Es ist der 3. Oktober. Der Tag der Deutschen Einheit. Der Koordinationsrat der Muslime (KRM), ein Zusammenschluss mehrerer muslimischer Dachverbände, feiert am diesjährigen 3. Oktober zum 25. Mal den „Tag der offenen Moschee“ (TOM). Dieses Jubiläum fällt gleichzeitig mit der Erinnerung an 60 Jahre deutsch-türkisches Anwerbeankommen zusammen. Zwei Gründe zu feiern. Könnte man meinen. Ich war seit etwa vier Jahren nicht mehr in der Zentralmoschee des Ditib Bundesverbandes in Köln, wo heute kurz vor 11 Uhr die große „Auftaktveranstaltung“ des 25. TOM begann. Ich überwinde mich für dieses wichtige Datum, für dieses Jubiläum, um nicht aus der Ferne zu urteilen, sondern einen unmittelbaren eigenen Eindruck zu gewinnen.
Das Wetter ist schlecht. Der Himmel ist bedeckt. Es ist kühl und stürmisch. Kein Festtagswetter. Und auch beim Bodenpersonal Gottes kaum heitere Mienen – der Vorsitzende des Ditib Bundesverbandes, Kazim Türkmen, empfängt die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker auf dem Vorplatz vor dem Moscheeeingang. Sie ist neben dem Bezirksbürgermeister offenbar der einzige nicht muslimische Gast. Der größte Zusammenschluss der größten muslimischen Dachverbände feiert das 25-jährige Jubiläum seines TOM – und kaum jemand will mitfeiern. Kein Staatssekretär des BMI, niemand, der für die Deutsche Islam Konferenz zuständig ist, kein Bundespolitiker, kein religionspolitischer Sprecher der Bundestagsfraktionen, kein Integrationsminister des Landes NRW, niemand aus der Landespolitik in NRW, kein Vertreter der Kirchen oder anderer Religionsgemeinschaften.
Ein Kamerateam der ARD-„Tagesschau“ ist auf dem Vorplatz und nimmt Interviews auf. Türkmen ist zwar vor Ort, gibt aber zum Jubiläum in seinem Haus als Gastgeber kein Interview. Stattdessen wird ein Funktionär aus der zweiten Reihe vor die Kamera geschickt. Der erzählt irgendwas von „großer Relevanz des Tages“.
Die Relevanz des Tages nachzuvollziehen, fällt schwer: selbst die eigenen Mitglieder des KRM sind bei einem suchenden Blick durch die Besucherreihen nicht zu entdecken – außer den Vertretern der türkisch geprägten Verbände VIKZ und IGMG ist niemand zu sehen, der die bosnischen, albanischen oder marokkanischen Muslime oder den ZMD vertritt. Die Moderatorin der Auftaktveranstaltung weist darauf hin, dass der aktuelle Sprecher des KRM, Abdassamad El Yazidi, wegen „Terminverschiebungen und Terminkollisionen“ nicht anwesend ist und sein Vorgänger, der VIKZ-Vertreter Erol Pürlü sprechen wird. El Yazidi nimmt am selben Tag an dem Festakt zum Jahrestag der Deutschen Einheit in Halle teil. Der Moderatorin scheint das niemand gesagt zu haben. So entsteht der Eindruck, der Sprecher des KRM sei vom 3. Oktober überrascht worden oder hätte wichtigere Termine, als an „seinem“ Festakt des KRM teilzunehmen.
Im Gebetsraum der großen Zentralmoschee reden nun die Ehrengäste. Würde die Oberbürgermeisterin nicht ein Grußwort sprechen, bliebe es bei einem Selbstgespräch von türkischen Verbandsfunktionären. Die Zahl der Besucher, die sich zur Mittagszeit in die Zentralmoschee verirrt hat, um am Hauptprogramm teilzunehmen, drückt auf die Stimmung – subtrahiert man die bekannten Verbandsvertreter und das eigene Personal der Ditib bleiben großzügig geschätzt vielleicht 25 Personen im riesigen Gebetssaal übrig; inklusive Pressevertretern. Ein Besucher für jedes Jahr des TOM. Nicht nur diese Bilanz ist traurig.
Die gesamte Atmosphäre und die Reden erinnern mehr an eine Trauerfeier als an ein Festtagsjubiläum. Ein Verbandsvertreter berichtet von den Mottos und Themen der zurückliegenden 25 TOMs. Mit einem Elan, mit dem man an vergangene Lebensabschnitte eines Verstorbenen erinnert. Ein anderer Verbandsvertreter erzählt davon, wie er in diesen 25 Jahren bekannten Politikern Tee serviert hat und wie viele Moscheeführungen er begleitet hat. Es klingt so, als ob er guten alten Zeiten nachtrauert, in denen noch ein Glas Tee ausgereicht hat, um Dialog und Verständigung zu simulieren.
Der Ditib Bundesvorsitzende liest seine deutsche Rede vom Blatt ab. Sie klingt so, als ob sie tatsächlich zuerst auf Deutsche geschrieben und ihm danach auf Türkisch übersetzt wurde, um die Freigabe als Rede zu erhalten. Früher wäre sie auf Türkisch verfasst und dann ins Deutsche übersetzt worden. Immerhin ein Fortschritt in 25 Jahren. Er spricht davon, wie wichtig die Moscheen und ihre Arbeit für das Zusammenleben in Deutschland seien und beklagt sich darüber, dass der Wert dieser Arbeit gesellschaftlich nicht genug gewürdigt werde. Fehler machen also immer nur die anderen. Die eigene Arbeit ist bereits auf der Ebene der Perfektion angekommen – und die muslimischen Verbände warten geduldig darauf, dass das Publikum diese Perfektion endlich auch anerkennt. Türkmen betont zum Ende seiner Rede, die Moscheen seien nicht nur die Gotteshäuser der Muslime, sondern auch die Moscheen aller Bürger. Er glaubt sicher daran, dass das schöne Worte sind. Er sagt sie in Anwesenheit einer Oberbürgermeisterin, die er bei der Eröffnung eben genau dieser Zentralmoschee lieber nicht dabeihaben wollte, um die Rede des damaligen Ehrengastes, seines türkischen Staatspräsidenten Erdogan, nicht mit kritischen Untertönen stören zu lassen.
