Islam in Deutschland – Die Entwicklung der letzten 5 Jahre – Teil 2

(Aus dem ersten Teil dieses Beitrages vom 03.11.2019: 

Denn es ist natürlich nicht so, dass egal was die Dachverbände tun oder sagen, sie wegen der ablehnenden Haltung der antimuslimischen deutschen Gesellschaft zum Scheitern verurteilt sind – dieses Narrativ diente jahrelang als interne Rechtfertigung für Fehlurteile oder öffentliche Fehler der Verbandsfunktionäre. 

Einige wichtige Meilensteine auf dem Weg der Verbände zu ihrem gegenwärtigen Zustand sollen veranschaulichen, welche Alternativen es gab und zu welchen Konsequenzen das faktische Handeln der Verbände geführt hat.)

Die Armenier-Resolution des Bundestages im Sommer 2016 und die Diskussionen im Vorfeld und im Nachgang zur Abstimmung im Bundestag markieren eine wichtige Entwicklung auf dem Weg der Verbände.

Diese Ereignisse fielen in eine Zeit, in der sich früh abzeichnete, dass es eine historische Entwicklung im Verhältnis des Staates zu den muslimischen Gemeinschaften geben könnte. Diverse religionsverfassungsrechtliche Gutachten zu Statusfragen und gesetzliche Neuordnungen im Bereich des Körperschaftsrechts durften als Signale einer strategischen Veränderung gewertet werden, an deren Ende die Etablierung islamischer Religionsgemeinschaften immer wahrscheinlicher erschien.

Die entscheidende Frage war, ob sich die Dachverbände als selbstbestimmte Religionsgemeinschaften im Sinne des Grundgesetzes verstanden und als solche auch agieren konnten und wollten? Oder handelte es sich bei diesen Dachverbänden um politische Interessenvertreter, die nicht nur die politischen Ansichten ihrer Mitglieder nach außen trugen, sondern auch die politischen Interessen ausländischer Regierungen? Gab es also über die formalen Voraussetzungen hinaus auch die materielle Kooperationsbereitschaft der Dachverbände?

Kooperationsfähigkeit und Kooperationsbereitschaft

Vor dem Hintergrund dieser Fragestellungen fanden die Dachverbände im Zusammenhang mit der Armenier-Resolution keine Haltung, die als Antwort einer Religionsgemeinschaft hätte wahrgenommen werden können. Sie haben in dieser Frage – bis heute – keine Sprache der Versöhnung, keine Rhetorik der Annäherung gefunden. Sie haben keine Formulierungen finden können, mit denen sie Mitgefühl und Verständnis für die Sicht der Betroffenen hätten ausdrücken können. All dies wäre aus Sicht einer Religionsgemeinschaft möglich gewesen, ohne sich in das Feld historischer oder juristischer Meinungsverschiedenheiten zu begeben. Die menschliche Dimension des Leids und des Verlustes hätte in einer universalen Sprache aufgegriffen und thematisiert werden können. Eine Religionsgemeinschaft hätte die Stärke in sich finden müssen, aus den Ereignissen eine Mahnung für die Zukunft und ein angemessenes Gedenken an alle Opfer zu formulieren. 

Die Dachverbände waren dazu nicht fähig und vermutlich auch nicht willens. Einfacher war es, die nationalistische Rhetorik der türkischen Regierung zu übernehmen und die Ereignisse aus einer eindimensionalen Perspektive zu betrachten. Damit wurde ein Dilemma deutlich, das seine Spannung bis zum heutigen Tag fortsetzt: Die Dachverbände waren nicht dazu fähig, eine religiöse Perspektive einzunehmen; sie haben sich nicht als Muslime agiert, sondern als Türken. 

