Was ist ein deutscher Islam? – Grundprobleme der Debatte

Die öffentliche Debatte um den Begriff des „deutschen Islam“ ist mit vielerlei Missverständnissen, Irrtümern und Fehlvorstellungen durchsetzt. Viele Stellungnahmen in dieser Debatte sind widersprüchlich oder folgen falschen Annahmen über „den Islam“ oder „die Muslime“. Im folgenden Beitrag sollen einige dieser Phänomene beschrieben werden – ohne Anspruch auf Vollständigkeit und ohne kategorische Disqualifizierung der jeweiligen Vertreter dieser Positionen.

Aber der Schlüssel zu einer sachlicheren und in der gesellschaftlichen Breite fruchtbar wirksameren Debatte ist die konsequente Benennung der gröbsten Irrtümer, die diesen Diskurs im öffentlichen Raum verzerren und teilweise seit Jahren prägen und letztlich verhindern, dass wir voran kommen. Nach der Diskussion über die Grundprobleme der Islamdebatte soll zu einem späteren Zeitpunkt ein weiterer Beitrag folgen, der sich dem „deutschen Islam“ mit dem Versuch einer positiven Begriffsbestimmung nähert.

Die Konstruktion von Feindbildern hilft uns nicht weiter

Seit Beginn der Debatte in Folge der Anschläge in New York 2001 besteht das Gerüst des Diskurses aus Feindmarkierungen. So wie die gewaltbereiten Extremisten Kategorisierungen wie „den Westen“ oder „die Ungläubigen“ als ausgrenzende, delegitimierende Markierung und Feindstigmatisierung verwenden, ist auch unsere Debatte geprägt von Frontlinien, die eine klare Trennung der vermeintlich unvereinbaren Diskurslager bewirken.

Das „Wir“ als das legitime, fortschrittliche, aufgeklärte und allein aus diesem Selbstanspruch heraus auf Diskurshoheit pochende Lager verleiht sich das Label „liberal“ oder „reformorientiert“ und vertraut darauf, dass diese Bezeichnungen ohne substantielle Hinterfragung der konkreten Positionen als etwas Positives wahrgenommen werden, weil umgekehrt die Markierung als „traditionell“ oder „konservativ“ bereits nur noch mit negativen Assoziationen belegt ist. Eine tatsächliche Auseinandersetzung über differenzierte Lebensrealitäten innerhalb dieses Gesamtspektrums findet überhaupt nicht statt.

Es wird ausgeblendet, dass Muslime in vielen Bereichen ihres Lebens durchaus vielfältige, wenn nicht gar diametrale Haltungen aufweisen. So können in Fragen der religiösen Rituale sehr konservative, orthodoxe Muslime eine durchaus offene Haltung in Fragen bireligiöser Ehen oder der gesellschaftlichen Rolle der Frau aufweisen. Ebenso ist es nicht unüblich, dass religiös kaum praktizierende Muslime ausgeprägte patriarchalische Gesellschaftsvorstellungen haben. Ein und derselbe Muslime kann in seiner Lebenswirklichkeit zu unterschiedlichen Fragen divergierende Positionen, von progressiv bis konservativ, einnehmen. Die differenzierte Ausformung höchst individueller Lebensentwürfe wird eingeebnet, ausgeblendet und zu Gunsten einer plakativen Erzählung über „den Muslim“ unterschlagen. Denn die Generalisierung und Vereinfachung erleichtert die Urteilsbildung und damit die Orientierung zwischen den gegensätzlichen Lagern der Debatte.

So profitiert jedes Lager in seinem sozialen Resonanzraum vom Gerücht über das andere Lager. Teilweise wird auch aktiv an der Perpetuierung, also dem Fortbestand und der Weitergabe dieser Gerüchte über den anderen mitgewirkt, weil sie mittelbar die eigene Diskurslegitimation aufrechterhält. Um die Sache streitet sich seit geraumer Zeit aber niemand mehr.

