Islam in Deutschland – ein persönlicher Rückblick und eine Standortbestimmung – Teil 1

(Anmerkung: Der letzte Beitrag auf diesem Blog erschien auf den Tag genau vor einem Jahr. In dieser Zeit ohne aktuelle Beiträge waren fast 260.000 Textaufrufe zu verzeichnen – sollte dieses Interesse unverändert bleiben, wird im kommenden Jahr die Grenze von 1 Million Textaufrufen überschritten werden. Diese anhaltende Neugier auf meine Blogbeiträge hat mich dazu bewogen, nach einem Jahr der Stille wieder mit aktuellen Beiträgen in die Öffentlichkeit zu treten. Gleichzeitig danke ich allen Leserinnen und Lesern, die die hier veröffentlichten Texte mit Interesse verfolgen. Sie haben nun zusätzlich die Gelegenheit, ähnlichen Themen im Podcast unter www.dauernoergler.org zuzuhören. Der Podcast kann auch auf vielen bekannten Plattformen für Audio- und Videoinhalte gefunden werden.)

Ich saß vor dem Fernseher und sah dabei zu, wie Rauchschwaden aus einem der Hochhaustürme quollen. Ich erinnere mich an keinen Ton, nicht an die Stimme des Nachrichtensprechers, der die Livebilder kommentierte. Ich erinnere mich nur an die Bilder. Ich sah, wie ein Flugzeug in den zweiten Turm raste und fast zeitgleich mit der darauf folgenden Explosion ahnte ich, dass sich von nun an die Bedingungen meiner Existenz, die Voraussetzungen meiner Teilhabe an dieser Gesellschaft, in die ich hineingeboren wurde, dramatisch verändern würden.

Nach dem ersten Schock dieser Bilder, nach den furchtbaren Gedanken an das Leid der Opfer in den Flugzeugen und den Türmen folgten die Gedanken daran, was sich jetzt unmittelbar in meinem Leben verändern würde.

Mir wurde in den folgenden Tagen nach diesem Anschlag in New York zunehmend klar, dass das Verständnis von Religion als eine Privatangelegenheit, als reine Gewissensfrage zu einem Ende gekommen war. Religion, genauer der Islam, würde von nun an eine res publica, eine öffentliche Sache sein.

Es stellte sich mir immer drängender die Frage, wie ich mich angesichts dieser gravierenden Veränderung verhalten sollte. Religion war bis in meine Jugend hinein in meinem familiären Umfeld kein manifester, kein direkt prägender Einfluss. Weite Teile meiner Familie in der Türkei, mütterlicherseits und väterlicherseits, waren republikanisch und damit säkular sozialisiert. Der Islam und seine Gebote und Verbote prägten nicht unseren familiären Alltag. Der Islam wurde nicht mittels täglicher Praxis gelebt, sondern war vielmehr Träger eines ethischen und moralischen Ideals.

Seine praktischen Elemente begleiteten uns in Gestalt von Traditionen und Brauchtum durch das Jahr. Wir feierten die religiösen Feste, die Vermittlung der islamischen Glaubensüberzeugung, des Bekenntnisses und seiner wesentlichen Grundlagen waren meinen Eltern wichtig. Der Islam war ein Bezugspunkt aufrechten und aufrichtigen Handelns, Gott eine Instanz der Rechtfertigung gerechten wie ungerechten Tuns und religiöses Wissen eine Quelle, aus der wir das Gefühl hatten, jederzeit schöpfen zu können, wenn wir Geborgenheit, Trost und Orientierung suchten. Ein guter Muslim war für meine Familie jemand, der sich in erster Linie nicht durch religionspraktische Rituale, sondern durch sein Verhalten, durch seine Umgangsformen als solcher erwies.

