Selbstkritische Reflexion ist eine der Aufgaben im Ramadan. In dem letzten Freitagswort zum Ende des Ramadan fragen die Autoren: „Wie viele segensreiche Taten haben wir vollbracht, damit die Gesellschaft, in der wir leben, eine bessere und glücklichere ist, als sie es zum Beginn des Ramadan war?“
Diesen Maßstab will ich im Zuge einer ganz persönlichen Ramadan-Bilanz auch an meine Texte auf diesem Blog anlegen. Als ich mit den Veröffentlichungen begann, sollte dieser Blog auch ein Sprachrohr für die Frustration in weiten Teilen der muslimischen Gemeinschaft – insbesondere unter jungen Muslimen – sein. Er sollte eine Plattform sein, auf der sich die Gefühle und Stimmen junger Muslime, denen ich im Laufe der verbandlichen Jugendarbeit begegnet bin und die sich über Ausgrenzung und Stigmatisierung beklagten, einen Weg in die Öffentlichkeit bahnen.
Gerade auch deshalb, damit Frustration und Unzufriedenheit nicht im Stillen gären, sondern eine Stimme finden, die verdeutlicht, dass Enttäuschung verbal ausgedrückt und damit verarbeitet werden kann, ohne dass sie zu einem dauerhaften Zustand gerinnen muss.
Dort wo antimuslimische Polemik gegen die breite Mehrheit der praktizierenden Muslime sich im Gestus der kritischen Analyse tarnte, sollte mit den gleichen rhetorischen Stilmitteln erwidert werden. Insbesondere auch, um der Schärfe, der mangelnden Fairness und dem Stigmatisierungseffekt der sogenannten „Islamkritik“ einen Spiegel vorzuhalten.
Lust am Brachialen
Aber – und auch das gehört zu einer selbstkritischen Analyse – niemand ist gefeit vor Eitelkeit, niemand entgeht seinem „nefs“, der Fehlbarkeit seiner menschlichen Natur. Ich will deshalb nicht verleugnen, dass in der Freude an Zuspitzung, an der Kraft des geschriebenen Wortes auch eine Portion Lust am Brachialen mitschwang.
Man wird vielleicht nicht ohne Grund Rechtsanwalt. Sich Streit zu suchen und diesen dann auch mit geschliffener Klinge zu führen, hat zuweilen etwas Befriedigendes. Ob das die Ursache für eine berufliche Ausrichtung oder ihre praktische Folge ist, mag letztlich dahinstehen. Man wird jedenfalls fast zwangsläufig auch ein Stück weit zum Grenzgänger im tückischen Bereich zwischen professioneller Härte und dem Verstoß gegen das Sachlichkeitsgebot. Es mag mir nicht immer gelungen sein, eine Grenzüberschreitung zu vermeiden. Wer sich in dieser Weise persönlich betroffen fühlt, möge diesen Text auch als Entschuldigung verstehen.
Aber „Ich habe immer Recht!“ gehört halt auch zum selbstbewussten Rüstzeug des beruflich vorgeschädigten, professionell Streitenden. Hilfreich sind in solchen Phasen die Ratschläge von guten Freunden. Ein solcher ist mir nachhaltig in Erinnerung geblieben. Dabei wähle ich die Formulierung „guter Freund“ ganz bewusst. Wir sind uns zwar nie privat begegnet, im Sinne eines Austausches im familiären Umfeld oder eines vertrauten Gesprächs unter vier Augen. Wir hatten stets nur mehr oder weniger beruflich miteinander zu tun. Aber die Mühe, das Bedürfnis, unter nicht unerheblichem Aufwand das Gespräch zu suchen, zu kritisieren und zu hinterfragen, verstehen zu wollen und dennoch bei der Kritik zu bleiben und diese überzeugend zu formulieren, habe ich als einen im Wert unermesslichen, guten Freundschaftsdienst empfunden.
