeiten feiert? Er erweckt nicht den Eindruck, dass diese Freude über Morde etwas Extremes sei oder seiner Glaubensvorstellug widerspricht.
Dass am Ende Chizari selbst nicht der Ursprung des Problems, sondern lediglich eine Folge der in muslimischen Gemeinschaften weit verbreiteten Vorstellung über einen objektiven Islam, eines unislamischen deutschen Lebensmittepunktes, der Gefährlichkeit von Meinungsvielfalt und dem Wunsch nach Grenzen für Freiheitsrechte ist, zeigen die vielen Kommentare unter seinem Video.
Kein Problem mit Verharmlosung
Özdil
Ich will nur einige wenige Beispiele aufzeigen, damit die Dimension des Problems und die Diskussionswürdigkeit dieser Phänomene sichtbar wird. Und auch hier wieder: Ich habe keinen Streit mit den erwähnten Personen. Einigen von ihnen bin ich nie oder nur selten persönlich begegnet. Aber sie müssen ihre Überzeugungen öffentlich vertreten und erläutern. Sie müssen öffentlich über ihre Glaubensvorstellung diskutieren. Denn sie beeinflussen damit viele junge Muslime. Sie nehmen an vielen religiösen Debatten teil und engagieren sich in der Bildungs- oder Präventionsarbeit. Deshalb ist es wichtig, was sie denken, wie sie glauben und wie sie auf dieser Grundlage handeln.
Vom Begriff des „liberalen Extremismus“ ungestört findet zum Beispiel Dr. Ali Özdil, dass Chizari meine Worte „Sehr schön analysiert!“. Özdil ist Islamwissenschaftler und Religionspädagoge. Er ist „in der Fortbildung von Lehrern, Erziehern, muslimischen Moscheeführern, Imamen, der Bundespolizei (in Präventionsarbeit), Bundeswehrsoldaten, Ärzten und Pflegern (im Bereich kultursensible Pflege) tätig. Er ist Mitbegründer der Schura Hamburg (Rat der Islamischen Gemeinschaften) und war Lehrbeauftragter der Universität Hamburg (FB Erziehungswissenschaft) und der Universität Osnabrück (Islamische Religionspädagogik).“
„2013 gründete er das Interkulturelle Institut für Inklusion e. V. mit und leitete von 2015 bis 2019 das Hamburger Präventionsprojekt im Bereich „gewaltbereiter Islamismus“ unter dem Titel Al Wasat – Die Mitte, das vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert wurde.
Özdil hat mehrere Jahre die vier Schura-Verbände in Hamburg, Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Bremen zum Islamischen Religionsunterricht beraten und war Mitglied mehrerer Runder Tische und Beiräte.“
„Seine Arbeitsschwerpunkte sind die islamische Theologie in Europa, interkulturelle Bildung, Präventionsarbeit und die kultursensible Pflege.“
Gerade im Kontext seines vielfältigen gesellschaftspolitischen Engagements finde ich es wichtig, dass Dr. Özdil sich öffentlich zu seinem Verständnis des „liberalen Extremismus“ äußert. Wer im Bereich der Religionspädagogik und der Präventionsarbeit unterwegs ist, sollte beim Thema „Grenzen der Freiheitlichkeit“ und „Verharmlosung gewaltbereiten islamistischen Extremismus“ keinen Raum für Missverständnisse zulassen.
Matar
Ein weiterer Zuschauer Chizaris ist Mohamed Matar. Er teilt Chizaris Video mit einem Standbild, auf dem ich unter dem Schriftzug „Liberaler Extremismus“ zu sehen bin. Matar ist nach eigenem Bekunden „Imam & Seelsorger“. Wegen seines Auftritts bei der Gedenkfeier am Breitscheidplatz in Berlin 2017 gab es eine öffentliche Kontroverse. (https://www.islamiq.de/2017/12/28/medien-hetzen-gegen-imam-matar/)
Seine früheren Positionen und Aktivitäten will ich gar nicht kommentieren. Dazu kann sich jeder ausgehend vom obigen Link eine eigene Meinung bilden. In dem obigen Beitrag kommen Kritiker und Befürworter Matars gleichermaßen zu Wort.
