In Zeiten immer dichter aufeinanderfolgender Breaking News überschlagen sich Wahrnehmung, Reflexion und Reaktion in einem immer chaotischeren Durcheinander von kurzfristiger Aufmerksamkeit und reflexartiger Empörung – meist über Sachverhalte, deren Bedeutung kaum verstanden, geschweige denn durchdrungen wird. In den sozialen Medien werden Inhalte erbost kommentiert, kaum dass sie gelesen wurden, wobei immer häufiger festzustellen ist, dass sich Kommentatoren an den eigenen Feindbildern abarbeiten, als dass sie tatsächlich auf den Inhalt eingehen können, dem sie sich aussetzen. Das Nutzerverhalten gleicht immer mehr einer zuckenden Reizreaktion, als einer durchdachten, überlegten Argumentation.
Dieses Verhaltensmuster geht an gesellschaftlichen Akteuren nicht spurlos vorbei. Immer seltener werden Gedanken in größeren Zusammenhängen entwickelt, immer häufiger gleicht das öffentliche Verhalten einer auf Trigger anspringenden Reaktion, die ähnlich dem auslösenden Reiz ohne Substanz und Nachhaltigkeit bleibt. In diesen Zeiten fällt es schwer, den Blick über den Tag hinaus in die Ferne schweifen zu lassen.
Auch das Thema „Islam in Deutschland“ ist von diesen Phänomenen betroffen. Landtagswahlen, Bundestagswahl, Referenden, Wahlkämpfe. Alles deutet darauf hin, dass uns wieder Wochen und Monate eines politischen Reiz-Reaktions-Karussells bevorstehen. Für eine tiefergehende Betrachtung der Islam-Thematik ist 2017 so gesehen ein verlorenes Jahr.
In der Islam-Debatte stehen Veränderungen bevor
Gleichwohl zeichnen sich am Horizont Entwicklungen ab, welche die kommenden Jahre der Islam-Debatte prägen werden. Beeinflusst von den teilweise auch krisenhaften Zuständen im vergangenen Jahr ist mit einer zunehmenden Veränderung der Kooperationsbedingungen im Verhältnis Staat-Religionsgemeinschaften zu rechnen. Das Vorhaben, bestehende Organisationsstrukturen hin zu kooperationsfähigen Akteuren zu entwickeln, steckt aller Voraussicht nach in einer Sackgasse. Insbesondere in den vergangenen zwei Jahren haben islamische Religionsgemeinschaften auf verschiedenen Feldern die Gelegenheit gehabt, ihren Wert als prägende Akteure gesellschaftlicher Debatten unter Beweis zu stellen. Sie hatten die Chance, gesellschaftliche Veränderungen nicht nur anzustoßen, sondern auch mitzugestalten. Will man das harte Wort des Scheiterns vermeiden, bleibt nur die Feststellung, dass der Nachweis gesellschaftlicher Prägekraft und diskursiven Gestaltungswillens zumindest unschlüssig geblieben ist.
Den islamischen Religionsgemeinschaften will es nicht gelingen, ihre Rolle als führende gesellschaftliche Akteure der muslimischen Community auch tatsächlich auszufüllen. Das Potential dazu wäre zweifellos vorhanden. Die islamischen Religionsgemeinschaften sind die entscheidenden Institutionen, in denen Religiosität auch kollektiv gelebt wird. Sie sind Orte muslimischer Spiritualität und Kulmination muslimischen Engagements für einen nicht nur individuell, sondern auch gemeindlich gelebten Glauben. Insoweit bringen sie ideale Voraussetzungen mit, ein breites Spektrum muslimischen Tatendranges und individueller Talente und Impulse zu bündeln und für die gesamte – natürlich auch nichtmuslimische – Gesellschaft nutzbar zu machen.
Anspruch und Wirklichkeit der islamischen Religionsgemeinschaften
Weshalb ist die Wirklichkeit hinter diesem Anspruch und diesem Potential zurückgeblieben? Eine Ursache mag darin liegen, dass die Konzentration auf die Beschäftigung mit dem Ist-Zustand der Islam-Debatte den Blick für die Notwendigkeit positiver, inhaltlicher Beiträge viel zu oft versperrt hat.
