In Österreich wird ein Kopftuchverbot für muslimische Mädchen an Kindertagesstätten und Grundschulen diskutiert. Jetzt schon melden sich Stimmen zu Wort, die ein solches Vorhaben auch auf weiterführende Schulen und Universitäten ausdehnen wollen. Vermutlich nicht ganz unberührt von diesen Entwicklungen will nun auch das Integrationsministerium in NRW über ein Kopftuchverbot für muslimische Mädchen diskutieren.
Der zuständige Minister Stamp peilt dabei die Grenze der Religionsmündigkeit, also das vollendete 14. Lebensjahr an. Erst ab diesem Alter könne ein Mädchen selbstbestimmt über die Frage entscheiden, ob es ein Kopftuch tragen möchte oder eben auch nicht. Die Integrationsstaatssekretärin Güler findet, es „ist pure Perversion“, „einem jungen Mädchen ein Kopftuch überzustülpen. Das sexualisiert das Kind. Dagegen müssen wir klar Position beziehen.“
Die Diskussion hat mehrere Ebenen. Auf der juristischen Ebene ist es nicht ganz so leicht, eine klare Grenze zu ziehen und diese auch im Zweifel mit staatlichem Zwang durchzusetzen, wie es aus den Worten des Integrationsministers klingt.
Mit der von ihm vertretenen Altersgrenze von 14 Jahren bezieht sich der Integrationsminister auf das Gesetz über die religiöse Kindererziehung (RelKErzG). Dort heißt es in § 5: „Nach Vollendung des vierzehnten Lebensjahrs steht dem Kinde die Entscheidung darüber zu, zu welchem religiösen Bekenntnis es sich halten will. Hat das Kind das zwölfte Lebensjahr vollendet, so kann es nicht gegen seinen Willen in einem anderen Bekenntnis als bisher erzogen werden.“
Zuvor, in §2 und §3, ist geregelt, dass das Kind anzuhören ist, wenn es das zehnte Lebensjahr vollendet hat und in einem anderen Bekenntnis erzogen werden soll als bisher.
Schlussendlich regelt § 7 die Zuständigkeit des Familiengerichts bei Streitigkeiten über diese Normen und stellt ausdrücklich fest, dass dabei ein Einschreiten von Amts wegen nicht stattfindet, es sei denn, dass eine Kindeswohlgefährdung vorliegt.
In Ansehung dieser Regelungen wird deutlich, was das Gesetz überhaupt will. Es will all jene Konflikte auflösen, die im Spannungsverhältnis der Religionsfreiheit und des Erziehungsrechts zwischen den Eltern entstehen können. Gleichzeitig bezieht es die Religionsfreiheit des Kindes in die Würdigung dieser Konflikte und deren Lösung ein.
Solange das Wohl des Kindes nicht gefährdet ist, hat sich der Staat rauszuhalten, wenn Eltern unter sich aushandeln, nach welchem religiösen Bekenntnis ihr gemeinsames Kind erzogen werden soll.
Der Rückgriff auf eine Altersgrenze aus diesem Gesetz offenbart ein sehr problematisches Rechtsverständnis: Im Grunde will das Integrationsministerium in NRW sich in das Gespräch der Eltern darüber, in welchem Bekenntnis ihr Kind erzogen werden soll, miteinschalten und von Amts wegen bestimmen, welche religiöse Erziehung und welche Erziehungsmittel gut für das Kind sind. Das ist eine alarmierende Entwicklung im Verhältnis des Staates zu seinen Bürgern.
Der Staat als drittes Elternteil
Das Bundesverfassungsgericht vertritt die Ansicht, dass in aller Regel den Eltern das Wohl des Kindes mehr am Herzen liegt als irgendeiner anderen Person oder Institution. Es geht davon aus, dass sich die Persönlichkeit des Kindes am besten in einer harmonischen Gemeinschaft mit Mutter und Vater entfaltet und entwickelt. Nur wenn sich diese Annahme konkret als falsch erweist und die Eltern ihrer Fürsorgepflicht nicht nachkommen, darf der Staat mittels abgestuften Maßnahmen in dieses Erziehungsrecht eingreifen.