Auf einem der Social Media Accounts Matars ist zu lesen: „Das Konto von unserem Imam … wurde aufgrund seines Videos zu Palästina vorübergehend gesperrt. Es wurde bereits Einspruch eingelegt. Macht Du’a.“
Wir sollen also dafür beten, dass Matar weiter Videos zu Palästina posten darf. Ein junger „Imam“ der in der Verbandsszene unterwegs ist, kommentiert das mit den Worten: „Man sieht wer an den Hebeln sitzt, wenn selbst konstruktive Isr4el-Kritik zu einem Ban bei instagram führt.“ Wer mögen die sein, „die am Hebel sitzen“?
Die „konstruktive“ Kritik Matars bestand unter anderem auch aus einem Bittgebet, das er wohl vor der Sperrung geteilt hat:
„Ya Allahu, ya Latif! Wir bitten dich bei Deiner Liebe für Deinen Gesandten im Monat der Geburt Deines Gesandten, dass Du den gläubigen Männern und den gläubigen Frauen Erfolg verleihst!“
Worin mag dieser herbeigesehnte Erfolg angesichts der aktuellen Nachrichtenlage wohl bestehen?
Es ist dieses wiederkehrende Spiel von „Imamen“ mit Andeutungen und Botschaften, das jungen Muslimen signalisieren soll, was sie religiös für legitim, ja sogar verpflichtend erachten sollen. Ich halte es für dringend notwendig, dass angehende oder bereits praktizierende Imame in Deutschland ausgiebig über ihr Verständnis von Demokratie und Freiheitsrechten, die Grenzen der Meinungsfreiheit und, insbesondere wenn sie im Bereich der Seelsorge tätig sein wollen, über ihr Verständnis von Subjektivität im Glauben und die Vorstellung einer absoluten, einzig richtigen Glaubensauslegung diskutieren. Es gibt ganz offensichtlich einen dringenden Bedarf dafür.
Doukali
Das gleiche Standbild zu Chizaris Video – mein Profil mit dem Titel „Liberaler Extremismus“ – wird auch von Mounib Doukali geteilt. Auch Doukali ist nach eigenen Angaben „Imam und Seelsorger“. Er ist stellvertretender Vorsitzender und Dialogbeauftragter der Schura – Rat der Islamischen Gemeinschaften in Hamburg. Die Schura ist Vertragspartner des Hamburger Staatsvertrages mit muslimischen Verbänden. Zu dem Thema habe ich mich auf diesem Blog bereits ausführlich geäußert. Mich wundert es schon lange nicht mehr, dass im Umfeld der Hamburger Schura Wertvorstellungen dominieren, bei denen Begriffe wie „Liberaler Extremismus“ nicht als diskussionswürdig betrachtet werden. Das soll dann die „gemeinsame Wertegrundlage“ mit dem Land Hamburg sein.
Doukali ist natürlich auch nur ein Mensch. Das betont er in einem ZEIT-Beitrag über seine Person und Arbeit: https://www.zeit.de/arbeit/2020-11/mounib-doukali-imam-corona-radikalisierung-arbeit-podcast
In dem Beitrag erfahren wir, dass er auch in der Präventionsarbeit unterwegs ist. Ich frage mich immer mehr, wie Imame über religiös begründeten Extremismus von Muslimen reden, wenn für sie der Extremismus der Taliban oder des IS vergleichbar ist mit dem Einsatz für Meinungsverschiedenheit und Deutungsvielfalt in religiösen Fragen? Wie klären diese Imame über die Frage religiös begründeter Gewaltlegitimation auf, wenn für sie die Worte eines Murat Kayman ebenso extremistisch sind wie die Gewaltaufrufe islamistischer Hassprediger?
Was wir aus dem ZEIT-Beitrag auch erfahren: Doukali hat seine theologischen Studien an der Universität in Osnabrück verfeinert. Ja, das ist die Universität, an der der oben erwähnte „Guten Morgen“-Professor islamische Theologie und Religionspädagogik lehrt.
