Durchatmen. Anschläge, Wutreden, Demonstrationsaufrufe, demonstrative Absagen, Erwartungen, Enttäuschungen, Schönfärber, Schlechtmacher, Moschee mit beschränkter Haftung, Politik mit verschränkter Drohung, Boulevard mit schräger Haltung. Dabei fasten und versuchen, den Verstand nicht zu verlieren. Anstrengende Tage. Erstmal durchatmen.
Die Ereignisse der letzten Tage bieten viele Möglichkeiten, durch akkurate Analyse und offene Debatte die Zukunft unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens positiv zu beeinflussen. Die Erfahrung lehrt, dass diese Möglichkeiten ungenutzt verstreichen werden. Dieser Text will ein kleines Aufbäumen gegen diese Erfahrung sein. Zu diesem Zweck soll angerissen werden, wo und wie wir uns selbst häufig im Weg stehen – in der Hoffnung, dass sich daraus konstruktive Debatten ergeben.
Jakob Augstein hat jüngst in einem Kommentar zur Kölner Kaddor-Demonstration darauf hingewiesen, dass die muslimischen Verbände sich ganz richtig verhalten, wenn sie sich nicht wie „Onkel-Tom-Türken“ zu irgendwelchen Protestaktionen zitieren lassen.
Damit durchbrach er die durchgehend missbilligenden Kommentare aus Presse und Politik hinsichtlich der Absagen der großen muslimischen Verbände. Anlass genug für diese, sich in ihrer Haltung bestätigt zu fühlen. Aber nichts wäre falscher.
Applaus in der türkischen Community
Augsteins Worte treffen einen Nerv und stellen die Weichen auf vollständige Zustimmung zu seinem Kommentar – gerade in der türkisch-muslimischen Community. Dieser emotionalen Richtungsvorgabe konnten sich dann auch viele muslimische Leserinnen und Leser nicht entziehen. Augstein bedient die Trigger türkisch-muslimischer Medienrezension, bei der die plakativsten und gröbsten Zuspitzungen auf größte Zustimmung stoßen. Bei der die am lautesten vorgetragene Meinung, die am meisten überzeugendste ist.
Der differenzierende Blick ist nach der Einübung einer solchen medialen Konditionierung durch den Konsum türkischer Fernsehprogramme in den letzten knapp zehn Jahren naturgemäß abhandengekommen. Fähigkeiten, die nicht trainiert werden, verkümmern. So auch der prüfende Blick hinter die Kulissen provokanter Zuspitzungen.
Muslime sind keine „Onkel-Tom-Türken“ mehr, die sich herumkommandieren lassen. Warum findet eine solche Metapher so große Zustimmung unter der türkisch-muslimischen Leserschaft?
Sehen die Nachkommen der ersten Gastarbeitergeneration ihre Eltern als unterwürfige „Onkel Toms“? Was ist das bitte für ein Bild, dem man sich bereitwillig hingibt? Ja, die erste Generation der türkischen Gastarbeiter hat sich bis an die Grenze der Ausbeutung – und viele sicher auch darüber hinaus – buchstäblich kaputtgearbeitet. Sie wurde auf vielerlei Weise gedemütigt und im gesellschaftlichen Ansehen herabgestuft. Aber dennoch war und ist dieser Elterngeneration eine besondere Würde zu eigen, die gerade auch von der Bereitschaft, sich für eine bessere Zukunft der eigenen Kinder aufzuopfern, getragen wird. Dieser Würde, dieser Leistung und diesem Erbe das Etikett des servilen Sklaven umzuhängen, sollten sich zu allererst die türkischstämmigen Leser widersetzen. Stattdessen applaudieren sie in großer Zahl einer solchen Zuschreibung – in der Annahme, sie träfe nur den verhassten Debattengegner. Warum ist das so?
Dik duruş
Weil Augstein auf der Klaviatur türkischer Seelenbefindlichkeit die richtige Taste trifft: „Dik duruş“. Wörtlich „aufrechtes Stehen“, sinngemäß „Haltung zeigen“, „sich behaupten“, „zu seinen Prinzipien stehen“, „sich nicht beugen“, „sich nicht unterwerfen“, „erhobenen Hauptes stehen“. Die Verbände wurden in den Sozialen Medien dafür gelobt, angesichts des Demonstrationsaufrufes und des sich steigernden öffentlichen Erwartungsdrucks, sich den Teilnahmeaufforderungen widersetzt zu haben, „dik duruş“ gezeigt zu haben.