Voneinander lernen
Dass es sich um einen christlichen Freund handelt, erwähne ich in diesem Zusammenhang gern. Meinem – sicher auch meiner Sozialisation im hohen Norden geschuldeten – Hinweis, dass gerade ihm als Protestant doch die Wirkung und der Reiz robuster Rede oder deftiger Kritik nicht fremd seien, entgegnete er mit dem Hinweis, dass diese Beschimpfungstradition auch den Dreißigjährigen Krieg zur Folge hatte. Wenn man geneigt ist, sich in der Rolle des derben Anklägers zu gefallen, sind solche mahnenden Erinnerungen sehr hilfreich. Vielleicht taugen sie ja auch als skeptisches Korrektiv in der öffentlichen, „islamkritischen“ Suche nach einem muslimischen Luther. Sehen Sie, da schimmert er wieder durch, der streitlustige Polemiker in mir.
Diesem guten christlichen Freund sei an dieser Stelle nochmals ausdrücklich gedankt. Namen sind nicht erforderlich. Sollte er diesen Text lesen, wird er sich wiedererkennen.
Ich erwähne die religiöse Komponente auch deshalb, weil sie für mich den großen Segen widerspiegelt, den unsere Lebenswirklichkeit in einer multireligiösen Gesellschaft für jeden von uns bereithält. Wenn wir es richtig anstellen und bereit sind, uns zu öffnen, können wir von unseren Unterschieden lernen, können unsere unterschiedlichen Perspektiven und Erfahrungen uns gegenseitig reifen lassen. Denn auch ich bilde mir ein, über eine nicht unerhebliche Zeit hinweg gerade als Muslim, gerade mit den Gedanken und Perspektiven eines muslimischen Freundes den Blick anderer erweitert oder geschärft zu haben – aus deren Kreis mich letztlich dann der geschilderte Freundschaftsdienst erreicht hat.
Kategorischer Destruktiv
Ich bilde mir auch ein, dass danach meine Texte – vielleicht nur in kleinen Schritten aber doch merklich – „ruhiger“ geworden sind. Sachlicher, nüchterner. Weniger aus dem Impuls des für seinen Mandanten streitenden Anwaltes geschrieben. Mehr von dem Wunsch getragen, den Blick aller Leserinnen und Leser auf dringliche Probleme und Missstände zu richten. Der Versuch, durch Ausgewogenheit auch in der Stimmung mehr Gelassenheit zum Ausdruck zu bringen und gleichzeitig differenziert unterschiedliche Aspekte einer Thematik zu besprechen, hatte einen interessanten Effekt: Die Kritik an meinen Texten hat von allen Seiten erheblich zugenommen.
Ich erkläre mir diesen Effekt mit einem insgesamt gesteigerten Empörungstrend in der Rezension öffentlicher Debatten. Sowohl innermuslimisch, als auch bei der (vermutet) nichtmuslimischen Leserschaft reicht eine missliebige Formulierung, ja buchstäblich ein abgelehntes Wort, um einen gesamten Text und die darin enthaltenen differenzierten Positionen kategorisch abzuurteilen.
Im Ergebnis decke ich mittlerweile im Meinungsbild meiner Leserschaft – das erkenne ich an den Reaktionen auf meine Texte – ein breites Spektrum des Bösen ab: Ich schaffe es momentan, mit einem einzigen Text gleichzeitig den Preis in den Kategorien „Erdoğan-Falke“ aka „türkischer Staatsterrorist“ und „deutscher Agent“ aka „pseudotürkischer Verräter“ abzuräumen.
Das Vorhaben, durch kritische Reflexion fruchtbare Debatten anzustoßen, erscheint im Lichte dieser Erfahrung kaum realisierbar. Gerade auch deshalb, weil in der innermuslimischen Sphäre faktisch keine Kultur der Anerkennung konstruktiver Gegenrede mehr existiert. Gegenrede, Widerspruch, Kritik werden stets und ausschließlich als destruktive Anmaßungen verstanden. Und damit ist die gesamte muslimische Landschaft von „liberal“ bis „konservativ“ gemeint. Da nehmen sich die als Gegenpole wahrgenommenen Fraktionen der innerislamischen Debatte überhaupt nichts.