So findet jeder mit seiner Steigerung der Skandalisierung und seiner Eskalation der Aufregung immer wieder Unterstützung im eigenen Lager: Hier der Verbandsvertreter, der „deutsch“ reflexartig nur mit Dingen in Verbindung bringen kann, die Muslimen verboten sind und dort der „liberale Kritiker“, der sein islamisches Überwältigungsszenario in immer absoluteren und immer akuteren Untergangsphantasien zeichnet, damit gerade seine Expertise als existenziell unverzichtbar wahrgenommen wird.

Das alles ist schon seit Jahren keine Diskussion, keine Debatte mehr. Das ist knallhartes Business, das den jeweils anderen dafür braucht, das eigene soziale Kapital in Führungsanspruch, sei es konkret institutionell oder als mediale Meinungsführerschaft, einzuwechseln. Damit kommen wir aber nicht weiter.

Die Opferrhetorik auf beiden Seiten verhindert eine sachliche Debatte

Den Verbandsvertretern wird häufig vorgeworfen, sich hinter einer Opferhaltung zu verstecken und somit einer Debatte um inhaltliche Aspekte aus dem Weg zu gehen. Häufig stimmt dieser Vorwurf auch. Seit Jahren ist aus den Verbänden keine fundierte, inhaltliche Positionierung in der Debatte um den Islam in Deutschland hervorgegangen. Die schriftlichen Beiträge gehen selten über den Umfang eines Tweets oder eines Facebook-Postings hinaus. Wie soll die Zukunft der Verbände und die der Muslime in Deutschland aussehen? Welche Pläne haben die Verbände mit Blick auf die offenen institutionellen Fragen wie Religionsunterricht, Imamausbildung in Deutschland, Eigenfinanzierung der Moscheevereine mit Blick für die sich wandelnde Gemeindedemographie?

Was die Verbandsvertreter zu diesen Fragen denken und wie sie ihre Ideen und Vorstellungen umsetzen wollen, dazu hört und liest man kaum etwas. Das Mitteilungsbedürfnis der Verbandsvertreter wird erst dann lebendig, wenn es um Themen wie Islamfeindlichkeit, antimuslimischen Rassismus und Moscheeanschläge geht. Natürlich sind das wichtige Themen und Probleme, die unser Zusammenleben belasten. Nur, wenn man immer nur zu solchen Themen sich zu äußern bereit ist, wird man letztlich nur als passives Objekt, als Anfeindungsgegenstand, buchstäblich als Fremdkörper wahrgenommen.

Man ist kaum mehr, als der den Stürmen des Schicksals unterworfene, ewig gebeutelte und geplagte, anderen ausgelieferte, hilflose Zuschauer seiner muslimischen Existenz. Das ist gerade aus islamischer Sicht eine problematische Rolle, die dort eingenommen wird. Statt sich als Mitgestalter dieser Gesellschaft mit den individuellen Leistungen und Tugenden einzubringen, verharrt man in der Passivität des Fatalisten, der sich grundlos, ja fast schon als Irrtum des Schicksals in die deutsche Gesellschaft hineingeworfen empfindet. Aus einer Existenz heraus, die nicht aktiv gestaltet sondern nur passiv ertragen wird, kann den nachfolgenden Generationen aber nichts auf den Weg gegeben werden – außer ein monotones Klagelied.

In gleicher Weise verhalten sich die Islamkritiker oder Islamreformer liberalen Anspruchs. Ihre Opferrolle ist die der unterdrückten Meinung, des vermeintlich vermiedenen Diskurses und der angeblich nicht geführten Debatte. Zu lesen und anzuschauen ist dieser Opfergesang seit nunmehr über 15 Jahren in jeder Talkshow, in jedem Printmedium und in den Regalen jeder Buchhandlung. Da hören wir die ständig wiederholte Beschwerde über fehlende gesellschaftliche Unterstützung oder politische Anerkennung, obwohl es gerade diese Positionen sind, die am wirkungsvollsten medial verstärkt und politisch aufgegriffen werden. Sie prägen die Debatte und klagen gleichzeitig darüber, dass es keine gäbe.

