Fragen an deutsche Religionsgemeinschaften

Die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan hat eine Dynamik in die innermuslimische Debatte hier in Deutschland gebracht, die ich bei den ersten Bildern aus Kabul so nicht vorhergesehen habe. Der entsetzte Blick auf Afghanistan schweifte dann immer mehr und irritiert suchend nach Deutschland, als die Stellungnahmen der muslimischen Dachverbände zu den Ereignissen in Kabul ausblieben. Tagelang war und ist bis heute praktische keine offizielle, einordnende, theologische Grenzen ziehende Erklärung der muslimischen Dachverbände wahrzunehmen. Nicht einmal das obligatorische „Das hat alles nichts mit dem Islam zu tun!“ war nicht zu hören oder zu lesen.

Stattdessen häuften sich Stimmen, aus Politik, wissenschaftlicher Lehre und religiösen Bewegungen aus der Türkei, die sich mit Sympathiebekundungen an die Taliban wandten. Es seien keine Gegensätze zwischen der Türkei und den Glaubensvorstellungen der Taliban vorhanden, hieß es von oberster politischer Stelle in der Türkei. Religionsgelehrte und Theologen unterstrichen, dass die Taliban eben jener Rechtsschule der Hanafiten und jener Glaubensschule der Maturiden folgten, die auch für den Großteil der türkischen Muslime als verbindliche religiöse Orientierung erachtet werden. Wie türkische Muslime gehörten auch die Taliban zu den „Leuten der Sunna und der Gemeinschaft“.

Als dann ein Angestellter eines muslimischen Dachverbandes in Deutschland mit einem ähnlichen Posting in den Sozialen Medien auffiel, haben Eren Güvercin und ich dies zum Anlass genommen, diese Nähe konkreter zu hinterfragen. Richtig ist, dass es mit der Türkei und dem Afghanistan der Taliban zwei Gesellschaftsordnungen gibt, die über die identischen Ergebnisse religiöser Jurisprudenz verfügen, diese im gesellschaftlichen Leben aber unterschiedlich anwenden. Richtig ist aber auch, dass die Kongruenz der als legitime religiöse Position begriffenen Ergebnisse historischer Rechtsauslegung und Rechtsfindung ein Einfallstor für radikale religiöse Ansichten darstellt. Diese Nähe ist eben deshalb so problematisch – auch für und in Deutschland.

Diese nüchterne Feststellung von Nähe hat dazu geführt, dass Eren Güvercin und mir Verleumdung vorgeworfen wird. Wir hätten die Aussagen des unter dem Pseudonym „Khan Hanafi“ postenden Verbandstheologen entstellt und missverstanden, er wolle nur eine moralphilosophische Diskussion führen.

Daraufhin habe ich konkrete Nachfragen gestellt, um aufzuklären, ob hier tatsächlich ein Missverständnis vorliegt. Bislang gab es zu den Nachfragen keine weitere Antwort. Die Fragen sind aber deshalb wichtig, weil die Taliban keine moralphilosophische Debatte führen. Sie herrschen über Menschen. Die Ansichten eines Verbandstheologen, der in der „Abteilung für religiöse Wegweisung“ Aufgaben erfüllt, die zumindest den Verbandsmitgliedern als islamisch vorbildliche „Wegweisung“ dienen sollen, trägt Verantwortung dafür, ob sein Verständnis frommer Handlungsweisen eine Nähe zu den Taliban aufweist oder nicht.

Bemerkenswert ist, dass die Verbände unverzüglich sich aufs Schärfste von Tätern distanzieren, die allein oder in kleinen Gruppen Morde begehen, um die Öffentlichkeit zu terrorisieren. Wenn Täter die ganze Bevölkerung eines Landes terrorisieren und unter vermeintlich religiöser Argumentation Menschen ermorden, gibt es indes keinen vergleichbaren Reflex der Verbände. Es ist für uns als Gesellschaft wichtig, zu erfahren, was die Gründe für diese unterschiedlichen Reaktionen sind. Auch hierfür sind die Antworten auf meine folgenden Fragen so wichtig.

Diese Fragen habe ich konkret an den Verbandstheologen „Khan Hanafi“ gestellt. Ich wiederhole diese Fragen nun an die muslimischen Dachverbände gerichtet, die unter dem KRM organisiert sind. Sie erheben teilweise den Anspruch, deutsche Religionsgemeinschaften zu sein. Die deutsche Öffentlichkeit hat einen Anspruch darauf zu erfahren, was ihre Religionsgemeinschaften glauben und wo sie die Grenzen zum Beispiel gegenüber den Taliban ziehen. Die Aussagen, die Anlass zu diesen Nachfragen bieten, stammen immerhin von einem Gelehrten, der zumindest seinen Verbandsmitgliedern religiöse Wegweisung liefert. Welchen Inhalt diese Wegweisung hat, muss uns alle interessieren:

 

Der Verbandstheologe spricht im Kontext der Praktiken der Taliban von „Differenzen in den Wertvorstellungen“.

Meine Fragen an die KRM-Verbände: Gibt es zwischen den Taliban und den Verbandsmitgliedern und zwischen der hiesigen Gesellschaft Differenzen in den Wertvorstellungen? Und was ist damit genau gemeint?

 

Der Verbandstheologe besteht darauf, dass wir den geistigen Kampf der Kulturen nicht leugnen dürfen, weil uns das in den Deismus führt.

Meine Fragen an die KRM-Verbände: Was verstehen Sie unter einem geistigen Kampf der Kulturen? Warum führt seine Leugnung uns in den Deismus? Und wie soll dieser Kampf von Muslimen ausgetragen werden?

 

Der Verbandstheologe hält Begriffe wie Menschenrechte, Frauenrechte, Kunst, Meinungsfreiheit, Kultur für „Schlagworte“. Diese müssten zuerst entsprechend der islamischen Aqida ausgefüllt werden.

Meine Fragen an die KRM-Verbände: Haben die obigen „Schlagworte“ für Muslime nur dann eine Geltung, wenn sie islamisch definiert werden? Warum stellen das Grundgesetz und die entsprechende Rechtsprechung zu diesen „Schlagworten“ keine ausreichend verbindliche „Ausfüllung“ für muslimische Bürger dar? Gilt dieses einschränkende Verständnis auch für den Begriff der Religionsfreiheit?

 

Der Verbandstheologe bedauert, dass die Taliban auch für Praktiken kritisiert werden, die völlig im Mainstream des Islam liegen.

Meine Fragen an die KRM-Verbände: Glauben Sie, dass jedes Auslegungsergebnis, jede Rechtsfindung der historischen hanafitischen Jurisprudenz auch heute noch Anwendung finden darf? Ist der Maßstab, ob etwas mit dem muslimischen Glauben vereinbar ist, die historisch als legitim verstandene Praxis früherer Muslime? Glauben Sie, dass die Taliban eine vorbildliche islamische Staatsordnung schaffen, solange sie sich an die Ergebnisse der klassischen hanafitischen Fiqh halten? Akzeptieren Sie – und mit welcher Begründung – die Anwendung von Körperstrafen als legitime islamische Form der Sanktion auch heute in unserer Gegenwart?

All die Gelehrtenräte, religiösen Beiräte und obersten Religionsräte der Dachverbände werden auf diese konkreten Fragen doch eine verständliche Antwort formulieren können. Oder?