Manchmal schwang auch etwas Wehmut mit. Das Gefühl, zu wenig zu wissen, zu wenig sich angeeignet zu haben. Religiös konservative Menschen, täglich praktizierende Muslime wurden in dieser frühen Zeit meiner Kindheit sowohl im Rahmen meiner Familie, wie wohl auch im Bewusstsein vieler türkeistämmiger Menschen als besonders achtbare, respektable und vertrauenswürdige Menschen betrachtet. In nur einer Generation sollte sich diese Annahme von Grund auf ändern, ja geradezu in ihr Gegenteil verkehren. Aber dazu später mehr.

Die Islamdebatte als persönliche Herausforderung 

Es stellte sich also die Frage, wie eine persönliche Reaktion auf den gesellschaftlichen Wandel, auf die neue „Islamdebatte“ aussehen könnte. Ein Rückzug ins Private hätte für mich einen Rückzug aus der gesellschaftlichen Debatte bedeutet. Das war für mich keine Option. Am Ende meines Studiums, in der Anfangsphase meines juristischen Referendariats empfand ich eine Bringschuld. Nicht der deutschen Gesellschaft gegenüber, sondern meiner türkeistämmigen, muslimischen Gemeinschaft gegenüber.

Der Wunsch nach schulischem Erfolg, nach beruflichem Aufstieg und damit der Weg zu gesellschaftlicher Akzeptanz hatte sich nicht für jeden aus der zweiten „Gastarbeitergeneration“ erfüllt. Sprachliche Hürden, fehlende Kenntnis über das hiesige Schulsystem, der Mangel an eigener Bildungserfahrung der Elterngeneration und auch institutionelle Benachteiligung führten viel zu häufig dazu, dass junge Menschen um die faire Chance auf gesellschaftlichen Erfolg gebracht wurden.

In der beginnenden Islamdebatte konnte ich oft beobachten, wie diese fehlenden kommunikativen Kompetenzen dazu führten, dass sich ältere Muslime ohne Stimme, ohne Hoffnung auf gesellschaftliches Gehör im diskursiven Abseits wiederfanden. Vielleicht lag es auch an der fachlichen Vorschädigung durch das juristische Studium, aber ich empfand eine Verpflichtung, denen Beistand zu leisten, die in dieser immer schriller werdenden öffentlichen Verhandlung über den Islam permanent unter Anklage standen und mehr oder weniger hilflos nach Worten der Rechtfertigung rangen.

Ich hatte dass Gefühl, mich nicht aus der Debatte stehlen zu dürfen. Und der Islam war mir auch persönlich wichtig. Ich empfand mich als religiösen Menschen und als solcher konnte ich meinen Islam nicht als ausschließlich privaten Ritualglauben ausleben – der Einsatz für das Gemeinwesen, die Sorge um das Allgemeinwohl war ein wichtiger Bestandteil meines Islamverständnisses. Dem durfte ich mich, meinem Empfinden nach, nicht entziehen.

So begann mein gemeindliches Engagement für den Islam und die muslimischen Gemeinden in Deutschland ziemlich genau im Herbst 2001 in meiner Heimatstadt Lübeck. Mir war klar, dass ich nur in der Ditib-Gemeinde in Lübeck ein gemeindliches Zuhause finden konnte. Alle anderen Gemeinschaften waren aus meiner Sicht und mit meinem Erfahrungshintergrund zu ideologisiert. Mir war klar, dass die Ditib-Gemeinde durch die organisatorische Anbindung an die staatliche Religionsbehörde in der Türkei auch einem staatlichen Einfluss unterliegt.

Aber ich habe diesen Einfluss in der damaligen Wahrnehmung nicht als lähmend oder indoktrinierend kennengelernt. Er hatte etwas Bürokratisches, etwas Obrigkeitshöriges. Aber ich habe ihn in seiner damaligen Form auch immer als etwas Öffnendes wahrgenommen: in einer Ditib-Gemeinde war damals jeder willkommen, ohne sich erklären zu müssen. Die Gemeinden habe ich in dieser Zeit als Herbergen empfunden, zu denen jeder Zutritt hatte, der einen Ort der Geborgenheit suchte, in denen nicht gegen andere gehetzt wurde, in denen niemand nach seiner Gesinnung befragt wurde oder sich zu seiner Religionspraxis erklären musste.