Die Vertreter dieser Position übersehen dabei, was der tatsächliche Grund ihrer geringen Effektivität an der muslimischen Basis ist. Sie übersehen, dass sie ständig nur Mängel reklamieren, ohne aber ein konstruktives Angebot an die Masse der Muslime zu machen. Sie sprechen nicht in die muslimischen Gemeinschaften hinein, sondern sie beschweren sich bei Medien und Politik über eine vermeintlich vollständig rückschrittliche, gefährliche muslimische Basis.

Sie weisen darauf hin, dass die Verbände nur eine Minderheit von maximal 20% der Muslime vertreten, können dann aber kaum schlüssig erklären, warum die von ihnen geforderten Reformen notwendig sein sollen, wenn doch eh schon 80 % der Muslime ihre individuelle, selbstbestimmte, mündige, aufgeklärte Rolle in der Gesellschaft gefunden haben. Dieser Widerspruch ist seit Beginn der Debatte ungeklärt geblieben.

Die Protagonisten der Islamkritik tragen häufig das Label „liberal“, ihre Positionen sind aber alles andere als Manifestationen der Freiheit. Im Gegenteil propagieren sie häufig jene Ungleichwertigkeitserzählungen, die begeisterten Anschluss im völkisch rechten Lager finden. Sie reden von kollektiver kultureller Rückständigkeit, von genetischen Degenerationen, von unkontrollierter Triebhaftigkeit, von Hass und Gewalt als Teil religiöser Kultur, sie verwenden Kernaussagen und -begriffe der islamischen Selbstbestimmung als Platzhalter für negative Assoziationen und als Signalbegriffe eines vermeintlich kategorischen Risikos. Sie sehen in einer islamischen Lebensführung bereits die Gefahr einer Eskalation, in der Aneignung traditioneller islamischer Praktiken bereits eine Ablehnung unserer Gesellschaftsordnung.

Es geht ihnen also nicht um eine Diskussion als Impuls für Veränderung. Es geht ihnen stattdessen um Veränderung als Grundbedingung des Diskurses. Wer aber dem Islam nichts Positives abgewinnen kann, wer in ihm kein Potential zum Wohl unserer Gesellschaft erkennen kann und nicht in der Lage ist, dieses Potential zur Entfaltung zu bringen, der wird mit seinen Positionen kein Gehör bei Muslimen finden. So wie den Verbänden eine positive Hinwendung, eine konstruktive Zuneigung zu unserer Gesellschaft fehlt, fehlt es den „liberalen“ Islamkritikern an einer positiven Hinwendung, einer Zuneigung zu den Muslimen in unserer Gesellschaft. Wer nicht erkennen kann, dass er mit seinen Inhalten zum umjubelten Kronzeugen einer antimuslimischen Rechten geworden ist, wird nicht verstehen können, warum sein Anspruch auf reformatorische Ernsthaftigkeit von Muslimen in Zweifel gezogen wird. Unter diesen Bedingungen findet die Islamdebatte keinen Weg heraus aus der Sackgasse.

Muslime sind keine Diaspora

Auch in dem Punkt gesellschaftlicher Selbstverortung ähneln sich die Positionen an den lauten Rändern der Debatte. Die innerhalb der Verbandsstrukturen zunehmenden identitären Prägungen blicken auf ein muslimisches Selbstverständnis, das sich ihrer Ansicht nach nur dann als authentisch muslimisch definieren kann, wenn es gleichzeitig Kriterien nationaler oder ethnischer Zugehörigkeit erfüllt. In diesem Verständnis ist die Selbstverortung als ethnisch und kulturell fremd unmittelbare Voraussetzung für die Selbstbezeichnung als muslimisch. Das heißt, nur wer kompromisslos Türke/Araber ist, kann auch „richtiger Muslim“ sein.

Hier wird also das Narrativ einer unüberwindbaren Fremdheit und implizit auch einer sittlich-ethischen Ungleichwertigkeit aufrechterhalten, mit dem Selbstausgrenzung unter dem Vorwand der kulturellen Identitätsbewahrung betrieben wird. Dies führt zu einer zunehmenden ideologischen Indoktrination der Gemeindebasis und zu einer Instrumentalisierung der Religion als Träger von Kultur und nationaler Tradition. Diese Haltung wird uns in den nächsten Monaten und Jahren in Gestalt einer aggressiven Kulturpolitik zum Beispiel der türkischen Regierung mit Blick auf die türkeistämmigen Muslime in Deutschland begegnen. Ihre Inhalte werden ein Selbstverständnis als nationale Minderheit fördern und die Religion als ein tragendes Element von Fremdheit definieren.