Die türkische Medienlandschaft ist durchsetzt von Symbolen des „dik duruş“. Zuletzt Anfang des Jahres im Wahlkampf auf niederländischen Straßen und in deutschen Hallen. Alles Beweise des „dik duruş“. Man lässt sich von niemandem etwas sagen. Man beugt sich niemals.
Selbst im türkischen Unterhaltungsprogramm sind diese Narrative vertreten. Eine der erfolgreichsten Produktionen ist die Serie „Diriliş – Ertuğrul“. Sie dramatisiert als Historienschlachtplatte das Leben des Ertuğrul Gazi, einem Grenzgebiet-Fürst in Diensten des seldschukischen Herrschers im 13. Jahrhundert. Ertuğrul Gazi ist der Vater Osmans, des späteren Gründers des Osmanischen Reiches.
Ertuğrul herrscht über das entlegenste seldschukische Gebiet an der Grenze zum Byzantinischen Reich, also über die Westprovinzen. „Diriliş“ bedeutet „Erwachen“, „Aufstreben“. Emotional und von der durch die Sprache vermittelten Dynamik und Entschlossenheit her am ehesten mit dem englischen „Rising“ zu übersetzen. Es wird dem Publikum vermittelt, welche Anstrengungen unternommen, Entbehrungen erduldet, Kämpfe ausgefochten und Widerstände überwunden werden mussten, um den Aufstieg des Osmanischen Reiches vorzubereiten. Subbotschaft: Jene Untergebenen, jene die Not und Gefahren überstehen mussten, werden in der Nachkommenschaft jene sein, die zu Herrschern aufsteigen. Salopp ausgedrückt „Auch die osmanischen Herrscher haben mal klein angefangen, waren die Underdogs, haben sich aber emporgekämpft.“ Wie? Vor allem durch „dik duruş“.
Der innere Feind lauert überall
Und was war die größte Gefahr? Laut Botschaft dieser Serie nicht etwa äußere Bedrohungen, wie feindliche Fürstentümer. Nein, die größte Bedrohung ist der innere Feind. Der Verräter in den eigenen Reihen, der insgeheim fremden Mächten dient.
Man darf die Wirkmacht solcher Produktionen nicht unterschätzen. Vor einigen Jahren war es die Serie „Kurtlar Vadisi“, „Das Tal der Wölfe“, welche die Abenteuer eines Undercover-Polizisten im Milieu der Organisierten Kriminalität und aufgerieben zwischen den Intrigen der Weltpolitik auf den Bildschirm von Millionen von türkischen Haushalten brachte. Sie diente dazu, dem Publikum zu vermitteln, wie politische Großmächte – laut Serie oft genug zum Schaden der Türkei – Weltpolitik betreiben. Noch heute fordern türkische Satireseiten im Internet, die Produzenten mögen doch bitte eine aktuelle Staffel veröffentlichen, damit die Fernsehzuschauer endlich verstehen, was im Syrien-Konflikt „wirklich“ vorgeht.
Und auch „Diriliş – Ertuğrul“ hinterlässt seine Spuren. Türkische Jungmänner finden immer mehr Gefallen daran, sich mit den Insignien des oghusischen Stammes der Kayı, den Ertuğrul anführte, zu schmücken. Zum Beispiel mit dem Banner Ertuğruls, auf dem in stilisierter Form ein Bogen und zweie Pfeile abgebildet sind. In Gruppen laufen neuerdings junge türkischstämmige Männer durch deutsche Wälder und schießen mit Pfeil und Bogen auf Wildtier-Attrappen und spüren so dem erwachenden Geist ihrer Ahnen nach und schwelgen in Sehnsucht nach deren einstiger Größe.
Man kann das als Erfindung neuen, quasi-historischen Brauchtums und als eine neuzeitliche Form von Geschichtsfolklore verstehen. Gravierender wirkt aber die andere Subbotschaft dieser Serie. Die Suche nach dem inneren Feind, also dem größten Hindernis zukünftiger Größe und Macht, ist mittlerweile zu einer konkreten Paranoia geronnen. Befördert durch die realen Ereignisse um den Putschversuch in der Türkei im Sommer 2016 sind die Denkmuster zunehmend verhärtet. Die Bedrohung durch einen inneren Feind ist vom Bildschirm ins reale Leben übergesprungen und beeinflusst jede Wahrnehmung. Es gibt nur noch Freunde oder Feinde. Es gibt nur vollkommene Unterstützung und Loyalität oder endgültigen Verrat. Individuelle Verantwortlichkeit ist kein Kriterium mehr. Kontaktschuld, das geringste Zweifeln an diesen Denkmustern, Skepsis, Kritik oder gar Widerspruch reichen aus, um dem Lager der Verräter zugeschlagen zu werden.