Uçar
Bei keinem der obigen Kommentatoren, die durch Gefallen oder Teilen des Chizari-Videos ein unreflektiertes Verständnis zum Begriff des „liberalen Extremismus“ aufzeigen, habe ich mich wirklich gewundert. Ihr gemeindliches Umfeld, ihre früheren oder aktuellen verbandlichen Aktivitäten, ihre öffentlichen Unterstützer, all das lässt sich in ein Spektrum einordnen, in dem dogmatischer Glauben und die Überhöhung von Gelehrtentraditionen immer schon in einem Spannungsverhältnis zu individuellen Freiheiten und Meinungsvielfalt im Glauben standen.
Was mir die größte Sorge bereitet, ist vielmehr die Tatsache, dass auch einem Mann wie Prof. Dr. Bülent Uçar – ohne ein einziges einordnendes oder kritisches Wort – das Chizari-Video mit dem Titel „Liberaler Extremismus“ und dem Hinweis Chizaris: „Beim Liberalen Extremismus gibt es keine Wahrheit. Darum wird auch der Islam sinnlos.“ gefällt.
Bülent Uçar ist nicht irgendwer. Er ist kein nach Orientierung suchender junger Muslim, der identitäre Selbstzweifel und kognitive Dissonanzen im Feld der Religion durch eine kohärente Denkweise mit absoluten Wahrheiten und eindeutigen Dogmen zu kompensieren sucht.
Er ist nicht nur Islamwissenschaftler und Religionspädagoge. Seit 2008 ist er Professor für Islamische Religionspädagogik an der Universität Osnabrück. „Er gilt als einer der gefragtesten Korangelehrten in Deutschland.“
Er war und ist in vielfältiger Weise in akademischen und behördlichen Zusammenhängen – national wie international – tätig. Es heißt, er trete für „eine zeitgemäße, moderne islamische Religionspädagogik ein.“
Er war ordentliches Mitglied der zweiten Deutschen Islamkonferenz. Er wurde im Zusammenhang mit seiner Arbeit auf bundespolitischer Ebene mit den Worten zitiert: „Der angemessene Umgang mit Minderheiten und Diversitäten bei einem allgemein verbindlichen Wertekodex wird für unsere Gesellschaft in Deutschland mittel- und langfristig überlebensnotwendig sein.“
„Seit 2012 ist Uçar Direktor des Instituts für Islamische Theologie (IIT) an der Universität Osnabrück, dem deutschlandweit größten islamtheologischen Zentrum mit sieben Professoren und über 40 Mitarbeitern.“
Er ist, wie oben schon erwähnt, einer der Mitbegründer des Avicenna-Studienwerks. Dort hat er nicht unerheblichen Einfluss darauf, welche muslimischen Studierenden mit Stipendien unterstützt werden.
Er steht seit 2019 dem oben bereits erwähnten Islamkolleg Deutschland (IKD) als Direktor vor, in welchem Imame in Deutschland ausgebildet werden.
Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte werden mit den Worten zusammengefasst: „(…) die Islamische Religionspädagogik im modernen Kontext, die gegenwartsbezogene Islamforschung mit Schwerpunkt Deutschland und Türkei, die Islamische Theologie in Geschichte und Gegenwart insbesondere mit dem Fokus auf die Entwicklung der Scharia im historischen und modernen Kontext.“
Er ist Verfasser und Herausgeber von Schulbüchern und Materialen für den Islamischen Religionsunterricht und den Islamkundeunterricht.
Seit 2015 ist er Träger des Bundesverdienstkreuzes am Bande.
Wie passt all das zusammen mit seinem Applaus für die Begriffskonstruktion des „Liberalen Extremismus“, mit dem im Kontext des Chizari-Videos der mörderische Extremismus islamistischer Täter verharmlost wird? Wie passt das zusammen mit einem Bild tanzender Juden und damit verbundenen „Guten Morgen“-Grüßen, während Juden abgeschlachtet werden und Juden weltweit sich um Angehörige in Israel sorgen?