Zuletzt ist das bei der alles andere als liberalen Empörungswelle der Kölner Friedensmarschorganisatoren deutlich geworden. Eine selbstkritische Debatte darüber, warum man an der Herausforderung einer breiten muslimischen Demonstration gescheitert ist? Fehlanzeige. Stattdessen eine im Ton der sonst gern kritisierten Großverbände formulierte Schuldzuweisung an alle anderen außer sich selbst. Klassische Opferrhetorik eben.
Undifferenzierter Ablehnungsreflex
Frappierend bewusst geworden ist mir dieser Zustand faktischer Unfähigkeit zur selbstkritischen Analyse bei den Reaktionen auf meine Kritik an Jakob Augsteins „Onkel-Tom-Türken“ Vergleich. Die gedankliche Auseinandersetzung mit diesem Vergleich ist auf Platz 1 meiner am meisten aufgerufenen Blogtexte gestiegen. Entsprechend heftig waren die Reaktionen aus der muslimischen Gemeinschaft.
Da war ich wieder, der Antitürke, der Verräter, der Gefallen daran findet, den einzigen Journalisten zu kritisieren, der „uns verteidigt“. Was der Inhalt meiner Kritik ist, welche Differenzierung vorgenommen wird, all das ist nicht von Interesse. Ich gehe sogar so weit zu behaupten, dass diese Differenzierung nicht mehr wahrgenommen wird. Das Gefühl, dass es da jemanden gibt, der nicht hundertprozentig die eigene Auffassung vertritt, reicht zu seiner reflexhaften und uneingeschränkten Verdammung aus.
All das sage ich nicht aus einer Kränkung oder Enttäuschung heraus. Es sind ja Manifestationen eben jener Zustände, die ich seit längerer Zeit thematisiere: Die Unfähigkeit muslimischer Strukturen, die eigene Wirkung und die gesellschaftliche Stimmung wahrzunehmen, inhaltliche Debatten zu führen, Kritik als konstruktiv zu begreifen, öffentliche Diskurse zu gestalten und auch auszuhalten.
Beispielhafter Moment
Ein letztes und jüngstes Beispiel: Ich war am vergangenen Sonntag beim Feiertagsgebet in einer Kölner Moschee. Wenige Minuten vor Beginn des eigentlichen Ritualgebets sprach der Imam zu der versammelten Gemeinde, die den Gebetssaal bis vor die Tore der Moschee füllte. Es waren die häufig gehörten, üblichen, fast schon vorhersagbaren Formulierungen, die aber zu den jeweiligen Feiertagen irgendwie auch dazugehören und vertraut wirken.
Dann allerdings sagte er etwas Außergewöhnliches. Etwas Unerwartetes, das die übliche Routine durchbrach. Ich hatte den Eindruck, dass er nicht vom Manuskript ablas, sondern frei sprach, sich von Herzen an die Gemeinde wendete: „Ihr alle habt großen Anteil daran, dass diese Moschee errichtet werden konnte. Ihr habt mit euren Spenden und euren Gebeten zur Fertigstellung dieses Gotteshauses beigetragen. Unser Dank gebührt euch. Aber mindestens ebenso großen Anteil haben die vielen nichtmuslimischen Menschen in Deutschland, unsere Nachbarn und die vielen Menschen aus Politik und Gesellschaft, die sich für den Bau dieser Moschee eingesetzt haben, die uns geholfen haben, viele Hindernisse zu überwinden und die mit dieser Unterstützung mindestens ebenso großen Anteil daran haben, dass wir heute in dieser großen Zahl hier versammelt sind und in einem wunderschönen Raum unser Feiertagsgebet verrichten können. Auch diesen vielen Menschen gebührt unser Dank. Ihre Namen werden für immer in unsere Gebete eingeschlossen sein, die wir hier an diesem Ort verrichten.“ Sinngemäß waren das seine Worte.
Es war ein ergreifender Moment, in welchem das Versprechen nach Transparenz und Öffnung einer muslimischen Gemeinde seine eigene Sprache fand, konkret erlebbar wurde, Wirklichkeit wurde.