Die Perspektive der nationalen Identität, gestützt durch die Vorstellung von ethnischer Parteilichkeit und Schicksalsgemeinschaft, hat das Verständnis von einer Zugehörigkeit zu einer multiethnischen muslimischen Gemeinschaft überlagert. Ja, mehr noch: bis zum heutigen Tag dauert die Wahrnehmung an und wird durch die neoosmanische Traditionserzählung der türkischen Regierung gefestigt, dass bei den Begriffen „Türke“ und „Muslim“ von einer natürlichen Kongruenz auszugehen sei. Beide Begriffe werden als unverzichtbare Bedingung der Vollständigkeit des jeweils anderen verstanden und proklamiert.

Zuerst Türke, dann Muslim

Wenn aber die Eigenschaft, Muslim zu sein, untrennbar mit einer nationalen und ethnischen Identität verknüpft wird – man also nur dann ein idealtypischer Muslim sein kann, wenn man auch Türke ist und umgekehrt – dann wird der spirituelle Anspruch einer Weltreligion herunter gebrochen zum Instrument der Überhöhung nationalistischer Vorstellungen von einer Volksgemeinschaft, deren Überleben davon abhängt, jede Veränderung dieser nationalen Bezüge zu verhindern. Und hier liegt auch die Widersprüchlichkeit im Umgang mit dem Begriff des „deutschen Islam“ oder des „deutschen Muslim“. 

All jene, die sich aus den Dachverbänden heraus vehement gegen die Möglichkeit einer solchen Begriffsbildung wehren und dies mit der universellen Botschaft des Islam begründen, scheinen dabei eher von der Vorstellung eingenommen zu sein, dass nicht keine, sondern nur ausschließlich eine „Nationalisierung“ des Glaubens zulässig sei, nämlich die türkische. Die Türkei als letzte Festung, als letzte Trutzburg des Islam – dieses Bild existiert in vielen Köpfen innerhalb der Verbände. 

Hierin liegen auch die Ursachen für einen paternalistischen Umgang mit Muslimen nichttürkischer Herkunft und der skeptischen Beobachtung muslimischer Konvertiten in den Binnenstrukturen der Verbände. Selbst jene, die nach außen bei jeder sich bietenden Gelegenheit die „Umma“, die muslimische Einheit, beschwören, bleiben bei kritischen Diskussionen lieber „unter sich“, innerhalb kultureller Zirkel, in denen „man sich kennt“. Dort gilt das Wort eines Türken noch immer als vertrauenswürdiger als das eines Arabers – sogar die kognitive Dissonanz im Hinblick auf den   Offenbarungsinhalt und die Prophetengeschichte vermag dieses nationalistische Weltbild nicht zu erschüttern.

Eine solche mentale Prädisposition macht es nahezu unmöglich, von den Verbänden zu erwarten, dass sie sich in absehbarer Zeit zu zivilgesellschaftlichen Institutionen in Deutschland und für Deutschland entwickeln.

Spionagevorwurf

Ein ähnliches Auseinanderfallen zwischen wahrgenommener Wirklichkeit und der objektiven Realität und damit erneut das fehlende Gespür dafür, was gerade gesellschaftlich geschieht und wie das eigene Handeln darin wirkt, begegnete uns im Zuge der Spionageaffäre um Diyanet-Imame. 

Nach dem Putschversuch im Sommer 2016 in der Türkei erging eine Order der Diyanet an das geistliche Personal im Ausland, Berichte über verdächtige Aktivitäten zu erstatten. Im Dezember 2016 wurde bekannt, dass aus Moscheegemeinden der Ditib eben solche Berichte mit allgemeinen Ausführungen aber auch über namentlich benannte Einzelpersonen nach Ankara erstattet worden waren. Deniz Yücel, der über diese Vorgänge und die Erwähnung der Berichte in Dokumenten des türkischen Parlamentes berichtete, wurde knapp zwei Monate, nachdem sein Artikel in der WELT veröffentlicht wurde, in der Türkei inhaftiert.

