Wer und was ist „Deutsch“?

Als die ersten Nachrichten über die Amokfahrt in Münster über den Bildschirm liefen, ging mir ein Gedanke durch den Kopf. Vermutlich war das ein Gedanke, der gleichzeitig vielen Muslimen in Deutschland durch den Kopf ging; den sie vielleicht als stille Hoffnung, vielleicht als Stoßgebet formuliert haben: „Lass den Todesfahrer bitte kein Muslim sein!“ Dieser Wunsch schleicht sich ein in die Gedanken. Bei manchen blitzt er vielleicht auch so grell auf, dass er die Sorgen um die Opfer einer solchen Tat verdrängt, sich vor diesen menschlichen Reflex des Mitgefühls zwängt.

Wenn der Fahrer ein Muslim ist, wie soll es einem dann wieder gelingen, die erschrockenen Blicke, die fragenden Gesichter davon zu überzeugen, dass jemandem, der nur Gutes und Schönes aus seiner Religion schöpft, es ebenso unerklärlich ist, dass ein Mörder seine Tat religiös legitimiert. Wie soll man das Unerklärliche erklären? Wie soll man jemanden davon überzeugen, dass nicht in jedem Muslim ein Terrorist schlummert? Denn das ist ja die Sorge, die Angst, die mit jedem weiteren Terroranschlag – egal ob in Deutschland oder sonst wo in der Welt – befeuert wird.

Deshalb saßen in dem gleichen Moment, in dem mich diese Gedanken beschäftigten, andere Menschen vor den Bildschirmen und hatten ihre eigenen Gedanken, die sie als laute Hoffnung, vielleicht als Stoßgebet formuliert haben: „Lass den Todesfahrer bitte einen Muslim sein!“

Das wäre dann endlich wieder ein weiterer Beweis dafür, dass der Islam das Grundübel ist und jeder Muslim ein gewaltbereiter Terrorist, bei dem sich nicht mehr die Frage stellt, ob sondern wann er mit dem Morden beginnt. Dieser Wunsch nach Bestätigung des eigenen Urteils über Muslime ist so wirkmächtig, dass er sich immer deutlicher vor das Leid der Opfer drängt und jedes Mitgefühl und jede Anteilnahme, sogar den letzten Funken Pietät restlos erstickt. Fast hat man das Gefühl, dass die Muslimhasser es begrüßen, dass diese „naiven Gutmenschen“ nun das vermeintlich „wahre Gesicht“ des Islam zu sehen bekommen und für ihre Verweigerung des gleichen antimuslimischen Hasses nun mit dem Tod bestraft werden.

Islam als Gegenerzählung zu Deutschland

Denn das ist ja die Grundannahme der Hassenden: Eine friedliche Existenz als Muslim, gar eine dem Allgemeinwohl dienliche Existenz des Muslim in Deutschland ist nicht möglich. Oder nur eine Ausnahme. Eine auf Zeit erkaufte Ruhe, die den Regelfall nur unbeholfen kaschiert. Der Regelfall ist der gesellschaftsschädliche Muslim. Der gefährliche Muslim. Der in seiner Existenz ausschließlich durch religiöse Dogmen geleitete, auf Verachtung und Auslöschung alles Nichtmuslimischen konditionierte Muslim. In diversen Abstufungen von skeptisch-kritischer Betrachtung des Islam bis hin zu offen rassistischen Narrativen ist dies die mittlerweile bis in die Mitte der Gesellschaft anschlussfähige Erzählung über den Muslim in Deutschland. Jede Gewalttat gilt als Beweis dieser Erzählung. Selbst die millionenfache, tagtägliche muslimische Alltagsnormalität vermag diesen Beweis nicht zu entkräften. Es wird für wahrscheinlicher gehalten, dass dies nicht die friedliche Lebenswirklichkeit, sondern eine millionenfache Verstellung ist.

Damit ist der Islam, ist der Muslim die Gegenerzählung zu Deutschland. Deutschland, das ist immer mehr eine Erzählung, die sich in Abgrenzung zum Islam definiert. Die negative Projektion des Islam dient immer mehr als Abklingbecken, als Gefahrengutlager für alles, was wir in Deutschland nicht sein wollen. Ungleichbehandlung von Frauen, Intoleranz gegen Andersgläubige, Ausgrenzung von Homosexuellen, Antisemitismus – alles, was wir aus dem deutschen Selbstbild tilgen möchten, lagern wir in unsere Wahrnehmung des Islam aus. Nicht, dass es diese Probleme unter Muslimen nicht gäbe, aber darum geht es bei diesem Verdrängungseffekt nicht.