Und genau diese Narrative begegnen uns unter umgekehrten Vorzeichen auch am anderen Rand der Islamdebatte. Auch dort wird eine kollektive Fremdheit allein durch das islamische Glaubensbekenntnis proklamiert. Deutsch wird zum Gegenteil von Muslimisch. Daran ist die gleiche Erzählung von unüberwindlicher Fremdheit geknüpft, welche die Lösung des vermeintlichen Konflikts in einem einseitigen Zugehörigkeitsbekenntnis zu einem der beiden Lager erkennen will.

Für beide Perspektiven gilt: Solange der Bruch mit dem einen Lager nicht ausdrücklich und irreversibel vollzogen wird, bleibt jede Ambivalenz, jede Abweichung von Eindeutigkeit ein Ausdruck von Unglaubwürdigkeit und vermeintlicher Verstellung. Dieses Misstrauen führt dazu, dass wir diskriminierende Auffassungen zu legitimieren bereit sind, weil sie als vermeintliche Gegenwehr gegen eine fremde und gefährliche Überwältigungsgefahr begriffen werden.

Dort wo der identitäre Muslim sich in die nationale Enklave, seine ethnische Wagenburg zurückziehen will, errichten die Islamskeptiker und ihre kritischen Kronzeugen eine Festung des Zwei-Klassen-Rechts, mit dem Muslime an der gleichberechtigten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben faktisch gehindert werden. Wir haben bis 2015 hinein an der Überzeugung festgehalten und diese in ausgrenzende Rechtsnormen gegossen, die in der bloß durch Kleidung sichtbaren Glaubensbekundung von Musliminnen eine Gefahr für unser Zusammenleben erkennen wollte.

Noch heute ist diese Ansicht in unserer Gesellschaft weit verbreitet. Und wir stören uns immer noch nicht daran, diese Haltung als „liberal“ oder „reformorientiert“ zu bezeichnen. Dabei übersehen wir, dass wir unserem Selbstverständnis einer demokratischen, freiheitlichen, pluralistischen Gesellschaft nur dann gerecht werden können, wenn gerade auch die religiös geprägte Lebenswirklichkeit der muslimischen Mitte zur Normalität in unserem Land wird. Und dazu bedarf es nicht in erster Linie einer Reform islamischer Glaubensinhalte, sondern einer Reform unseres Verständnisses von gleichberechtigtem Zusammenleben.

Muslime sind keine Dogmenroboter

In der Islamdebatte wird verkannt, dass auch die kritischen Stimmen in diesem Diskurs, letztlich auch nur Kinder ihrer kulturellen und traditionellen Prägung sind. So fällt kaum jemandem auf, dass die Forderungen der vermeintlich „liberalen“ Stimmen aus dem innermuslimischen Spektrum selbst viel zu häufig den Prägungen folgen, die sie auf Seiten der „konservativen“ oder traditionell geprägten Muslime anprangern. Es sind paternalistische Haltungen, die im Staat selbst den obersten gesellschaftlichen Patriarchen erkennen und diesen dazu auffordern, mit bestimmten Muslimen den Dialog einzustellen, anderen eine größere Geltung zu verschaffen, repressive Maßnahmen zu ergreifen, mit Verbotsnormen in die Lebensweise von Muslimen einzugreifen etc..

Es sind Stellungnahmen, die nicht die muslimischen Gemeinschaften adressieren und diese zum Dialog, oder gern auch zum Disput, auffordern. Es sind vielmehr Beschwerden und Klagen gerichtet an staatliche Institutionen mit dem Ziel, diese zur Ausgrenzung anderer Muslime zu bewegen. In solche Formen gegossene Inhalte können naturgemäß kaum eine Wirkung innerhalb der muslimischen Binnensphären entfalten. Wo der Weg zu den Menschen aber verschlossen bleibt, richtet sich das Augenmerk der Veränderungsbemühungen auf generelle, strukturelle Aspekte. Nur ist auch an diesem Punkt wieder von einer Fehlannahme auszugehen.