Dieses Regel-Ausnahme-Prinzip ist auch eine Reaktion auf die im Nationalsozialismus praktizierte staatlich verordnete Gemeinschaftserziehung der Kinder. Aber nicht die einheitliche, von gleichen Vorstellungen und Wertungen des Staates getragene Kindeserziehung garantiert den Fortbestand unserer Gesellschaftsordnung, sondern die Vielfalt der Elternpersönlichkeiten und ihr heterogener Einfluss auf die Entwicklung ihrer Kinder zu individuellen Bürgern innerhalb einer pluralistischen Gemeinschaft von Bürgern.
Die Haltung des Integrationsministeriums in NRW signalisiert aber eine andere Grundannahme. Nämlich die, dass die Erziehung eines muslimischen Mädchens in der Gemeinschaft mit seinen Eltern grundsätzlich eine Kindeswohlgefährdung jedenfalls dann darstellt, wenn es das Tragen eines Kopftuches vor dem 14. Lebensjahr impliziert.
So vielfältig die Motive einer selbstbestimmten erwachsenen Frau zum Tragen eines Kopftuches sind, so unterschiedlich können die Motive der Eltern sein, ihr Kind zum Tragen eines Kopftuches anzuhalten oder es hiervon abzuhalten. Sollte sich eines der Motive in der konkreten Umsetzung in Gestalt einer Erziehungsmaßnahme als Kindeswohlgefährdung herausstellen, bietet das geltende Recht ausreichend Möglichkeiten, mit den dem Familiengericht zur Verfügung stehenden Mitteln und unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes einzugreifen.
Die Gesinnung der Eltern, ihre Moralvorstellungen oder sittlichen Betrachtungen spielen hierbei keine Rolle. Es kommt allein darauf an, ob die Erziehungsmaßnahme eine nachhaltige Störung der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes darstellt.
Vor diesem Hintergrund ist der Vorstoß des Integrationsministeriums in NRW hochproblematisch. Die Äußerungen sind stigmatisierend und abwertend und stehen einer differenzierten Diskussion eher im Weg, als dass sie eine solche initiieren oder fördern.
Selbst die praktische Umsetzung scheint mir mehr Konflikte heraufzubeschwören, als zu lösen: Wenn schon bei Streitigkeiten der Eltern über die religiöse Erziehung des Kindes eine Anhörung des Kindes ab dem 10. Lebensjahr vorgesehen ist, muss dies wohl auch für Eingriffe des Staates in diese Sphäre gelten.
Der Staat als Gesinnungspolizei?
Wollen wir jetzt alle muslimischen Mädchen im Grundschulalter einem gerichtlichen Anhörungsverfahren aussetzen, wenn sie zum Beispiel dem Vorbild der Mutter nacheifern und mit dem Tragen eines Kopftuches in der Schule spielerisch experimentieren? Sollen muslimische Eltern – um nicht den Verlust ihres Sorgerechts zu riskieren – vor Gericht beschwören müssen, dass sie keinen Zwang auf ihr Kind ausüben und es nur ein Kopftuch tragen will, weil die beste Freundin auch eines trägt? Sollen dann auch diese Kinder als Zeugen vorgeladen werden?
Wie formulieren wir ein Gesetz, dass nur das Kopftuch muslimischer Mädchen verbietet? Und wie wollen wir praktisch unterscheiden, ob eine Kopfbedeckung aus religiösen Motiven oder aus profanen „nichtsexualisierenden“ Gründen getragen wird? Wie sehr werden wir uns in einem solchen Staat, der Gesinnungsprüfungen durchführt, wohlfühlen? Solange nur der andersgläubige Nachbar davon betroffen ist?
Und wir können die Debatte nicht als eine verstehen, die sich im diskursiven Vakuum abspielt. Natürlich ist die aktuelle Forderung mit Blick auf muslimische Mädchen von der Vorstellung getragen, dass das Kopftuch grundsätzlich, also auch bei erwachsenen Frauen, als ein Symbol der Unterdrückung zu ächten und aus dem öffentlichen Raum zu verbannen ist. Die Debatte trägt also Züge der kulturhierarchischen Fremdbestimmung von Muslimen durch den Staat, der die Sorge um das Kindeswohl muslimischer Mädchen nur zum Vorwand nimmt, um ein grundsätzliches Werturteil über ein sichtbares Detail muslimischen Lebens zu manifestieren.