Diese damalige Offenheit für Vielfalt war meine Motivation, mich mit meinem Einsatz für diese Gemeinden einzubringen. Ich habe in dieser Zeit die Islamdebatte auch als Möglichkeit, als Gelegenheit empfunden, das Zusammenleben in unserer Gesellschaft trotz aller Diskussionen und auch Streitigkeiten positiv zu beeinflussen. Mein Engagement zog größere Kreise und ging 2009 mit der Etablierung der Ditib Landesverbände von der lokalen Gemeindeebene auf die Landesebene über. Während dieser Zeit hatte ich mein Referendariat beendet, mein zweites juristisches Staatsexamen absolviert und mich als Rechtsanwalt in Lübeck etabliert.

Der Weg nach Köln

Mein Engagement für meine Heimatgemeinde und darüber hinaus auf Landesverbandsebene habe ich in dieser Zeit immer als eine Art Mandat des Gewissens empfunden. Als Rechtsanwalt war ich ein Organ der Rechtspflege. Als Ehrenamtler habe ich mich als Organ der Pflege gesellschaftlichen Friedens verstanden. Das mag in dieser Weise niedergeschrieben pathetisch oder selbstgefällig klingen. Aber das war meine aufrichtige Motivation. Und auch der Grund, warum ich mich 2013 dazu entschloss, meine Kanzlei aufzulösen und ins Hauptamt und damit in den Einsatz für den Ditib Bundesverband zu wechseln.

Ich hatte in dieser Zeit der intensiven Gespräche mit unterschiedlichsten Personen das Gefühl, dass sich ein Fenster öffnet. Dass sich eine Gelegenheit auftut, in der alle relevanten Akteure der Islamdebatte auf gemeindlicher Seite verstanden haben, dass die Pflege des gesellschaftlichen Friedens nur mit der Übernahme von Verantwortung in und für die deutsche Gesellschaft zu bewerkstelligen ist. Ich hatte das Gefühl, dass die Ditib und auch die Diyanet begriffen hatten, dass nun ein inhaltlicher und auch institutioneller Wandel vollzogen werden muss, damit die Gemeindestrukturen sich von einem losen Bündnis einzelner Gemeindeglieder hin zu einem tatsächlichen Verband mit der Selbstbestimmung als Religionsgemeinschaft entwickeln können – und dass damit die Ditib zu einem respektierten, gehörten, wertgeschätzten gesellschaftlichen Akteur wachsen und eine wichtige Rolle im gesellschaftlichen Leben in Deutschland und für Deutschland einnehmen kann.

Bereits nach einem Jahr in Köln musste ich feststellen, dass sich dieses Fenster geschlossen hatte – sollte es je über meine Vorstellung hinaus tatsächlich offen gestanden haben.
Aus einer gewissen Hilflosigkeit heraus habe ich versucht, einen Mandanten in seiner verbandlichen Gestalt offensiv zu verteidigen, der nicht mehr erfolgreich zu verteidigen war.

Aus dieser Zeit stammen viele meiner Texte, deren inhaltliche Auseinandersetzung mit der Islamdebatte ich heute unverändert für notwendig und begründet halte – deren Ton ich aber im Rückblick bedauere. Er sollte in erster Linie dazu dienen, die kritikwürdigen Facetten der sogenannten Islamkritik offen zu legen und sichtbar zu machen. Bewirkt hat er womöglich nur eine Verhärtung der Fronten. Jedenfalls hat er den Blick darauf verstellt, was ich in meiner inhaltlichen Kritik wiederholt zum Ausdruck gebracht habe – nämlich, dass wir es in der Islamdebatte eben nicht mit dem Widerspruch einer aufgeklärten, (islam)kritischen Szene zu tun haben, sondern viel zu häufig mit einer Garde von autoritären Säkularisten, deren Forderungen viel zu häufig ebenso wenig auf dem Boden unserer Verfsassungsordnung stehen, wie der Gegenstand ihrer Kritik, also der „politische Islam“.

