Die mörderische Verteidigung der Männlichkeit

(Dieser Text erschien am 18.07.2022 als Gastbeitrag auf SPIEGEL-ONLINE)

Was steckt hinter islamistischer Gewalt gegen Schwule? Es ist der Hass auf Männer, die ihre Maskulinität aufgeben.

Vor einigen Tagen verübte ein norwegischer Staatsbürger iranischer Herkunft, der 42-jährige Zaniar M., in Oslo einen Anschlag auf einen queeren Nachtclub, einen Jazzclub und einen Imbiss. Zwei Männer wurden getötet und viele weitere Personen teils schwer verletzt. Die norwegischen Ermittlungsbehörden ordneten die Tat als islamistischen Terroranschlag ein. Gleichzeitig wurde berichtet, dass bei dem Täter in der Vergangenheit auch eine psychische Erkrankung festgestellt wurde.

Was steckt hinter islamistischer Gewalt gegen Schwule? In den Primärquellen der islamischen Glaubenswelt existiert kein Verbot homosexueller oder queerer Liebesbeziehungen. Im Gegenteil ist die Geschichte islamischer Gelehrsamkeit und Lyrik reich an (Sekundär-)Texten, die der Liebe und Verbundenheit Raum geben, ohne sich an homosexuellen Beziehungen zu stören.

Es gibt aber Muslime, die sich auf die Lot-Geschichte im Koran beziehen. Diese stimmt in weiten Teilen mit der hebräischen Bibel überein. Lot lebt mit seiner Familie in Sodom, als zwei Engel in männlicher Gestalt auf der Suche nach den letzten Gerechten in der von Sünde und Ausschweifung geprägten Stadt erscheinen. Die Engel finden Zuflucht in Lots Haus. Die Bevölkerung aber fordert ihre Herausgabe – in der Absicht, sie zu missbrauchen.

Was aus der Überlieferung der Lot-Geschichte an Gleichnissen herauszulesen ist, wird heutzutage als Verbot der Homosexualität gedeutet, ohne auf den Kontext von sexuellem Missbrauch und Vergewaltigung einzugehen. Oft genug ist unter Muslimen nicht bekannt (oder es wird verschwiegen oder zwanghaft umgedeutet), dass es Lot selbst ist, der dem Mob von Sodom seine Töchter anbietet, um seine Gäste zu schützen. Diese mittelbar beschriebene Verfügungsmacht des Mannes über die körperliche Integrität der Frau wird in der muslimischen Gemeinschaft seltsamerweise kaum infrage gestellt oder gar geächtet.

Es gilt, diese Verbindung von Männlichkeitsvorstellungen und der eigenen, männlichen Positionierung gegenüber Frauen zu verstehen, um die Homophobie unter Muslimen einordnen zu können. Nur, wenn wir die Misogynie und die Frauenverachtung im kulturellen Kontext muslimischer Gemeinschaften erkennen, können wir dem Hass von Islamisten auf queere Menschen entgegentreten. Zur Stabilisierung eigener, dominanter Männlichkeitsvorstellungen spielt Frauenverachtung eine prägende und tiefreichende Rolle.

Es ist eine verbreitete Ansicht, dass eine muslimische Frau nur in ihrer Beziehung zum Mann Achtung verdient: als Tochter ihres Vaters, als Ehefrau ihres Ehemanns, als Mutter ihrer Kinder, als Schwester ihres Bruders. Der Anspruch des Mannes auf die Frau äußert sich in der Herstellung eines Über- und Unterordnungsverhältnisses, in welchem die Frau keine aus sich heraus zu achtende gesellschaftliche Position einnehmen kann. Ob die islamischen Glaubenstexte eine solche Haltung wirklich stützen, spielt keine Rolle.

Dominierend ist das kulturell tief verankerte Selbstverständnis des Mannes und seine Rolle im Sexualakt: Der Mann ist der fordernde, der aktive, der penetrierende Partner im sexuellen Verkehr. Dabei ist es für das geschlechtliche Selbstbild des Mannes kaum entscheidend, um wen es sich beim passiven Sexualpartner handelt, Mann oder Frau.

Das Selbstbild des heterosexuellen Mannes wird nicht erschüttert, solange er beim Intimkontakt die dominante Rolle übernimmt. Der passive Sexualpartner hingegen gilt in der homosexuellen oder transsexuellen Variante als »verweiblicht«. Und dieser muss vor, während und nach dem Sexualakt auch in der Rolle bleiben, um das Selbstbild des dominanten Mannes zu stabilisieren. Die Verachtung und teilweise der Hass auf queere Menschen und schwule Männer ist im Grunde der Hass auf Männer, die ihre Männlichkeit – aus Sicht der heterosexuellen Männer – freiwillig aufgeben und damit mittelbar die als männlich verstandene aktive, dominante Rolle destabilisieren.