Gemessen an diesen Kriterien scheint die türkisch-muslimische Gemeinschaft aktuell nur noch Verräter hervorzubringen. Eine differenzierte Analyse von tatsächlichen Fragestellungen rund um das öffentliche Engagement muslimischer Verbände bleibt von den Auswirkungen einer solchen gedanklichen und verhaltenspsychologischen Entwicklung nicht unberührt.
Unfähigkeit zum Kompromiss wird als Stärke verstanden
Jedes Verständnis für gegensätzliche Positionen, jedes noch so geringe Zugeständnis an Argumente des diskursiven „Gegners“, jedes Einlenken, jeder Kompromiss werden dadurch unmöglich.
Denn jedes Entgegenkommen wäre die Preisgabe des „dik duruş“, wäre Schwäche und Unterwerfung.
Bei so einem Denkmuster gehen zwangsläufig inhaltliche Aspekte über Bord. Organisatorische Größe ist dann eben nicht eine Quelle der Souveränität und eine Position der Stärke, aus der heraus man auch Teilforderungen anderer Akteure akzeptieren kann. Nein, jedes Einlenken wäre der erste Schritt zur Demontage der eigenen Macht und der erste Schritt zum Verlust eben jener Größe, die es achtsam zu verteidigen gilt.
Dass man sich damit aus der gesellschaftlichen Debatte verabschiedet und als Vertreter einer absoluten und unverrückbaren Maximalposition gar nicht mehr ernsthaft als Teil einer pluralistischen Gesellschaft mit vielen, teilweise auch einander widersprechenden aber in einen Ausgleich zu bringenden Interessengruppen wahrgenommen wird, scheinen die Verbände nicht erkennen zu können.
Spirituelle Erosion
Aus muslimischer Sicht noch substantieller ist indes die Beschädigung der ureigenen Spiritualität als Folge der oben beschriebenen Denkmuster.
Muslimischen Akteuren – gerade auch auf Verbandsseite – kommt das Gespür dafür abhanden, in welcher Gesellschaft sie leben und in welcher Wechselwirkung sie zu ihr stehen. Gesellschaftliche Stimmungen und Erwartungen werden nicht mehr wahrgenommen. Jede gesellschaftliche Erwartung, die an muslimische Verbände adressiert wird, wird dort als Kapitulationsforderung interpretiert. Jede kontroverse Meinung hat einen feindseligen Hintergedanken, jede Diskussion trägt den Keim der Niederlage in sich, die unausweichlich ist, je mehr man gewillt ist, Zugeständnisse und Kompromisse zu machen.
So werden mittlerweile Stimmen innerhalb der muslimischen Verbände laut, die davon reden, Muslime müssten das Recht haben, ihre Religion ungestört von gesellschaftlicher Einmischung ausüben zu können. Wohlgemerkt sind damit nicht die Kriterien verfassungsrechtlich verbürgter Religionsfreiheit gemeint, sondern das bloße Muslim-Sein und der Wunsch, mit dieser Identität bitteschön ungestört von gesellschaftlichen Nachfragen oder Diskussion bleiben zu dürfen.
Der muslimische Sisyphos
Eine andere Verbandsstimme hat sich erst kürzlich öffentlich darüber beschwert, die Antwort auf gesellschaftliche Forderungen nach deutlicher muslimischer Positionierung gerade auch der Verbände gliche einer Sisyphosarbeit und bewirke nichts – und hat für diese Ausführungen auch noch den Applaus eines breiten muslimischen Publikums erhalten.
Als Muslim muss man diese Haltungen eigentlich nur kurz auf sich einwirken lassen, um zu erkennen, welche immense spirituelle Bankrotterklärung sie enthalten:
Man ist müde, den ständigen gesellschaftlichen Diskussionen überdrüssig und sucht die Gründe für die nicht enden wollenden Fragen und Forderungen nicht bei sich, sondern bei jenen, die fragen. Man möchte sich lieber in die eigene Komfortzone zurückziehen und von gesellschaftlichen Anwürfen und Skepsis verschont mit sich und seiner Religion allein bleiben.