Die Gelegenheit, auf diese Krise als Religionsgemeinschaft zu reagieren, hat die Ditib nicht genutzt. Sie konnte nicht erkennen, was das Wichtigste für eine Religionsgemeinschaft ist: ihre Glaubwürdigkeit. Mit jedem Tag des Abwartens ohne konkrete inhaltliche Stellungnahme ist diese Glaubwürdigkeit geschrumpft. Am Ende wurden deutsche Journalisten nach Ankara geflogen, um mit dem Präsidenten der Diyanet über das Thema zu sprechen – dort saß nach dem Selbstverständnis der Ditib der richtige Ansprechpartner. 

Organisation ohne Handlungsautonomie

Eine eigene Haltung zu den Ereignissen, gar aus Sicht einer Religionsgemeinschaft, konnte die Ditib nicht definieren. Denn als solche hätte sie sich von der Order der Diyanet distanzieren müssen. Sie hätte die Aufforderung zur Berichterstattung zurückweisen müssen oder zumindest die erstatteten Berichte deutlich als Fehler bezeichnen und Schritte ankündigen müssen, wie solche Fehler zukünftig vermieden werden. 

Aber dazu hätte die Ditib eine eigene, autonome Entscheidungs- und Handlungskompetenz ausüben müssen. Mit ihrer passiven „Krisenbewältigung“ und dem Warten darauf, was die „große Politik“ für angemessen hält, hat sie sichtbar werden lassen, dass sie eben nicht aus religiösen Grundsätzen heraus selbstbestimmt agieren kann. Sie war und ist nicht in der Lage, aus religiösen Grundsätzen heraus zu definieren, was richtig und was falsch ist.

Sie ist dem Primat des türkischen Regierungshandelns unterworfen und kann dortige Fehler nicht als solche benennen. Denn im Selbstverständnis dieser politischen Autorität gibt es keine Fehler. Und wenn es doch welche gibt, werden diese nicht öffentlich diskutiert. Es gilt in solchen Momenten das Versprechen, dass man sich zu späterer Zeit und damit nicht auf Druck der Öffentlichkeit mit Fehlern beschäftigt. Die Vertagung einer Fehleranalyse ist dann häufig eine endgültige – spätestens mit dem nächsten Fehler ist der erste wieder vergessen. So reiht sich Fehler an Fehler, ohne dass es eine Auseinandersetzung mit den Ursachen geben kann. 

Hinzu kommt eine in ihrer Nachhaltigkeit fast schon faszinierende Realitätsferne bei der Analyse gesellschaftlicher Entwicklungen und Wahrnehmungen. Die Gründe dafür mögen in falschen oder fehlerhaften Übersetzungen liegen – die Sprachbarriere ist in den Entscheidungsmechanismen faktisch noch nicht überwunden – oder in einer reflexhaften Verdrängung realer Umstände. 

Jedenfalls berichtete die Ditib selbst über die Einstellung der Ermittlungsverfahren gegen die Imame, welche Berichte über Gemeindemitglieder erstattet hatten. Wenn man die öffentliche Erklärung der Ditib zu dieser Entwicklung las, konnte man den Eindruck gewinnen, die Verfahren seien nicht bloß eingestellt worden, sondern die Imame seien freigesprochen worden oder es sei gar das Gegenteil des Ermittlungsvorwurfs bewiesen worden. 

Tatsächlich hatte die Generalbundesanwaltschaft die Einstellungsentscheidung aber darauf gestützt, dass der große Teil der Beschuldigten sich im Ausland aufhielt und dass die Beschuldigten selbst gravierende Nachteile zu erwarten gehabt hätten, wären sie der Anordnung ihres Dienstherren zur Berichterstattung nicht gefolgt. Hat der Ditib Bundesvorstand diese Einstellungsgründe nicht richtig verstanden? Sind sie falsch ins Türkische übersetzt worden? Oder hat man diese Fakten schlichtweg ignoriert?