Das lässt sich auch am Auftreten einiger muslimischer Organisationen in Deutschland zeigen. Die Jugendgruppe der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüş (IGMG) in Mannheim etwa tritt hier wiederkehrend in Erscheinung. Sie gehört zu einer von bundesweit etwa 300 IGMG-Moscheegemeinden. Insgesamt erreichen diese etwa 80.000 Jugendliche in Deutschland.

Die Mannheimer IGMG-Jugendgruppe ist besonders sichtbar. So veröffentlichte sie in der Vergangenheit Postings in den Sozialen Medien, um der eigenen Basis ihre Vorstellung von männlicher Überlegenheit zu vermitteln. Unter dem Hashtag »Defendmasculinity« wurde angeprangert, dass Männer zunehmend die eigenen Ehefrauen als »Gebetsrichtung« verstünden, sich also dem Willen der eigenen Ehefrauen unterordneten. Illustriert wurde dies mit dem Bild einer Frau, die einen Mann, der auf allen Vieren geht, wie einen Hund an der Leine führt.

Für die Mannheimer IMGM-Jugend gehört es zum Glauben (»egal ob es gefällt oder nicht gefällt«), dass Islam und Feminismus beziehungsweise die Gleichbehandlung der Geschlechter nicht gemeinsam in einem Herzen Obdach finden könnten. Hinter jeder Feministin, jedem Feministen stehe ein »unzureichender Vater«.

Und es wird auch erklärt, welche »Typologie des Mannes« das »teuflische System« sich wünsche: einen Mann, der seine Frau und Kinder nicht beschützen kann, der sich nicht an sexuellen Ausschweifungen seiner Frau stört und – »am wichtigsten« – der feminin geworden, also »verweiblicht« ist. Das sind die Rollenbilder einer muslimischen Verbandsjugend in Deutschland – Rollenbilder, die von den eigenen Führungsleuten nicht als Problem angesehen werden. Die Bereitschaft, Frauenverachtung hinzunehmen und ihr nicht zu widersprechen, ist hier keine Randerscheinung. Sie reicht bis in die Mitte der muslimischen Bevölkerung in Deutschland.

Vor Kurzem verstarb Mahmut Ustaosmanoğlu, Oberhaupt des sogenannten Ismail Ağa Ordens. Nüchtern betrachtet handelt es sich um eine muslimische Sekte. Ustaosmanoğlu und seine Gruppe waren und sind bekannt für ein frauenfeindliches Religionsverständnis: Frauen sollten nach der Grundschulausbildung von jeder weiteren schulischen Bildung ferngehalten werden, keinen Beruf ausüben, möglichst nicht auf die Straße gehen. Die Rolle der Frau ist nach Ansicht des Ordens darauf beschränkt, eine »ihrem Herrn« gehorsame Ehefrau zu sein und »der Nation und dem Volk Soldaten zu gebären«. Gleichwohl wurde Ustaosmanoğlus Tod von vielen muslimischen Religionsvertretern in Deutschland betrauert.

Mit einem solchen vermeintlich authentischen, tatsächlich aber bigotten Moralverständnis wird dann auch das Schweigen zu frauen- und queerfeindlichen Ansichten in der muslimischen Landschaft gerechtfertigt. Wohingegen es in anderen Kontexten als Pflicht jeden Muslims angesehen wird, sich mit Tat oder zumindest Wort gegen weltliches Unrecht zu stellen, wenn es der eigenen Opferrolle dienlich ist.

Eben dieses viel zu anpassungsfähige Verständnis von Anstand und Moral ist das eigentliche Problem, das viele Muslime daran hindert, Missstände in den eigenen Reihen zu artikulieren und zu beheben. Die Überwindung dieses Zustandes ist keine Frage religiöser Reformen oder exegetischer Anstrengungen im Hinblick auf religiöse Urschriften. Sie ist vielmehr eine soziokulturelle Frage, die die Grenzen des Religiösen oder Ethnischen übersteigt: Wie gehen wir mit Menschen um, die in ihren Meinungen und Handlungen und in ihrer Lebensführung von unseren Vorstellungen abweichen?

Empathie und Mitgefühl sind nicht heterosexuell oder homosexuell, gay, queer oder trans, sondern menschlich. Das Bedürfnis, als gleichwertig behandelt zu werden, ist bei allen Menschen vorhanden. Diese Bedürfnisse gilt es ohne Überlegenheitsvorstellungen zu achten. Das ist eine Forderung, die sich auch, aber nicht nur an muslimische Männer richtet.

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