„Vor dem Hintergrund, dass die Tötung von Menschen in unserem Kulturkreis mit einem hohen Tabu belegt ist, ist abzuleiten, dass der Täter hinsichtlich seines Verhaltenssystems weit außerhalb des hiesigen Normen- und Wertesystems verortet ist.“ Das schrieben Ermittlungsbeamte als Rechtfertigung dafür, dass sie die Täter der NSU-Morde im Verwandtenkreis der türkischen Opfer suchten. Das bedeutet: Deutsche morden nicht. So wirkmächtig ist diese Verdrängungsleistung.

Zurück zu Münster. Die Medien ahnen, wer alles mit welchen Gedanken vor den Bildschirmen sitzt. Todesfahrer lenkt Lkw in Menschenmenge. Jeder weiß, welche Annahme, welche Vermutung sofort im Raum schwebt. War es ein islamistischer Terroranschlag? Diese Frage wollen die Medien möglichst schnell beantworten. Als ihnen die ersten Informationen zum Todesfahrer vorliegen, schreiben sie: Täter ist Deutscher!

Damit transportieren sie zwei Botschaften. Eigentlich ist es nur eine Botschaft mit zwei Nuancen: Der Täter ist kein Flüchtling, also kein Muslim. Denn diese Koppelung gehört mittlerweile zu unserer Wahrnehmung, zu den Fertigbausteinen unserer Annahmen. In den Bedrohungsszenarien des rechten Spektrums gibt es keine nichtmuslimischen Flüchtlinge. Wir haben die Religion ethnisiert. Auch das ist ein Teil der gesellschaftlichen Verdrängungsmechanismen. Flüchtling, Marokkaner, Tunesier, Palästinenser, „Nafris“, Türken – all das haben wir in unserer Wahrnehmung verbunden zum „Muslim“. Zum Anhänger einer fremden, vermeintlich simplen Verbotsreligion, attraktiv für schlichte Gemüter und mit Gewalt als eindimensionale Handlungsalternative in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens.

Wir dürfen diese Wahrnehmungsprägungen, die wir in den letzten Jahren durch eine völlig verzerrte Debatte erfahren haben, nicht unterschätzen. Machen wir einen Test: Stellen sie sich vor, zwei Homosexuelle sitzen in einem Flugzeug. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit denken Sie jetzt an zwei Passagiere und nicht an das Cockpit. Und jetzt denken sie vermutlich an zwei Männer und nicht an zwei Frauen als Piloten.

Mehr als nur Staatsangehörigkeit

So verhält es sich mit unserer Wahrnehmung zum Islam. Wenn wir „Flüchtling“ hören, denken wir „Muslim“. Wenn wir „Todesfahrt in Menschenmenge“ hören, denken wir „Muslim“. Und wenn wir diese Annahme korrigieren möchten, weil uns jetzt Informationen vorliegen, die darauf hindeuten, dass der Täter kein Muslim ist, sagen und schreiben wir „Deutscher“.

Denn der Begriff „Deutscher“ transportiert mehr Informationen, als die bloße Staatsangehörigkeit. Dafür haben wir den Begriff des „Passdeutschen“ erfunden. „Passdeutsche“ sind „Deutsche“, die für die Nationalmannschaft spielen, die aber niemand zum Nachbarn haben will. So sagen es uns jene, die sich vor dem Bildschirm wünschen, der Täter möge bitte Muslim sein.

Denn „Deutscher“ ist jemand, der einem Kulturkreis angehört, in dem die Tötung eines Menschen mit einem hohen Tabu belegt ist. Diese Idealvorstellung des deutschen Selbst ist so wirkmächtig, dass es uns gelingt, nach Münster Schlagzeilen wie „Auto rast in Menschenmenge“ zu produzieren. Eine unterbewusste Entpersonalisierung, ja quasi eine „Entdeutschung“ der Tat. Die Auslagerung einer Tat, die wir nicht in Einklang mit unserer Selbstwahrnehmung als „Deutsche“ bringen können.