So verfestigte sich jedenfalls der öffentliche Eindruck von aus dem Ausland gesteuerten Imamen in Moscheegemeinden in Deutschland, während die Ditib vermutlich bis heute nicht nachvollziehen kann, weshalb ihr Name nun im Kontext der Spionageabwehr im Verfassungsschutzbericht auftaucht. Auch hier werden ihre Funktionäre wieder fremde Mächte und die Strippenzieher der „großen Politik“ am Werke sehen als sich auch nur einen Moment zu fragen, welchen Anteil ihr Verhalten am gegenwärtigen Ergebnis wohl haben könnte. 

Eröffnung der Moschee

Beide handlungsbestimmenden Faktoren, also die fehlende Autonomie, nach den eigenen Vorstellungen und Bewertungen agieren zu können und die vollständige Verkennung der gesellschaftlichen Wirkung, welche das eigene Verhalten entfaltet, vereinigten sich auf geradezu exemplarische Art und Weise anlässlich der Eröffnung der Zentralmoschee in Köln durch den türkischen Staatspräsidenten Erdogan.

Die Absicht des türkischen Staatspräsidenten war klar und für jeden, der seine Symbolik der Macht begriffen hatte, unmissverständlich. Er wollte mit der Eröffnung seinen Dominanzanspruch über alle türkeistämmigen Muslime in Deutschland demonstrieren. Er wollte vor laufenden Kameras beweisen, dass er mit einem Fingerzeig Tausende mobilisieren kann. Er wollte verdeutlichen, dass die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei nicht nur eine Frage der Außenpolitik beider Länder ist, sondern dass er auch bestimmen kann, was auf deutschen Straßen geschieht, wenn er nur will, dass es geschieht. 

Bei einer solchen Inszenierung politischer Allmacht war Vertretern der deutschen Politik allenfalls eine dekorative Rolle zugedacht – nichts und niemand sollte etwa mit Kritik an Erdogan die Symbolik der Moscheeeröffnung trüben. In dieser Situation kann man zum Verhalten der Ditib nur folgendes sagen: halb zog er sie, halb sank sie hin. Die türkischen Beamten in den Entscheidungsgremien des Ditib Bundesverbandes konnten sich nicht gegen den Willen ihres Dienstherren positionieren. Bei den nicht verbeamteten Funktionären musste man angesichts der eifrig veröffentlichten Selfies mit Erdogan vielfach den Eindruck haben, dass sie sich wohl wünschten, diese zur Schau getragene Macht möge auch ein wenig auf sie und ihr Verbandshandeln abfärben. 

Damit blieb die Symbolik der Moschee mit ihrem Anspruch auf Öffnung, Transparenz und Nähe zur Stadtgesellschaft nur noch in der Architektur des Gebäudes angelegt – tatsächlich verinnerlicht und als gesellschaftliche Verantwortung wurde sie jedenfalls nicht begriffen. Mit der Eröffnung machte die Ditib deutlich, dass diese Moschee ihr allein gehört und sie nicht die Moschee aller Kölnerinnen und Kölner ist.

Konsequenzen des eigenen Handelns

Diese Etappen beschreiben in groben Zügen die wichtigsten Bruchstellen der vergangenen Jahre und damit Ereignisse, die nicht schicksalhaft oder als Werk dunkler Mächte über die Dachverbände hereingebrochen sind, sondern Momente und Gelegenheiten des Handelns, die nicht ergriffen wurden oder auf die man falsch reagiert hat. 

Sie beschreiben damit auch einen Weg in die Selbstisolation der muslimischen Dachverbände, deren Akteure zwischen Überforderung und Ratlosigkeit pendelnd, sich ein gesellschaftspolitisches Feld des Handelns bewahren wollen. Warum dieses Handlungsfeld immer noch mit dem Begriff der „Religionsgemeinschaft“ beschrieben wird, bleibt unklar. 