Wer sich den Staat als ordnende Hand gegen die Religion herbeiwünscht und mit Verbotsgesetzen religiöse Freiheiten willkürlich gewähren oder verwehren will, ist kein Streiter für Demokratie und Grundgesetz. Und eben auch kein Verfechter einer säkularen Verfassungsordnung, wenn er sich die normative Dominanz des Staates über die Religion herbeisehnt. Unsere Verfassungsordnung hat in dieser Frage des Verhältnisses von Staat zu Religion dezidiert eine andere, eine wesentlich positivere, kooperative Ausrichtung. Mir lag viel daran – und zwar fast mehr als deutscher Verfassungsjurist, denn als Muslim -, diese Diskrepanz und die Möglichkeit einer fruchtbaren Religionspolitik auch öffentlich deutlich zu machen. Mit dieser gedanklichen Auseinandersetzung habe ich den Zerfall auf verbandlicher Seite nicht aufhalten können.

Rasante Rückschritte bei der Statusfrage 

In nur 5 Jahren haben Ditib und mit ihr auch die übrigen KRM-Verbände die Chance auf gesellschaftliche Teilhabe als Religionsgemeinschaften verspielt und jeden Rest an gesellschaftlichem Vertrauen zerschlagen. Nahezu die Hälfte der hiesigen Bevölkerung empfindet den Islam als Bedrohung – mehr als Ideologie, denn als Religion. Die Ditib erscheint namentlich im Verfassungsschutzbericht und wird in den Kontext der Spionageabwehr gestellt. Die Zusammenarbeit mit lokalen Gremien und Funktionsträgern, die Kooperation mit der Politik auf Landes- und auf Bundesebene ist nahezu vollständig zum Erliegen gekommen.

Nicht nur verbandsfremde gesellschaftliche Akteure, sondern – so hat man das Gefühl, wenn man mit der Gemeindebasis spricht – selbst die eigenen Gemeinden versuchen es immer häufiger zu vermeiden, Seite an Seite mit Vertretern der Bundesverbände wahrgenommen zu werden. Sie sorgen sich um das negative Image, das sich wie ein Schatten über ihre lokalen Beziehungen und Errungenschaften legen könnte.

Wie konnte es dazu kommen?

Aus Sicht der Verbände sind die Ursachen klar und eindeutig: Die große Politik hat ein Interesse daran, sich gegen „den Islam“ zu positionieren. Rechtspopulismus bringt Wählerstimmen, also folgen – in der Vorstellung der Verbände – viele Politiker diesem bequemen Weg. Die Presse und die Medien berichten einseitig und verzerrend über den Islam – damit lässt sich Auflage machen. Die Ursachen des eigenen Zerfalls werden stets nur in der Außensphäre lokalisiert. In der Binnensphäre gibt es in dieser Vorstellungswelt keine eignen Defizite.

Schauen wir uns die personelle Wirksamkeit der Spitzenverbände heute an, stellen wir fest, dass zwei Phänomene dominieren: Überforderung und Ratlosigkeit.

Zu den aktuellen Debatten und Herausforderungen sind von verbindlicher Seite keine Inhalte wahrzunehmen, welche die lokalen Gemeinden über die Diskussionen auf Bundes- oder Landesebene informieren könnten. Dass die Führungskräfte in den Verbänden nicht über ausreichende Fachkenntnis zu den religionsverfassungsrechtlichen Fragestellungen verfügen, ist ein offenes Geheimnis – und wird hin und wieder sichtbar, wenn sie sich in den Sozialen Medien zu diesen Themen zu positionieren versuchen.