Chizari hat u.a. auch in Osnabrück studiert. Die von der Kritik an einer vermeintlich extremistischen Freiheitlichkeit so begeisterten, fast alle oben erwähnten Kommentatoren haben Bezüge zu den Einrichtungen in Osnabrück. Özdil war dort Lehrbeauftragter an der Universität. Doukali hat in Osnabrück Theologie studiert.
Uçar trägt als Professor in Osnabrück und Direktor des Islamkolleg Verantwortung für die Außenwirkung dieser Institutionen. Die Kommentatoren des Chizari-Videos waren oder sind teilweise seine Studierenden, Auszubildenden oder Kollegen. Ist das reiner Zufall? Warum gibt es nicht aus anderen universitären Standorten eine öffentlich bekundete Begeisterung für die Gleichsetzung von islamistischem Terrorismus und liberalen, pluralistischen Deutungsvorstellungen? Warum gibt nicht aus der Nähe anderer universitärer Standorte derart gehäufte Solidarisierungsgesten oder zynische Andeutungen zu den jüngsten Terrorangriffen in Israel?
Eine Antwortmöglichkeit könnte das sein, was – mit Verlaub – ein derbes türkisches Sprichwort über die Vorbildfunktion religiöser Autoritäten sagt: „Wenn der Imam furzt, wird seine Gemeinde scheißen!“
Öffentliche Verantwortung
Deshalb frage ich nochmal: Wie kann Uçar die Aussagen des Chizari-Videos durch sein öffentliches Gefallen unterstützen, ohne sich an das Publikum dieses Videos zu wenden und dessen Begeisterung zu hinterfragen? Wie kann Uçar dem Begleittext des Videos – „Beim Liberalen Extremismus gibt es keine Wahrheit. Darum wird auch der Islam sinnlos.“ – durch sein Gefallen zustimmen? Welche „islamische Wahrheit“ lehrt er denn seinen Studierenden in Osnabrück und den Imamen, die er mit ausbildet? In welcher Weise wird diese Wahrheit durch den Einsatz für Freiheitlichkeit und Meinungsvielfalt gefährdet? Warum unterstützt Uçar den Gedanken einer vermeintlich objektiven islamischen Wahrheit, die sich aus den Werken historischer Gelehrter erschließe? Warum protestiert er nicht öffentlich bei Chizaris angedeuteter Abwertung der mehrheitlich nicht muslimischen deutschen Gesellschaft und Politik? Warum hat er als Hochschullehrer nichts zu sagen, wenn der deutsche Staat als Gefahr für eine vermeintlich objektive islamische Wahrheit markiert wird?
Chizaris-Video hat über den Versuch, meine Person zur Zielscheibe zu machen, hinaus eine viel problematischere öffentliche Zielsetzung. Es untermauert die Vorstellungen junger Muslime, dass Freiheitlichkeit und Meinungsverschiedenheiten als Gefahr für den Islam zu betrachten sind und dass diese Gefahr mindestens genauso ernst ist, wie die Gewalt islamistischer Terroristen.
Wer Verantwortung für die Ausbildung junger Muslime in Fragen des Glaubens trägt, sollte sich nicht an einem Video erfreuen, das den Einsatz für Meinungsfreiheit in der Religion als extremistische Gegenbewegung zum totalitären Extremismus von Mördern beschreibt und letzteren damit verharmlost.
Um ein solches Video mit „gefällt mir“ zu unterstützen, dafür ist die Islamische Theologie an deutschen Universitäten nicht angetreten. Daran sollte sich auch Bülent Uçar wieder erinnern und die in dem Video formulierte und von ihm unterstütze Position zum „Liberalen Extremismus“ und zu einer „objektiven Wahrheit des Islam“ öffentlich erläutern – damit wir Klarheit darüber haben, was er darunter versteht.
Und wir sollten auch erfahren, warum er einen „Guten Morgen“ hat und dabei Bilder tanzender Juden teilt, während Juden ermordet werden. Denn ein solches Verhalten steht nach meiner Erfahrung in muslimischen Gemeinschaften in direktem Zusammenhang mit Vorstellungen von einem einzigen, objektiven Islam.