Denn es waren nicht die Dachverbände, die mit dem Anspruch auf einen solchen verfassungsrechtlichen Status die öffentliche Debatte eröffnet haben. Es war vielmehr die durch den extremistischen Islamismus aufgeschreckte Öffentlichkeit und Politik, die in der wissenschaftlichen Vertiefung islamischer Theologie und der Etablierung eines islamischen Bekenntnisunterrichts an staatlichen Schulen die Möglichkeit der kooperativen Eingemeindung des Islam in Deutschland erkannt hatte. Für diese Kooperation brauchte es aber auf muslimischer Seite Religionsgemeinschaften im Sinne unserer Verfassungsordnung. 

Die Dachverbände waren also keine Inhaber eines verfassungsrechtlichen Anspruchs, den sie in der Debatte bereits ausformuliert und verinnerlicht als gelebte Praxis anbieten konnten. Sie ringen bis heute um eine Antwort auf die staatlich formulierte Frage: „Seid ihr Religionsgemeinschaften?“ – oder um es noch deutlicher zu formulieren: „Wollt ihr Religionsgemeinschaften sein?“

Warum die Dachverbände nach den oben skizzierten und offen zu Tage getretenen Momenten der Unmöglichkeit, Religionsgemeinschaft zu sein, heute immer noch diesen Anspruch artikulieren,  bleibt unklar. Die Verfassungsordnung sieht die Religionsgemeinschaften als wichtige Akteure innerhalb der zivilgesellschaftlichen Strukturen. Sie betrachtet sie als Binnengemeinschaften, die durch ihre Dynamik und die ethischen Ideale, die sie an sich und ihre Mitglieder stellen, zum Funktionieren eines Sozial- und Rechtsstaates unverzichtbare Anteile leisten. Diesen Beitrag will sich der Staat sichern durch die Verleihung von Körperschaftsrechten, mit denen zum Ausdruck kommt, dass diese Zusammenarbeit zwischen Religionsgemeinschaft und Staat zum Wohle aller in der Gesellschaft auf ewig angelegt sein soll. 

Kein Wille zur Religionsgemeinschaft

Die Dachverbände sehen sich aber als nationale Enklaven innerhalb eines Gemeinwesens, über das sie sich nur beschweren können, dem sie sich ausgeliefert wähnen und dem sie alles zutrauen – nur nichts Gutes für Muslime. Sie sehen sich umgeben von einer Gesellschaft, die nicht muslimisch ist und damit auch nicht türkisch. 

Die Gegenüberstellung von „Deutsch“ und „Muslim“ muss immer wieder und ohne Unterlass als verfassungswidrige Vorstellung entlarvt werden. Aber in Wirklichkeit holt dieser vermeintliche Antagonismus die Dachverbände genau dort ab, wo sie die Trennlinie zwischen dieser Gesellschaft und ihrer eigenen Existenz als Muslime ziehen – deutsch ist ihrem Verständnis nach nahezu alles, was einem Muslim aus religiösen Gründen verboten ist. Weil dieser Gegensatz ihnen so kategorisch und unüberwindbar erscheint, haben sie für die Selbstverortung als „deutsche Muslime“ kein Verständnis. Für sie ist diese Selbstbeschreibung immer nur der Ausdruck eines vermeintlichen Minderwertigkeitskomplexes, einer unterstellten Gefallsucht, einer vermuteten Anbiederung an die deutsche und damit zwingend unislamische Gesellschaft. 

Wie man diese Gesellschaft als Heimat empfinden kann, dass man sie aus einem religiösen Motiv heraus zum Wohle aller gemeinsam mit Nichtmuslimen gestalten will, bleibt eine Vorstellung, die sie nicht nachvollziehen können. Sie empfinden sich als eine Art Irrtum des Schicksals – in diese Gesellschaft hineingeworfen, obwohl sie eigentlich in der Türkei leben sollten. Der Mut, diesen Schritt als unmittelbare Konsequenz auch zu vollziehen, fehlt am Ende aber den meisten. Es bleibt nur die Möglichkeit, mit seiner Präsenz hier in Deutschland zu hadern. 