Wie soll muslimisches Leben in Deutschland aussehen? Welchen Beitrag können Muslime zu den gesellschaftlichen Themen leisten, die auch Nichtmuslime betreffen? Auf diese Fragen wurde und wird viel zu selten eine Antwort formuliert. Gleichberechtigung einzufordern und dafür zu streiten, ist ein wichtiges und nobles Ziel. Es exkulpiert die Gemeinschaften aber nicht davon, der Gesellschaft überzeugend darzulegen, was aus dieser Teilhabe resultieren wird.
An dieser Stelle mag man trefflich einwerfen, dass Gleichberechtigung nicht von Nützlichkeitskriterien abhängig gemacht werden darf. Das ist richtig. Im Gegenzug muss man sich dann aber auch vorhalten lassen, dass gesellschaftliche Relevanz nicht allein ein Kriterium bleiben darf, das sich auf die innere Sphäre von Religionsgemeinschaften beschränkt. Eine solche Relevanz mag dann zwar in Mitglieder- oder Moscheezahlen Ausdruck finden. Sie bleibt aber letztlich eine auf die eigene religiöse Gruppe begrenzte, nach innen gerichtete Relevanz, an der die Gesamtgesellschaft nicht beteiligt wird. Man kann natürlich auf diese Weise Religionsgemeinschaft sein. Das ist vollkommen legitim. Man bleibt damit aber eine Gemeinschaft des gesellschaftlichen Randes, eine Gemeinschaft, die sich selbst isoliert. Eine solche Gemeinschaft kann sich allenfalls erhalten. Sie kann aber nicht gestalten – erst recht nicht in gesamtgesellschaftlichen Dimensionen.
Um es plakativer zu formulieren: Die islamischen Religionsgemeinschaften haben sich viel zu intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, ob der Islam zu Deutschland gehört und wie dieser Zugehörigkeitsanspruch begründet wird. Aber auf die Frage, was denn aus dieser Zugehörigkeit resultiert, welche Verantwortung damit verbunden ist, worin sich diese Zugehörigkeit zukünftig manifestieren wird – auf all diese Fragen sind Antworten ausgeblieben.
Inhaltlich durchdachte, wohlbegründete, selbstbewusst vorgetragene Antworten auf diese Fragen würden die Glaubwürdigkeit und Vertrauenswürdigkeit islamischer Religionsgemeinschaften stärken. Sie würden als zivilgesellschaftliche Regulierungskräfte, als Handelnde im Interesse von Freiheitsrechten nicht nur für Muslime, sondern für alle Bürger wahrgenommen und auch ernstgenommen werden. Glaubwürdigkeit ist die härteste Währung einer Religionsgemeinschaft. In welchem Kurs diese Währung gegenwärtig steht, mögen die interessierten Leser selbst beurteilen.
Gesellschaftliche Relevanz wird immer mehr zu einem qualitativen Kriterium werden
Es ist vorauszusehen, dass dieser festgefahrene Zustand nicht folgenlos bleiben wird. Gesellschaft und Politik stellen sich immer drängender die Frage, wie das Zusammenleben zukünftig funktionieren soll. Alle dürften darin einig sein, dass die Gleichgültigkeit der vergangenen 50 Jahre gegenüber muslimischer Präsenz in Deutschland nicht fortgesetzt werden kann. Ebenso können Pendelausschläge in die entgegengesetzte Richtung, nämlich invasive Gestaltungsabsichten, die an der Lebens- und Glaubenswirklichkeit der Muslime und häufig genug auch an unserem Verfassungsrecht vorbeizielen, keinen Erfolg haben.
Politik und Gesellschaft werden weiterhin darauf angewiesen sein, dass sich Muslime einbringen und ausformulieren, was ihr gesellschaftlicher Beitrag sein kann. Hier wird es zukünftig darauf ankommen, wer sich mit welcher inhaltlichen Substanz artikuliert. Das Kriterium der gesellschaftlichen Relevanz wird nicht mehr nur als juristische Voraussetzung für den verfassungsrechtlichen Status einer Religionsgemeinschaft herangezogen werden.
Eine so verstandenen Relevanz kann den islamischen Gemeinschaften nur dabei helfen, die verfassungsrechtliche Hürde der anhand der Mitgliederzahlen vorgenommenen Prognose des dauerhaften Bestandes zu meistern. Neben dieser quantitativen Relevanz wird es aber in Zukunft – vielleicht nicht juristisch, jedoch faktisch – immer mehr und immer bedeutsamer auf die Frage der qualitativen Relevanz ankommen: Was haben Muslime inhaltlich zu der Herausforderung gesellschaftlichen Zusammenlebens zu sagen?