Und wer bei solchen Taten in Israel seinem hiesigen Publikum mit zynischer Heiterkeit zuzwinkert, gefährdet auch jüdisches Leben in Deutschland. Gerade weil er als „religiöse Autorität“ wahrgenommen wird und als Hochschullehrer und muslimische Person des öffentlichen Lebens prägenden Einfluss auf junge Muslime in Deutschland hat.
Persönliche Schlussbemerkung
Zum Schluss doch noch eine persönliche Bemerkung. Weil ich befürchte, dass dieser Appell zur Diskussion über die Zukunft muslimischer Organisationen, Institutionen und ihren Repräsentanten wieder ungehört verhallt und auch wieder von der deutschen Religionspolitik ignoriert wird.
Ich weiß, dass ihr mir meinen Glauben, mein Muslim-Sein absprecht. Das berührt mich nicht im Geringsten. Aber ich will euch über mein Muslim-Sein aufklären, weil ich glaube, dass ich keine einmalige Entwicklung durchmache. Ich bin nur noch individuell Muslim. Ich praktiziere nicht mehr die kollektive, gemeindliche Dimension meines Glaubens. Ich weiß, dass ihr jetzt frohlockt, weil nach eurer „objektiven“ Islam-Wahrheit bin ich nach drei verpassten Freitagsgebeten kein Muslim mehr. Es ist mir völlig egal.
Ihr seid nicht die Instanz, vor der ich dereinst Rechenschaft ablegen muss. Ich praktiziere meinen Glauben nur noch im privaten, individuellen Gebet. Weil ich es nicht mehr aushalte, Schulter an Schulter mit euch zu beten und gleichzeitig zu wissen, wie ihr Zum Beispiel zu diesen Bildern gedemütigter, verschleppter und ermordeter Menschen steht. Ich bin jetzt 50 Jahre alt. Ich kann das nicht mehr.
Die vielen wunderschönen Erfahrungen, die intensiven Erlebnisse und die innere Rührung, die mein Glaube in all diesen Jahren in mir ausgelöst hat, halten meinen Glauben aufrecht. So Gott will, werde ich als Muslim sterben. Aber ich verweigere mich einer Gemeinschaft, die meinen Glauben immer mehr zerrüttet, ihn mit ihrem aktuellen Zustand immer mehr schwächt, je intensiver ich mich dieser Gemeinschaft aussetze. Mein Gebetsteppich reicht mir. Ich brauche eure Moscheen nicht mehr.
Aber macht euch nichts vor. Viele junge Menschen, die in muslimischen Gemeinschaften immer wieder auf moralische Abgründe treffen, auf „Professoren“ treffen, die diese Abgründe auch noch feiern – sie werden sich von euch abwenden. Sie werden ihren Glauben verlieren oder aufgeben.
Dieser Text ist auch deshalb die Frage an muslimische Organisationen und Repräsentanten: Ist das die Zukunft, die ihr euch wünscht?
Und diese Frage richte ich auch an die Religionspolitik in Deutschland: Was muss noch passieren, wie sichtbar müssen diese Abgründe noch werden, damit sich die politische Strategie im Umgang mit diesen Problemen ändert?
Wir brauchen eine viel (selbst-)kritischere Diskussion darüber, wer in Deutschland mit welchen Inhalten als Imam für hiesige Moscheen arbeitet oder ausgebildet wird und auch, wer sie mit welchen Glaubensvorstellungen und Haltungen ausbildet. Wenn wir das nicht tun, macht es keinen Unterschied, ob die Ausbildung in der Türkei oder in Deutschland stattfindet.
(Anmerkung vom 09.11.2023: Bülent Uçar hat mittlerweile über seinen Facebook Account auf diesen Text reagiert. Seine Stellungnahme ist hier zu finden: https://www.facebook.com/100004987844167/posts/pfbid034vWreC23JyZqWhToqP8YH9EBy8aDkcBKMAJBRaAaDttjXRXQh8feTky8Tdsc5oqAl/?app=fbl
Meine Erwiderung auf seine Stellungnahme ist hier nachzulesen: https://murat-kayman.de/2023/11/09/lieber-buelent/ )