Dieser Moment ist ungehört verhallt. Nur die Anwesenden haben ihn erlebt. Er taucht sonst nirgends auf. Einen deutschsprachigen Bericht über dieses Feiertagsgebet gibt es auch nach drei Tagen nicht. Dieser Moment der Verbindung nach außen, dieser Augenblick, als ein Moscheesaal sich sinnbildlich öffnet und mit der Stadt, in der er sich befindet, zusammenrückt, ist nirgends festgehalten – so als hätte es ihn nie gegeben. Dieser Moment ist schlichtweg in seiner Bedeutung und Wirkung nicht erkannt worden.
Genau das ist es, was ich in früheren Texten meine, wenn ich über kommunikatives Unvermögen spreche. Wenn ich darauf hinweise, dass es am Gespür dafür fehlt, in welcher Gesellschaft man lebt und welche Wirkung man in ihr hat.
Versalzene Äcker
Und die Erfahrung der letzten Texte zeigt mir, dass auch dieser Hinweis wieder nur Empörung auslösen wird. Er wird nicht als Verbesserungsvorschlag wohlwollend aufgenommen werden. Er wird nicht als konstruktiver Fingerzeig verstanden werden. Er wird wieder nur als Beweis für vermeintliche Niedertracht und böse Absichten zitiert werden. Selbst die Tatsache, dass gerade dieser Hinweis den verlorenen Moment quasi wiederbelebt und hier einem größeren Publikum zugänglich macht, wird nicht als positive Absicht, nicht als hilfreiche Kritik verstanden werden.
Man kommt nicht umhin, sich einzugestehen, dass es – zumindest momentan – unmöglich ist, durch öffentliche Debatte, durch Kritik und Diskussion eine Verbesserung organisierter muslimischer Strukturen zu bewirken. Der kommunikative Acker ist durch Misstrauen derart versalzen, dass darauf keine Frucht der Fortentwicklung gedeiht. Man traut allen alles zu, nur nichts Gutes.
Damit komme ich zurück an den Anfang dieses Textes. Sind die hier mitlesenden Muslime durch die Texte auf diesem Blog in einem besseren und glücklicheren Zustand, als zu Beginn des Ramadan? Wenn ich die Reaktionen auf meine Texte betrachte, habe ich das Gefühl, dass sie es nicht sind. Wenn ich mir diese Tatsache aber eingestehe, muss ich daraus folgern, dass das bisherige Mittel meiner Wahl, die muslimische Gemeinschaft durch das geschriebene Wort, durch Ideen, Gedanken, Kritik und Diskussion zum Besseren zu beeinflussen, nicht wirksam ist. Die Verantwortung dafür muss ich bei mir suchen, wenn ich die Botschaft des Ramadan ernst nehme.
Ein Abschied – und ein Versprechen
Also muss ich die Mittel verändern, derer ich mich bediene. Ich kann den Stein, der mir zu Füßen liegt, nicht ignorieren. Ich kann mich nicht überfordert abwenden, wie es manche nur zu gern tun würden. Ich muss einen anderen Weg finden, diesen Stein, diesen Felsen, den Gipfel hinaufzurollen.
Wenn es nicht durch das Wort gelingt, ist dies vielleicht ein Zeichen dafür, dass die Tat wirksamer sein könnte. Meine Energie und Zeit wird in Zukunft weniger, insbesondere aber inhaltlich anders in diesen Blog fließen. Es wird um andere Themen gehen, als den Zustand der organisierten muslimischen Strukturen. Um diese mögen sich fortan jene kümmern, auf die sie „grundbuchlich eingetragen“ sind – wie es Tucholsky einmal in anderem Zusammenhang formulierte.
Es gibt bereits konkrete Vorstellungen, wie ein neuer Ansatz aussehen kann. Es gibt erste Schritte in eine neue tatkräftige Zukunft. Es gibt Mitstreiter, die aus ähnlichen Erfahrungen die gleichen Schlussfolgerungen ziehen. Deshalb bin ich zuversichtlich, dass – so Allah will – bald auf diesem Blog neue Themen, neue Nachrichten und neue Aktivitäten vorgestellt und besprochen werden.
Ja, dieser Text ist ein thematischer Abschied. Aber er ist auch ein Versprechen auf mehr – oder wie es ein andalusisches Sprichwort sagt: „Die kleinste Biene sammelt täglich mehr Honig als der Elefant in einem Jahr.“