Erstaunlich ist deshalb, dass in den letzten 5 Jahren die Kompetenzen in diesen Bereichen stetig abgebaut worden sind. Statt dass also neue Kompetenzen in der Riege der höheren Funktionsträger aufgebaut worden wären, schauen wir heute größtenteils in die gleichen Gesichter, die noch aus einer Zeit stammen, als Verbandsarbeit auf Bundes- und Landesebene nichts mit verfassungsrechtlichen Fragestellungen zu tun hatte und Beauftragte für die Öffentlichkeitsarbeit kein Deutsch sprechen mussten. Noch heute müssen für manche Vorstandsmitglieder wichtige Texte zur deutschen Islamdebatte in die jeweilige Muttersprache übersetzt werden.

Die Funktionsträger von gestern wirken in den heutigen Debatten buchstäblich immer mehr wie Funktionslose – sie bauen nichts auf, sie stellen nichts klar, sie wirken nicht in die Gesellschaft hinein. Sie formen eine Personalhierarchie, die sich selbst genug ist und zum größten Teil keinerlei kreative Energie entfaltet – ihr Wirken besteht in kaum mehr als der eigenen Selbstverwaltung.

Vor diesem Hintergrund ist festzustellen und verwundert es nicht, dass sich Spitzenvertreter über die Aussichtslosigkeit ihres gesellschaftlichen Handelns beklagen und sich als muslimischer Sysiphos verstehen. Andere Funktionäre aus der ersten Reihe begnügen sich mit dem Veröffentlich von Sinnsprüchen und Aphorismen, mit denen über Bande muslimische Akteure diskreditiert werden, die es wagen, zu fragen, welchen gesellschaftlichen Zweck die Bundesverbände für ihre Gemeinden überhaupt noch verwirklichen?

Dachverbände nur noch Chronisten der eigenen Befindlichkeit

Das Sich-Beklagen ist zur einzigen öffentlichen Gemütsregung, zur einzigen gesellschaftlichen Funktion  geworden. Man nimmt die Verbände nur noch wahr, wenn es um Gedenktage oder die Nachricht über Anschläge auf Moscheen geht. Die Funktionäre sind zu Chronisten ihrer eigenen Befindlichkeit geworden, ohne dass daraus wenigstens ein Hinweis für die Gemeinden hervorginge, wie sie mit diesen Entwicklungen denn nun umgehen sollen.

Das organisatorische und spirituelle Band zwischen den Gemeinden und den Bundesverbänden ist auf eine bloße Zweckgemeinschaft geschrumpft, welche mehr oder weniger nur noch durch zwei praktische Fragen zusammengehalten wird: Wer bezahlt den Imam? Und: Wem gehört das Moscheegebäude?

Die Gemeinden haben in großer Zahl jahrelang Schulden getilgt, mit denen sie manche der  Dachverbände zu den größten muslimischen Immobilieneigentümern in Deutschland gemacht haben dürften. Im Gegenzug bekommen sie sogenannte Religionsbeauftrage, also Imame, deren Gehalt sie nicht aus der eigenen Vereinskasse zahlen müssen. Dieser darf dann häufig mietfrei oder zu besonderen Konditionen im Gebäude oder in der Nähe des Moscheevereins wohnen. Wer geschickt verhandelt, kann oftmals darauf hoffen, dass der Moscheeverein auch die Telefonkosten in die Türkei oder sonstige Nebenkosten der Wohnung übernimmt.

Solche materiellen Fragen sind dann auch häufig Anlass zu Streitigkeiten zwischen dem Moscheeverein und seinem religiösen „Gastarbeiter“. Das ist dann auch die wesentliche Rolle der Dachverbände im Innenverhältnis zu ihren Mitgliedsgemeinden: sie übernehmen die Rolle des Streitschlichters zwischen Moscheevereinen und ihren Imamen. Eine Schiedsrichterfunktion, die in beide Richtungen über genug Macht verfügt – als Eigentümer des Moscheegebäudes in Richtung des Vereins und mit seinen Kontakten nach Ankara zum Dienstherren der Imame.