Man stelle sich vor, der Prophet Mohammed (s.a.s.) hätte sich so verhalten. Und wäre einfach in der Höhle Hira am Berg Nur sitzen geblieben. Aber jetzt im Ramadan gedenken wir doch eben jenen Tagen, in denen Mohammed (s.a.s.) die ersten Verse des Koran offenbart worden sind. Allah hat nicht zu ihm gesagt: „Junge, das mit der Verkündung dieser Offenbarung wird zu einer unendlichen Sisyphosarbeit für dich ausarten. Bleib besser hier in dieser Höhle. Ich erzähle dir ein bisschen was von der göttlichen Wahrheit und wenn du dich an sie hältst, reicht das schon. Wenn du jetzt anfängst, öffentlich für das einzutreten, was du glaubst, gibt es nur Diskussionen und Meinungsverschiedenheiten. Das muss sich nun wirklich keiner antun. Du bist ja schließlich nicht der „Onkel Tom“ der Mekkaner.“
Was besonders schmerzt, ist die Tatsache, dass dem verbandlichen Urheber dieses Vergleiches ganz offensichtlich weder die antike, noch die neuzeitliche Betrachtung des Sisyphos bekannt sind. Die Qualen des Sisyphos waren im antiken Verständnis die Strafe für die Verachtung und Auflehnung gegenüber den Göttern. Aber wenn dies so ist, müsste der muslimische Verbandsvertreter dann nicht die Ursachen für die von ihm beklagten Zustände nie endender, ertragloser Arbeit bei sich und seiner Auflehnung und Verachtung der ihm von Gott übertragenen irdischen Aufgaben suchen?
Albert Camus wiederum hat den Blick auf Sisyphos neu fokussiert: „Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“
Und es ist ein muslimischer Verbandsvertreter unserer Tage, der nicht erkennen kann, dass es doch unsere Aufgabe als Muslim ist, den mühsamen, den steilen, den steinigen Weg hinaufzustürmen, den dieses Leben als Prüfung für uns bereithält. Dass sich der Stein am Felsen verschleißt und immer kleiner und leichter wird, je mehr wir uns darum bemühen, ihn auf den Gipfel zu rollen. Wie kann man aus muslimischer Sicht, diesen islamischen Gehalt der Mühe und der Herausforderung nicht erkennen? Wenn ein muslimischer Verbandsvertreter sich über die Größe des Steins beschwert und keinen Sinn darin sieht, ihn immer wieder den Felsen hinaufzurollen, darf man dann nachfragen, wie groß denn die Anstrengungen bisher gewesen sind, wenn der Stein nach so vielen Jahren immer noch in der Größe unverändert vor den eigenen Füßen ruht?
Augstein macht es uns zu einfach
Deshalb muss man als Muslim auch Augstein bei seinem Onkel-Tom-Türken-Vergleich ins Wort fallen. Er weist durchaus berechtigt und mit den drastischen Mitteln eines Kolumnisten auf die unsäglich paternalistische Haltung der öffentlichen Debatte und ihrer gesellschaftlichen und politischen Akteure hin. Ja, es ist anmaßend und herrisch, wenn Politiker und medial künstlich aufgeblähte Akteure der breiten Mehrheit der Muslime vorschreiben wollen, was und wie sie zu Glauben haben, was sie an ihrem Glauben verändern sollen und wann und wo und wie und mit welchem Inhalt sie sich zu welchen Themen äußern sollen.
Aber Muslime/Türken sind nicht die seit 400 Jahren ausgebeuteten, verkauften, geschundenen, vergewaltigten, geprügelten, ausgepeitschten, gelynchten Sklaven dieser Gesellschaft. Wer sich diesen Schuh anzieht, begibt sich in eine fremdzugeschriebene Unterwürfigkeit, deren Fatalismus mit nichts zu vereinbaren ist, wofür ein muslimisches Selbstverständnis stehen kann.
Fragen und Forderungen an die muslimische Adresse, zumal an die der Verbände, sind keine gebieterischen Verfügungsakte. Sie sind Herausforderungen an Akteure, die sich selbst Einfluss, Größe und Bedeutung zuschreiben. Es sind Fragen und Forderungen, die gerade deshalb aufkommen, weil die Akteure es über Jahre hinweg schuldig geblieben sind, deutlich zu kommunizieren was sie denken und wofür sie stehen. Hätte es die letzten 15 Jahre eine vernünftige, fundierte, ausgiebige Kommunikation der eigenen Positionen gegeben, würde heute niemand mehr die Forderung nach Demonstrationen stellen. Der Stein wäre nicht so groß, wie er heute immer noch anmutet.