Die plakative, kaum differenzierte Natur unserer Islamdebatte hat zur Folge, dass wir allzu leicht bereit sind, Generalisierungen zu akzeptieren. Eine sehr populäre Verallgemeinerung dieses Diskurses ist die Behauptung, Muslime seien im Gegensatz zur Bevölkerung der „westlichen Welt“ in erster Linie keine individuellen Persönlichkeiten, sondern eher kollektiv denkende und handelnde Wesen. Beide Seiten dieser These sind falsch.

Europäische Nichtmuslime sind keineswegs die hochindividualisierten, selbstreflexiven Menschen, die vermeintlich unbeeinflusst von kollektiven Stimmungen und Diskussionen stets auf den Einzelfall bezogene und differenzierte Entscheidungen treffen. Ebenso sind Muslime keine kollektiven Gemeinschaftswesen, die nach Vorgaben der Obrigkeit handeln und unreflektiert, quasi automatisiert religiöse Dogmen verrichten. Es ist eben nicht so, dass Muslime aufgrund der Lektüre ihrer Glaubensschrift plötzlich meinen, dass sie Gewalt auszuüben verpflichtet seien.

Dieser Ansicht scheint aber das gesamte Lager der „Islamreformer“ anzuhängen. Sie beschäftigen sich ausschließlich mit den als problematisch diagnostizierten Stellen der Glaubensschriften und schlagen vor, diese zu verändern. Ändert man den Islam, ändert man die Muslime. Das scheint der reformatorische Glaubenssatz zu sein. Eine solche Haltung verkennt natürlich die hochdifferenzierte, vielfältige Lebenswirklichkeit der Muslime in Deutschland.

Und auch in diesem Punkt berühren sich die Ansichten der Diskursgegner. Es sind ja häufig die Verbandsvertreter selbst, die mit ihren Stellungnahmen die beschriebenen plakativen Ansichten über den Islam und die Muslime befördern. Den Stellungnahmen merkt man immer häufiger an, dass sie unausgereifte, unüberlegte, spontane Äußerungen sind, die einer geistigen Pendelbewegung folgend mal die Stichworte der öffentliche Debatte aufgreifen und zu bestätigen suchen, mal wieder den Irritationen der eigenen Basis eine demonstrative, kontroverse Stimme verleihen wollen.

Sie proklamieren trotzig, es gäbe nur einen Islam aber eben viele Muslime. Das ist nur auf den ersten Blick eine harmlose Simplifizierung. Denn die Rede von „einem“ Islam impliziert den Anspruch auf eine einzige wahre, richtige Deutung des Islam und somit die Berechtigung, darüber entscheiden zu können, wer sich noch innerhalb dieses einen und einzigen Islam bewegt und wer diesen Kreis mit seiner Lebensweise oder seinen Ansichten bereits verlassen hat. Das ist aber ein Exklusivitätsanspruch, der in welcher religiösen Gestalt auch immer noch nie Segen hervorgebracht hat. Das mag auch der Grund dafür sein, dass es innerhalb der islamischen Glaubenswelt keinen irdischen Vertreter für diesen Exklusivitätsanspruch geben kann. Die Autorität über diese Gewissensfragen ist einer jenseitigen Macht übertragen.

Somit geht auch die Frage nach einer Reform ins Leere: Es gibt keine für Muslime letztverbindliche religiöse Institution, die reformiert werden könnte. Es gibt keinen Bedarf für die Umformulierung religiöser Glaubensinhalte, weil nicht diese die Ursache der erlebten Probleme sind.

Das Grundgesetz formuliert keine religiösen Wahrheiten

Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen ist das, was „dem Islam“ von außen oder innen zugeschrieben wird, völlig irrelevant für die Frage, ob die Präsenz von Muslimen in Deutschland zur Normalität werden kann. Denn aus Sicht unserer Verfassungsordnung ist es ohne Belang, ob religiöse Glaubenssätze mit dem Inhalt des Grundgesetzes vereinbar sind. Was eine gute oder was eine schlechte Religion sein mag, dazu äußert sich das Grundgesetz nicht. Mehr noch, es erklärt sich und alle staatlichen Institutionen für inkompetent, eine solche Frage zu beantworten.