Dabei wird der eigentliche Sinn dieser Existenz darin erkannt, sich so wenig wie möglich von dieser Gesellschaft anzueignen und vielmehr das zu bewahren, was ihnen aus dem Ausland als Versatzstück einer türkisch-muslimischen Identität vorgepredigt wird. Man darf sich also die permanente Unzufriedenheit als Dauerzustand eines verbandlichen Funktionärsgemüts vorstellen.

Entwertung des Islam durch seine Politisierung

Wenn mehr als die Hälfte der Menschen in Deutschland den Islam nicht als Religion wahrnehmen, sondern als Ideologie, dann ist das leider auch die Folge dessen, dass die Dachverbände der Gesellschaft – wie in den obigen Beispielen dargelegt – vielfach keine Religion, sondern eine nationalistische, identitäre Ideologie vorleben.

Und in dieser Ideologie ist kein Platz für Einbrüche der Realität. Sie schafft vielmehr ihre eigene Realität. Eine Realität, die viel deutlicher als unter den Muslimen in Deutschland anhand der Entwicklungen in der Türkei nachvollzogen werden kann. Dort haben die vielen Jahre einer Regierungsmacht, die für sich den Anspruch erhebt, islamisch zu sein, eine massive Erosion des Ansehens von Religion und von allem, was mit islamischen Tugenden verbunden war, bewirkt. 

Eine Realität, in welcher Nepotismus als Ausdruck geschwisterlicher Solidarität verkauft wird. 

Eine Realität, in der nur die Eigenschaft der kritiklosen Unterstützung der eigenen Ideologiesphäre zählt. 

Eine Realität, in der es nicht mehr als haram, also religiös verboten, gilt, andere zu übervorteilen, sich also sprichwörtlich von dem Brot zu ernähren, auf das eigentlich ein anderer Anspruch hat. 

Eine Realität, in der jede rechtliche, ethische und moralische Grenzverletzung mit dem Argument des Einzelfalls relativiert wird, in der Justizia die Augenbinde längst abgenommen hat und sich ihre Waage je nach ideologischer Opportunität neigt. 

Eine Realität, in der ein flexibles Verhältnis zur Wahrheit – selbst vor Gericht – nicht mehr als Verstoß gegen den Wahrhaftigkeitsanspruch eines religiösen Gewissens gilt. 

Eine Realität, die nichts mehr auf Eignung und Befähigung gibt, sondern nur noch die Gefolgschaft als wichtigste Eigenschaft bewertet. 

Eine Realität, in der selbst Straftaten als weniger verwerflich gelten, wenn sich der Täter als Vertreter der eigenen Ideologie präsentiert. 

Eine Realität, die so sehr von der eigenen Betroffenheit eingenommen ist, dass ihr jegliches Einfühlungsvermögen abhanden gekommen ist, diese Betroffenheit auch für die Ausgrenzung und Diskriminierung anderer zu empfinden. 

Eine Realität, in der es nicht mehr zum Kern der Offenbarung gehört, anderen gegenüber gerecht und wahrhaftig zu sein, sondern in der – wie es ein türkisches Sprichwort über religiöse Bigotterie so treffend formuliert – jeder nur sich selbst ein Muslim ist.

Es droht keine Islamisierung

Alle islamkritischen Warner können also beruhigt sein. Es droht keine Islamisierung im Sinne der Ausbreitung des von den Dachverbänden vorgelebten ideologischen oder – wenn man ihn so nennen will – politischen Islam. Die Instrumentalisierung eines islamischen Habitus zur Legitimation eigener ideologischer Deformationen hat dazu geführt, dass insbesondere unter den jungen Menschen der Typus eines konservativen, praktizierenden Muslim im herkömmlichen Sinn nicht mehr zwingend als ethisch-moralisches Vorbild fungiert. In vielen Fällen ist das Gegenteil zu beobachten: angesichts der Zustände in den Binnensphären des politischen Islams denken sich immer mehr junge Muslime: „Wenn das unser Vorbild für eine muslimische Existenz sein soll, dann bin ich kein solcher Muslim und will auch kein solcher Muslim sein!“