German Privilege und neue German Angst
Augstein entlastet sein Versuch, aus der Perspektive der Privilegierten die Motivation der sich der Demonstration verweigernden Muslime nachgefühlt und in Worte gegossen zu haben. Und dieses – wenn man die Metapher Augsteins weiter bemühen will – „German Privilege“ ist ein real existierendes Problem.
Wir haben tatsächlich ein Problem, das sich wie folgt darstellt: Die Bemühungen der muslimischen Minderheit, gleichberechtigt an dieser Gesellschaft teilzuhaben, stoßen an unzulässige Grenzen. Wir haben ein einflussreiches, urdeutsches Establishment, das in dem Wunsch der muslimischen Minderheit nach Gleichberechtigung nur die Gefahr der eigenen Entrechtung, gar Überwältigung wahrnimmt. Falsche, „gefühlte“ Statistiken über die Größe der muslimischen Minderheit, paranoide Geburtendschihad-Theorien, Neutralitätsgesetze, Kopftuchverbote, Burka-Diskussionen, Leitkultur-Debatten sind alle Ausdruck dieser neuen „German Angst“. Die Angst davor, durch das selbst formulierte Ideal der Gleichberechtigung benachteiligt zu werden, wobei bereits der Verlust der bisherigen Privilegien als Entrechtung zum eigenen Nachteil empfunden wird.
Da verzweifelt doch tatsächlich eine privilegierte Mehrheit an dem Wunsch der gesellschaftlichen Minderheit, endlich uneingeschränkt nach den Regeln leben zu wollen, die eben jene Mehrheit selbst in Gestalt des Grundgesetzes festgeschrieben hat. Und die Mehrheit reagiert auf diesen Wunsch mit einer paradoxen Überhöhung dieser Regeln zu einer pseudoreligiösen Bekenntnisschrift, die als Vergleichskriterium allein die Untauglichkeit der Religion dieser Minderheit beweisen soll. Statt einfach den Mut zu haben, diese Regeln einfach nur gleichberechtigt anzuwenden.
Und zu diesem paradoxen Verhalten gehört es natürlich auch, im Gestus des Hausherren Ansagen zu machen, was man von Minderheiten erwartet und wie sie sich zu verhalten haben. Dieser Attitüde haben sich viele Menschen auf dem Kölner Heumarkt verweigert. In diesem Punkt ist Augstein zuzustimmen.
Muslime müssen sich dieser Gesellschaft stellen
Die Verbände hatten aber die Chance, sich durch eine intensive Befassung mit diesen Phänomenen in die Debatte einzubringen. Sie sind nicht stimmlose Einzelpersonen. Sie agieren aus der selbst beanspruchten Position gesellschaftlicher Stärke. Selbst eine Absage hätte dergestalt noch Berechtigung gehabt, wäre sie von einer intensiven Diskussion um diese Probleme begleitet gewesen. Das alles hat aber – wie all die Jahre zuvor – wieder nicht stattgefunden. Dem stand sowohl der Impuls des „dik duruş“ im Weg, wie auch das in früheren Blogbeiträgen thematisierte kommunikative Unvermögen, die gesellschaftliche Stimmung richtig zu deuten und auf diese nach eigenen Maßgaben und selbstbestimmt einzugehen.
So bleibt also nur das Bild einer trotzigen Verweigerung zurück, die wiedermal in der breiten Öffentlichkeit nicht nachvollzogen werden kann. Wir reden also weiter aneinander vorbei. Und merken es nicht, weil sich auf muslimischer Seite alle über die knackigen Worte Jakob Augsteins freuen.
Und es gibt eine sicher nicht intendierte aber als Begleiterscheinung in der muslimischen Landschaft sofort virulente Folge der Augstein-Kolumne: Die Freund-Feind-Lagerbildung wird durch den Onkel-Tom-Vergleich zukünftig noch weiter forciert. Jeder, der nicht uneingeschränkt die eigene Position teilt, ist der unterwürfige, anbiedernde, schwache Sklave eines üblen Herrn und damit ein Instrument, mit welchem alle anderen standhaften Muslime bedroht werden. Das widerliche Label „Haustürke“ wird ersetzt durch den „Onkel-Tom-Türken“. Man kann das Augstein nicht zum Vorwurf machen. Es ist zu vermuten, dass er sich dieser Wirkung nicht bewusst ist.