Diese rein praktische Funktion der Dachverbände in ihrer jeweiligen Binnensphäre führt dazu, dass es bereits nach Innen keine Übung diskursiver Methoden und Strategien gibt. Die Dachverbände vermitteln keine Überzeugungen, keine daraus resultierenden Handlungsempfehlungen. Sie streiten nicht mit den gemeindlichen Vertretern, ringen nicht um Kompromisse, setzen sich nicht mit Argumenten durch. Autorität entsteht nicht durch die Überzeugungskraft der inhaltlichen Position – sie ist eine durch das Materielle verliehene Macht und bleibt in ihrer Legitimation unhinterfragt.

Gruppenveranstaltungen, welche die vertikale Verbandsstruktur abbilden, verlaufen nach den immer gleichen Mustern: Die „Oberen“ üben sich in Frontalbeschallung der „Niederen“. Thematisch geht es zwingend immer auch um die Beschreibung der Welt als eine feindliche, zumindest jedoch gefährliche, eine islamfeindliche Gesellschaft, von der jeder einzelne Muslim und damit auch die Gemeinden umgeben sind. Dieser permanente Bedrohungszustand erfüllt einen wesentlichen Zweck: allein die bloße Existenz der Dachverbände wird als Erfolg verstanden – das nackte Sein als Aushängeschild für die Richtigkeit des verbandlichen Handelns.

Und in die Gemeinden hinein erzielt dieses Bedrohungsszenario den Zweck der kritiklosen Solidarität – bestehende Abhängigkeiten in der Frage des Immobilieneigentums und der Person des Imams werden nicht weiter hinterfragt, denn in einer so feindlichen Gesellschaft würde jeder Schritt weg von den Verbänden und hin zu einer intensiveren Nähe mit der nichtmuslimischen Gesellschaft einer Desertation im doppelten Sinne gleichkommen: dem Verrat an den muslimischen Dachverbänden und – allein in Feindesland – der Verwüstung der eigenen gemeindlichen Existenzbedingungen.

Aus diesen Gründen können die Dachverbände unter ihren gegenwärtigen Voraussetzungen nicht anders, als sich bloß in der Rolle des Klagenden zu wiederholen. Es ist keine Manifestation des antimuslimischen Vorurteils des ständig beleidigten Muslim, sondern vielmehr eine strategische Notwendigkeit, um die eigene Überforderung mit einer sich wandelnden Gesellschaft und der ebenso im Umbruch befindlichen gemeindlichen Binnenstruktur zu kompensieren.

Die Frage, inwieweit dieses passive Wehklagen überhaupt den Prinzipien der muslimischen Selbstverortung im Kontext des durch die koranische Offenbarung skizzierten Bildes vom Menschen in der Welt entspricht, ist eine Diskussion, auf die man wohl noch lange warten muss – wenn man sie denn als eine von den Verbänden geführte Diskussion erleben will.

Bemerkenswert ist, dass die Verbände in doppelter Hinsicht mit diesem Unvermögen geschlagen sind: So wenig sie über das Jammern und Klagen hinaus positive und konstruktive Handlungsalternativen wahrnehmen können, so unfähig sind sie, zu erkennen, welche Bedeutung ihr eigenes Handeln für die Entwicklung der letzten 5 Jahre und für den gegenwärtigen betrüblichen Zustand hatte.

Denn es ist natürlich nicht so, dass egal was die Dachverbände tun oder sagen, sie wegen der ablehnenden Haltung der antimuslimischen deutschen Gesellschaft zum Scheitern verurteilt sind – dieses Narrativ diente jahrelang, vermutlich unverändert bis heute, als interne Rechtfertigung für Fehlurteile oder öffentliche Fehler der Verbandsfunktionäre.

Einige wichtige Meilensteine auf dem Weg der Verbände zu ihrem gegenwärtigen Zustand sollen veranschaulichen, welche Alternativen es gab und zu welchen Konsequenzen das faktische Handeln der Verbände geführt hat.

– Fortsetzung zu diesem Beitrag demnächst hier auf diesem Blog –