Aus dieser Haltung heraus bemühen sich immer mehr junge Muslime darum, die Ideale ihrer religiösen Überzeugung zum Wohle jener Gesellschaft fruchtbar zu machen, in der sie leben. Ganz selbstverständlich leben sie vor, dass der Einsatz für die lokale, diverse Gesellschaft nicht bedeutet, das kulturelle, sprachliche oder traditionelle Erbe ihrer Eltern und Großeltern aufzugeben. Es sind nur unterschiedliche Ebenen und Bereiche des gesellschaftlichen Handelns. 

Wer eine Sprache oder eine Kultur in besonderem Maße pflegen will, dem bieten sich in unserer Rechts- und Gesellschaftsordnung vielfältige Möglichkeiten der Verwirklichung – die Menschen stimmen dann mit den Füßen ab, ob und was ihnen dieses Engagement wert ist.

Als Muslime können wir uns aber mit unserem Einsatz nicht auf eine kulturelle oder ethnische Gemeinschaft beschränken, wenn wir die Umstände, in denen wir leben, für alle verbessern wollen. 

Die Instrumentalisierung des Islam als Werkzeug politischer Macht oder ideologischer Kulturpolitik hat zu einem Ansehensverlust der Religion geführt, die in der türkischen Gesellschaft und der türkeistämmigen Gemeinschaft hier in Deutschland ohne historisches Beispiel ist. Junge Muslime erleben die größten Enttäuschungen im Hinblick auf ihre Erwartungen an eine gemeinschaftlich gelebte Religion ausgerechnet in den muslimischen Dachverbänden. Sie erleben all das, was und wie ein Muslim nicht sein sollte, ausgerechnet in den „Vorbildern“ ihrer verbandlichen Funktionärskaste. 

So bleibt ein Zustand zurück, der für die Zukunft kaum Fortschritte verspricht. Die meisten Moscheegemeinden in Deutschland sind Mitglied einer der Dachverbände. Damit bleiben die Dachverbände zwingend Ansprechpartner des Staates – über sie hinweg kann man keine Religionspolitik gestalten. 

Die Moscheegemeinden sind in finanzieller und faktischer Hinsicht von den Dachverbänden abhängig, auch wenn diese kaum Bedeutung im Hinblick auf religiöse Prägung und Anleitung entfalten – vielerorts kennen Moscheevorstand und Imame ihre eigenen Moscheebesucher nicht, wenn es sich um nichttürkische Muslime handelt. Mit den Dachverbänden lässt sich also auch keine Religionspolitik gestalten, welche in die Basis hineinwirken würde.

Mit eigenen inhaltlichen Impulsen von Seiten der Dachverbände ist im Dialog mit dem Staat oder mit anderen gesellschaftlichen Akteuren kaum etwas zu erwarten. Die Dachverbände werden auf diesem Feld das praktizieren, was sie im Verhältnis zur türkischen Regierung prägt, nämlich die Überzeugung, dass man mit dem Staat nicht streitet. Also werden sie an jeder Veranstaltung und an jedem Gespräch teilnehmen, freundlich lächeln, jede Kontroverse möglichst vermeiden und konkretes Handeln auf den Sankt-Nimmerleins-Tag vertagen. Allein die Bewahrung des Status quo gilt ihnen bereits als Erfolg und damit als Existenzberechtigung. 

Wie in so einem paralysierten Umfeld zivilgesellschaftliches muslimisches Engagement aussehen kann, ist die herausfordernde Frage für die Zukunft muslimischer Präsenz in Deutschland. Mit zukünftigen Beiträgen auf diesem Blog sollen auch Antworten auf diese Fragen gesucht werden.