Die Pflege von Feindbildern beschädigt islamische Religiosität
Wie massiv diese Wirkung jedoch die ureigene Substanz islamischer Religiosität bedroht, wurde in einem Moment deutlich, der zeitgleich mit der Kölner Demonstration stattgefunden hat: Die Gründung einer sogenannten „liberalen Moschee“ durch Seyran Ateş in Berlin.
Man könnte aus der souveränen Gelassenheit einer etablierten und fundierten Religionspraxis heraus die Entstehung von muslimischen Sekten im äußersten Randbereich der muslimischen Gemeinschaft einfach ignorieren, meinetwegen belächeln. Allein die Idee, seine „Islamreform“ – nichts Geringeres haben die Initiatoren sich ja vorgenommen – „mit beschränkter Haftung“ anzugehen, fordert schon zu allerlei satirischen Wortspielen heraus. Den Betroffenen muss man das auch zumuten dürfen, sind sie es doch, die über viele Jahre nicht nur muslimische Verbände, sondern die Lebens- und Glaubenspraxis auch des einfachen Muslims von der Straße diskreditiert, um nicht zu sagen kriminalisiert haben. Was ich in diesem Zusammenhang von einzelnen „Gesellschaftern“ halte, kann man auf diesem Blog detailreich nachlesen.
Ebenso mag man die politischen Doppelstandards kritisieren, die bei diesem Thema wieder im Kielwasser der oben skizzierten neuen „German Angst“ an die Oberfläche treiben. Da werden etablierte Verbände mit Gutachten nur so überzogen, obwohl die gesellschaftliche Relevanz dieser Religionsgemeinschaften evident ist. Gleichzeitig will man aber in einer randständigen Sekte, die erst gestern gegründet wurde und von der niemand weiß, ob sie zum nächsten Ramadan noch Bestand haben wird (der erste Gesellschafter hat sich ja bereits verabschiedet), den neuen Ansprechpartner des Staates für Religionsunterricht und islamische Theologie gefunden haben.
Was sich allerdings verbietet, ist die Häme, der Spott, die Verächtlichmachung, der Hass, die Bestrafungs- und Vernichtungsphantasien, die in den Sozialen Medien den Betroffenen entgegengeschleudert wurden. Es ist doch genau diese Art der Abgrenzung und Markierung Andersgläubiger und Andersgesinnter, auf deren Boden die giftige Saat der Gewaltbereitschaft und des Extremismus gedeihen. Wer ein solches Gebaren in seinen Reihen duldet, darf sich dann anschließend nicht auf die Position zurückziehen, Gewaltbereitschaft habe nichts mit diesem Gebaren zu tun und man müsse sich dazu nicht öffentlich positionieren.
Natürlich ist es für uns orthodoxe Muslime eine Zumutung, Kernelemente unserer Glaubenspraxis in einer derart entstellten Art und Weise zu erleben. Aber die Reaktion darauf – will sie tatsächlich religiös fundiert sein – kann und darf doch über Gelassenheit und die Überleitung in Gottes Ratschluss nicht hinausgehen. Wie heißt es noch in den historisch ersten Versen des Koran, deren Offenbarung wir in diesen Tagen des Ramadan feiern – Sure Alaq: „Lies im Namen Deines Herrn, Der erschaffen hat. Der den Menschen aus alaq erschaffen hat. Lies, Dein Herr ist der Großzügigste. Der das Schreiben mit dem Schreibrohr gelehrt hat, den Menschen gelehrt hat, was er nicht wusste. Nein, der Mensch lehnt sich wahrlich auf, dass er von sich meint, unbedürftig zu sein. Aber gewiss, zu deinem Herrn wird die Rückkehr sein. Siehst du denjenigen, der abhält, einen Diener, wenn er betet? Weißt Du denn, ob er nach der Rechtleitung verfährt oder die Ehrfurcht vor Gott gebietet? Weißt du denn, ob derjenige, der das Gebet verhindert, die Botschaft für Lüge erklärt und sich abkehrt? Weiß er denn nicht, dass Allah alles sieht?“
In unserer Rechtsordnung hat jede und jeder das Recht auf seinen ganz persönlichen Irrtum. Gerade in Glaubens- und Meinungsfragen. Und was in den Herzen anderer Menschen vorgeht, obliegt nicht unserem Urteil. Wir haben genug mit dem Stein zu tun, der vor unseren Füßen liegt – und immer größer wird, je länger wir schweigen und uns dieser Gesellschaft trotzig verweigern.
Pingback: „Friedensmarsch #nichtmituns Muslime und Freunde gegen Gewalt“. Davor und Danach. – Serdargunes' Blog