Keiner der Redner lächelt auch nur ein einziges Mal. Selbst die Rede der Oberbürgermeisterin reiht sich ein in den Ton der ihr vorausgegangenen Trauerreden. Sie spricht von Integration und gemeinsamer Verantwortung. Sie dankt für Signale der Solidarität in Zeiten der Pandemie und der Hochwasserkatastrophe. Sie spricht, wie man höflich zu hilfsbereiten Fremden spricht. Und die zuhörenden Verbandsvertreter fühlen sich geschmeichelt. Die Oberbürgermeisterin spricht so, wie eine muslimische Trauergemeinde beim finalen Totengebet – taktvoll aber nicht immer wahr – über den Verstorbenen spricht: „Wir kannten ihn als guten Mann“. Keine einzige Andeutung von Kritik oder Erwartungen für die Zukunft. Sie ist der perfekte Gast auf einer Trauerfeier.
Kurz vor Ende des Hauptprogramms werden zwei Videos auf eine Leinwand projiziert. Müsste man raten: in vollendeter IGMG-Ästhetik. Das zweite Video zeigt in kurzer Abfolge Musliminnen und Muslime, die beschreiben, wie wichtig ihnen die Moschee ist. Sie sprechen so, wie sie vermutlich im wirklichen Leben nicht sprechen würden. Die Glaubhaftigkeit der aller Wahrscheinlichkeit nach einstudierten Wortbeiträge gleicht den wiederholten Bekundungen der Vorredner, Deutschland sei die Heimat der Muslime geworden. Man will das glauben. Aber es wirkt gescriptet.
Das erste Video ist eine Animation. Aber auch sie ist kaum dazu geeignet – dem Wortsinn nach – die ganze Veranstaltung zum Leben zu erwecken. Sie fasst die TOM-Veranstaltungen der muslimischen Verbände aus ihrer eigenen Sicht zusammen: Mehr als 1.000.000. Fragen, mehr als 500.000 Gläser Tee, mehr als 100.000 Baklavas, mehr als 50.000 Moscheeführungen, mehr als 20.000 Ehrenamtler, mehr als 5.000 Medienberichte, mehr als 1.000 Moscheen, mehr als 500 Fortbildungen, mehr als 100 Städte, 25 TOM-Tage, 6 „islamische Religionsgemeinschaften“, 1 Ziel.
Was dieses eine Ziel all die Jahre gewesen ist, wird – passend zur Trauerfeier – in schwarzen Buchstaben eingeblendet: „Kennenlernen“.
Wenn nach 25 Jahren TOM und all diesen Fragen, Gläsern Tee, Baklavas etc. das Image des Islam in Deutschland so schlecht ist, die Meinung über Muslime so negativ ist, der selbst behauptete Status der Verbände in so weite Ferne gerückt ist als je zuvor, wenn nicht mal mehr die eigenen Leute zum 25. Jubiläum eines vermeintlichen Festtages kommen, sollte man damit anfangen, einzuräumen, dass man das Ziel „Kennenlernen“ nicht erreicht hat. Wenn sich Muslime und diese Gesellschaft aber seit 25 Jahren TOM immer noch nicht kennenlernen konnten, sollte man sich eingestehen, dass ein Tag der Offenheit und der Bereitschaft zum Kennenlernen nicht ausreicht, um 364 Tage der selbstgewählten und eifrig konservierten ethnisch-religiösen Fremdheit aufzuwiegen.
Und um im Bild zu bleiben und gleichzeitig zu verdeutlichen, warum die bekundete Beheimatung nicht der wirklichen inneren Haltung entspricht: Wenn eines der tragenden Säulen der muslimischen Verbandsarbeit immer noch die Dienstleistung der Überführung von Leichnamen in die Herkunftsländer ist und die Kundschaft für diese Dienstleistung mittlerweile über die erste Generation der in den Herkunftsländern sozialisierten Muslime hinausgeht, kann man von einer hiesigen Beheimatung der Moscheegemeinden nicht wirklich sprechen. Heimat ist zu Lebzeiten der Ort und sind die Menschen, um die man sich kümmern will, um die man sich sorgt und dort, wo man letztlich auch in Heimaterde liegen will. Alles andere ist nur ein Aufenthaltsort, ein nur körperlicher Lebensmittelpunkt, der als schicksalhafte Prüfung begriffen und häufig genug als trauriges Schicksal erlebt wird.
Wenn Offenheit, Transparenz, Aufrichtigkeit und Glaubwürdigkeit und die Absicht, aktiver, hier beheimateter Teil dieser Gesellschaft werden zu wollen immer nur an einem Tag im Jahr symbolisch zelebriert aber nicht die übrigen 364 Tage vorgelebt wird, bleibt dieser Tag das, als was er sich beim heutigen Jubiläums-Festakt offenbart hat: ein lebloses Alibi, eine Ausrede ohne jegliches Lebenszeichen. Es wird Zeit, diesen Tag der alljährlichen Manifestation des Scheiterns endlich zu beerdigen und durch eine lebendige, tatsächlich offene und ganzjährig hier beheimatete Gemeindewirklichkeit zu ersetzten. Die dazu passende Trauerfeier gab es heute ja schon.