Selbst verfassungswidrige Glaubensinhalte genießen den Schutz unserer Verfassung, auch ihnen garantiert unsere Verfassungsordnung die Freiheit der Glaubensüberzeugung. Unsere Verfassung geht sogar noch einen Schritt weiter. In Binnenangelegenheiten gewährt es Religionsgemeinschaften auch Praktiken, die im Widerspruch zu unserem Grundgesetz stehen.

Ausdruck dieser Freiheit ist etwa das kirchliche Arbeitsrecht oder Kriterien der Ämtervergabe innerhalb von Religionsgemeinschaften. Dort gestattet unsere Rechtsordnung auch im Grunde verfassungswidrige Praktiken, sofern diese in einem konkreten Bezug zur Glaubensausübung stehen. Unsere Verfassung legt also keine Maßstäbe an den Inhalt religiöser Überzeugungen an.

Deshalb ist es ein Irrweg oder zumindest eine unpräzise Formuierung, zu fordern, Muslime müssten ihr Verständnis des Islam auf Grundlage unserer Verfassung definieren. Eine solche Haltung stellt unsere Verfassungsordnung auf den Kopf. Sie widerspricht der Grundannahme unserer Verfassung selbst. Denn diese schlussfolgert aus den Erfahrungen der NS-Diktatur, dass keine weltliche Macht über den Freiheiten stehen kann, die unser Grundgesetz unveränderlich festschreibt.

Unsere Verfassung geht davon aus, dass es eine übergeordnete, in die Sphäre des Transzendenten verschobene Kompetenz gibt, die über uns und unser Verhalten richtet. Die Idee, dass der Mensch im Zweifel den Regeln Gottes und nicht den Regeln des Staates folgen soll, ist keine Erfindung extremistischer Muslime. Sie ist tief verankert in den Grundlagen des christlichen Glaubens und den historischen Erfahrungen des Missbrauchs staatlicher Macht gegen das Gewissen, die Freiheit und die Würde des Menschen.

Ein muslimisches Selbstbewusstsein findet sich in diesen Koordinaten des natürlichen und positiven Rechts ohne Schwierigkeiten und ohne das Erfordernis einer wie auch immer gearteten Reform zurecht. Postulate von einer „rechtlichen Integration des Islam“, von einer „Einbürgerung des Islam“, von einer „Integration des Islam in unsere Rechtsordnung“ sind deshalb völlig überflüssig und verkennen nicht nur die Realität islamischer Glaubensauffassungen, sondern gerade auch die Vorgaben und das Wesen unserer Verfassung.

Was es bedeutet, deutscher Muslim zu sein

Die viel spannendere Frage ist die nach der aktiven Förderung unserer Verfassungsordnung. Gehören islamische Glaubensgemeinschaften zu jenen Institutionen unseres Landes, ohne deren geistige und materielle Beiträge der Fortbestand unserer Gesellschaft und unseres Staates nicht mehr gewährleistet wäre? Leisten von Muslimen gegründete und betriebene Organisationen Beiträge, auf die unser Staatswesen und unsere Gesellschaftsordnung unverzichtbar angewiesen ist? Fördern islamische Glaubensgemeinschaften ideell und materiell die in unserer Verfassung verankerten Grundrechte und Freiheiten zum Wohle aller?

An diesen verhaltensbedingten Maßstäben – und nicht an traditionellen Glaubensgrundsätzen – wird sich entscheiden, ob es einen deutschen Islam bereits gibt oder in Zukunft geben kann. Eine Antwort darauf zu finden, obliegt den Muslimen in unserem Land. Sie werden diese Antworten aber nicht formulieren können, ohne zuvor geklärt zu haben, in welcher Rolle, mit welchem Selbstverständnis sie antworten wollen. Es sind Fragen, die sie als deutsche Muslime beantworten müssen. Was das konkret bedeutet, dem soll in einem späteren Beitrag nachgespürt werden.