Wir pflegen damit eine Sprache, mit der und in der es uns zunehmend unmöglich gemacht wird, gleichzeitig „Deutscher“ und „Muslim“ zu sein. Das ist ein Problem. Denn eine solche Sprache entfremdet diese beiden Begriffe und Selbstwahrnehmungen voneinander. Und jede Gewalt beginnt mit Entfremdung.

Die Verantwortung dafür tragen nicht nur Politik und Medien. Aktuelles Beispiel: Die ZDF Nachrichtenredaktion schrieb im Nachgang zu Münster: „Der Zentralrat der Muslime in Deutschland kritisierte die „Doppelstandards“ bei der Einordnung solcher Gewalttaten. „Deutsche Täter sind psychisch gestört – muslimische ‚islamistische‘ Terroristen?“, fragte Zentralratschef Aiman Mazyek am Sonntag im Kurzbotschaftendienst Twitter. „Mit diesem unsäglichen Doppelstandarddiskurs brauchen wir uns nicht wundern, warum Islamphobie stets weiter steigt.“ Damit werde „das Geschäft der Extremisten und Terroristen“ betrieben. Der Blogger Murat Kayman ging in seinem Tweet in eine ähnliche Richtung.“

Aber eben nicht. Ganz entschieden: Nein! Was unsere Richtungen zu ganz unterschiedlichen, ja entgegensetzten macht: Auch Mazyek unterscheidet hier zwischen „deutschen Tätern“ und „muslimischen Tätern“ und beklagt dann deren vermeintliche Ungleichbehandlung.

Über die Behauptung dieser „Doppelstandards“ muss man an anderer Stelle kritisch diskutieren. Das ist ein Thema für sich.

Aber mit seiner Wortwahl zeigt Mazyek bereits, dass er die Gegensätzlichkeit von „Deutsch“ und „Muslim“ verinnerlicht hat. Und er perpetuiert sie in seiner Sprache und seinem Handeln. Das ist nichts anderes als Selbstentfremdung. Und deshalb sind Mazyek und mit ihm die großen muslimischen Verbände, die ebenfalls auf Selbstentfremdung setzen, Auslaufmodelle wenn es darum geht, darüber zu diskutieren, was wir uns für eine gesellschaftliche Zukunft in Deutschland wünschen.

Jene, die reflexartig verinnerlicht haben, dass ein Muslim etwas Fremdes, etwas Nichtdeutsches ist, können uns nichts Fruchtbares mehr sagen, wenn es um unser Zusammenleben geht. Mit solchen Vertretern können wir uns nur noch über die Verwaltung des Fremdseins unterhalten. Und das ist gar nicht mal so unwichtig. Denn es gibt viele Muslime, die sich nicht als Deutsche begreifen und dies auch nicht wollen. Auch mit ihnen muss man sprechen. Aber das sind andere Gespräche, andere Themen.

Unsere Verfassung verspricht uns mit ihrer Freiheits- und Gleichheitsgarantie, dass wir „Deutsche“ mit gleichen Rechten, gleichen Pflichten und gleichen Chancen sind, egal welcher Religion wir angehören. Wir sind aktuell mit unserer Sprache weit davon entfernt, diesem Versprechen Geltung zu verschaffen. Aber unsere Sprache bestimmt unser Denken und unser Handeln. Das zu ändern, ist nicht leicht.

Ich habe das nochmal gespürt, als ich im Gespräch mit Freunden die immense Reaktion auf meinen Tweet näher beschreiben wollte. Die weit überwiegende Mehrheit der Retweets und Gefällt mir-Angaben stammt von ….. „Deutschen“ hätte ich fast gesagt. Ich habe mich dann für die Formulierung „stammt dem Namen nach zu urteilen vermutlich von nichtmuslimischen Deutschen“ entschieden. Das ist umständlich, ungewohnt und fühlt sich holprig an. Aber so ist das wohl in einer sich wandelnden, vielfältigen Gesellschaft, in der alte Begriffe neue Bedeutungen erfahren.

Ich habe die Hoffnung, dass es uns gelingt, in einen Diskurs einzutreten, bei dem alle sich gegenseitig unterstellen, dass jeder sich um die gedeihliche Zukunft unserer Gesellschaft sorgt. Und wenn jeder sich mit seinem unterschiedlichen Verständnis davon, was gut und schön ist, für dieses Ziel einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft einsetzt, dann ist die Chance am größten, dass wir die richtigen Antworten finden.