In diesem Sinne gesellschaftlich relevant können sich auch Muslime einbringen, die nicht als Religionsgemeinschaft organisiert sind, die möglicherweise aber als religiöse Vereine wichtige Beiträge für die Gesamtgesellschaft leisten. Initiativen muslimischer Zivilgesellschaft werden zunehmend Gehör finden, wenn ihre Aussagen und Positionen mehr inhaltliche Tragkraft für unser gesellschaftliches Zusammenleben entfalten, als das, was die bisherigen islamischen Religionsgemeinschaften zu sagen haben.
Zukünftig wird es weniger darauf ankommen, für wen man spricht, sondern was man konkret zu sagen hat.
Diese Analyse ist kein Abgesang auf islamische Religionsgemeinschaften. Sie haben unverändert das Potential, auch unter diesen sich verändernden Umständen ihre Rolle als einflussreiche Gesprächspartner zu behaupten. Es wird nur nicht mehr ausreichen, einfach nur da zu sein. Die Präsenz – so gewichtig sie quantitativ auch in Zukunft sein mag – wird sich immer mehr durch inhaltliche Substanz rechtfertigen müssen.
Das von den islamischen Religionsgemeinschaften oftmals an den Tag gelegte Vertrauen darauf, dass die Politik ohne Religionsgemeinschaften – im verfassungsrechtlichen Sinne – nicht handlungsfähig sein wird, kann sich sehr schnell als Fehlkalkulation erweisen. Bereits jetzt reizt das verfassungswidrige bayerische Modell eines „Islamunterrichts“ mit der Durchsetzbarkeit eines Religionsunterrichts, der sich nur nicht so nennt, um formal unter das Grundgesetz schlüpfen zu können und der nur durch einen langjährigen Gang durch alle prozessualen Instanzen zu kippen sein wird – wenn er nicht zuvor schon in anderen Bundesländern Nachahmer findet, weil dort die Beiratsarbeit mit den bisherigen Partnern mehr Probleme als Lösungen bereitet.
Die muslimische Jugend erwartet mehr als nur die Klärung von Statusfragen
Die islamischen Religionsgemeinschaften werden vor dem Hintergrund dieser sich anbahnenden Entwicklungen die Wahl haben, sich mit dem verfassungsrechtlichen Status „Religionsgemeinschaft“ lediglich zu schmücken oder diesen Status auch mit gesellschaftlichem Leben zu füllen.
Die islamischen Gemeinschaften können sich an den Rand der Gesellschaft zurückziehen, sich selbst genug sein und ihr Religionsverständnis in einer isolierten gesellschaftlichen Enklave pflegen. Dazu hätten sie jedes Recht und den Schutz unseres Grundgesetzes. Denn eine Gemeinschaft, welche die Kriterien einer Religionsgemeinschaft erfüllt, muss deshalb noch lange nicht an dieser Gesellschaft teilhaben oder ihr Religionsverständnis zum Wohle der gesamten Gesellschaft einbringen. Ob ein solches religionsgemeinschaftliches Einsiedler-Dasein der Botschaft des Islam entspricht, muss jede Gemeinschaft für sich selbst beantworten.
Ein solcher Rückzug – oder kritischer formuliert: ein weiteres Verharren im gesellschaftlichen Abseits – wäre auf lange Sicht nicht im Eigeninteresse der islamischen Religionsgemeinschaften. Denn ihre eigene Jugend wird sich auf Dauer nicht mit der gedanklichen Isolation ihrer religiösen Gemeinschaft vom gesellschaftlichen Leben abfinden. Sie sucht heute schon Antworten darauf, was der Sinn ihrer muslimischen Existenz in Deutschland ist. Eine Gemeinschaft, die ihrem Nachwuchs konsequent jegliche Antwort auf diese Frage verweigert oder nur eine Antwort zu geben in der Lage ist, die eine fruchtbare Verbindung zwischen religiöser Identität und einem konstruktiven staatsbürgerlichen Selbstverständnis erschwert, verspielt die eigene Zukunft.
Spätestens 2018, wenn eine neue Bundesregierung die Antwort darauf finden muss, ob und wie eine Deutsche Islam Konferenz in Zukunft fortgesetzt werden soll, wird sich abzeichnen, wie intensiv der Paradigmenwechsel in der Islamdebatte sein wird.