Es ist schlimm genug, dass muslimische Mädchen und Frauen mit gesellschaftlicher Ausgrenzung und Diskriminierung zu kämpfen haben, sobald sie durch das Kopftuch „erkennbar“ werden. Am wenigsten hilft ihnen dabei ein Verbotsgesetz, das mit schrillen Tönen der nichtmuslimischen Gesellschaft signalisiert, dass sie mit ihrer Stigmatisierung und Ausgrenzung von Muslimen im Alltagsleben eigentlich ganz richtig liegt.
Kein Anstoß zur Diskussion sondern das Gegenteil
Und was diesen Vorstoß so destruktiv macht: Ja, es gibt einen längst überfälligen Bedarf nach einer kritischen innermuslimischen Diskussion über die Übersexualisierung gesellschaftlicher Beziehungen. Das Kopftuch bei jungen Mädchen ist nur ein Ausdruck einer solchen Entwicklung.
Sie schreitet fort in der Praxis, dass selbst bei nichtreligiösen gemeindlichen oder öffentlichen Veranstaltungen Mädchen und Jungen von klein auf räumlich oder wenigstens durch die Sitzordnung getrennt werden. Sie gipfelt darin, dass auch bei Veranstaltungen für Erwachsene die Sitzordnung für Männer und Frauen getrennt organisiert wird und zwar so, dass häufig auch verheiratete Paare während einer Veranstaltung nicht nebeneinander sitzen können.
Zu einer solchen Debatte gehört auch der Streit darüber, warum die sittlich-moralischen Vorstellungen von Reinheit und Züchtigkeit in der Regel nur gegenüber Mädchen und Frauen als zwingend begriffen werden, wohingegen Jungen und Männern im stillschweigenden gesellschaftlichen Konsens ein großer Spielraum auch für voreheliche sexuelle Erfahrungen gewährt wird.
Zu dieser Diskussion gehört auch die Bigotterie, dass Moralvorstellungen nur auf die eigene muslimische Gemeinschaft begrenzt werden und die nichtmuslimische Gesellschaft gerade mit Blick auf Sexualität als sittlich verroht aber gleichzeitig als legitimer Erfahrungsraum betrachtet wird.
All das müsste man diskutieren. Nur wird es all jenen, die diese Diskussionen nicht führen wollen, durch die stigmatisierenden Äußerungen aus der Politik eben sehr leicht gemacht, sich in die stumme Position des Bevormundeten zurückzuziehen und sich einer gedanklichen Auseinandersetzung zu verweigern.
Etwas mehr sachliche Gelassenheit und ein aufrichtiges Interesse an einem wirklichen Meinungsaustausch wären in dieser Debatte hilfreich: Im iranischen Fernsehen wurde kürzlich während einer Sportsendung über das Champions League-Spiel zwischen Barcelona und Rom das Vereinswappen der römischen Mannschaft in Großaufnahme eingeblendet. Es zeigt die kapitolinische Wölfin, wie sie Romulus und Remus säugt. Das iranische Fernsehen sah sich veranlasst, bei der Nahaufnahme dieses Wappens die Zitzen der Wölfin grafisch unkenntlich zu machen.
Es war ein iranischer Karikaturist, der die Absurdität dieses übersexualisierten Blickes auf die Welt mit einer Zeichnung entlarvte: Es zeigt die verschleierte und kopftuchtragende Wölfin, wie sie die Zwillinge mit Milchflaschen füttert.
Was ich damit sagen will: Der Debatte wird die Möglichkeit einer solchen gelassenen, kritischen, muslimischen Selbstbetrachtung genommen, wenn auf politischer Seite der Ballwechsel mit dem Aufschlag der „Perversion“ begonnen wird und im verfassungswidrigen Verbotsgesetz enden soll.