Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
es ist sonst nicht meine Art, in diesen Angelegenheiten mit Spitzenpolitikern öffentlich zu kommunizieren. Allerdings hat das Interview, das Sie zusammen mit Ihrem grünen Bundesvorsitzenden Cem Özdemir der FAZ gegeben haben und das gestern veröffentlicht wurde, mich auf so unterschiedlichste Weise irritiert und nachdenklich gestimmt, dass ich darin eine Art Konzentration der unglücklichen gesellschaftspolitischen Entwicklungen der letzten Jahre wahrnehme.
Ich habe den Eindruck, dass die türkischstämmige Community in Deutschland und die politischen Stimmen auf Landes- und Bundesebene mittlerweile so konsequent aneinander vorbei reden, dass darin ganz grundsätzliche Missverständnisse und Fehlentwicklungen manifest werden. Die Positionen sind gegenwärtig derart verhärtet, dass ich mich genötigt sehe, ganz klar und offen die gröbsten Unstimmigkeiten anzusprechen, in der Hoffnung, dass Sie meine Kommentierung als ein besorgtes Warnsignal vernehmen mögen.
Vielleicht gelingt es mir auch, Ihren Parteifreund und Bundesvorsitzenden Cem Özdemir mittelbar über dieses Schreiben an Sie zu erreichen.
Der prägende Eindruck, den Sie mit Ihrem Interview hinterlassen, ist der von Doppelstandards und einer widersprüchlichen Haltung in den Kernaussagen. Sie und Herr Özdemir betonen immer wieder mit unterschiedlichen Formulierungen, die Menschen in Deutschland hätten sich hier auf Deutschland zu konzentrieren, sich hierher zu orientieren, ihre „Antennen in diese Gesellschaft“ zu richten, auch die türkischstämmigen Menschen seien Deutsche, die hiesige Rechtsordnung müsste verinnerlicht werden, sie müssten ein tieferes Werteverständnis erreichen, sie dürften nicht nur mit den Zehen auf dem Grundgesetz stehen (ein Bild, das gerade Herr Özdemir in letzter Zeit gern und häufig verwendet).
Nun ist es durchaus bemerkenswert, dass der Appell zu einer Hinwendung nach Deutschland und zu dieser Gesellschaft ausgerechnet von den Grünen eingefordert wird, die sich in den letzten Monaten gefühlt ausschließlich mit der Türkei und der türkischen Innenpolitik beschäftigen. Unter den türkischstämmigen Menschen in Deutschland herrscht der Eindruck, die Grünen hätten sich angesichts der parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse im Bundestag ohnmächtig in eine Art außerparlamentarische Opposition geflüchtet, wobei sie einer sehr kühl-kalkulierenden Rechnung folgend Opposition nicht gegen die Bundesregierung sondern gegen die türkischstämmige Community betreiben.
Die Wahlstimmen, die man auf diese Weise in jener Community verliert, werden sicher bei weitem durch neue Stimmen übertroffen, die man durch eine solche AfD-isierung der grünen Narrative auf der anderen Seite des gesellschaftlichen Spektrums wieder hinzugewinnt. Von der beeindruckten Anerkennung durch zukünftige schwarze Koalitionspartner auf Bundesebene mal ganz zu schweigen.
Erinnern Sie sich an irgendeine bundesweit relevante politische Diskussion, die von den grünen Bundestagsfraktionsvorsitzenden Frau Göring-Eckardt oder Herrn Hofreiter in den letzten Monaten angestoßen worden wäre? Sehen Sie, ich auch nicht. Was ich stattdessen andauernd beobachte, ist eine außerparlamentarische Auseinandersetzung mit einem Teil der deutschen Bevölkerung, nämlich der türkisch-muslimischen Community, die offenbar von der grünen Parteiführung zum neuen politischen Gegner markiert worden ist. Das ist – mit Verlaub – ein Verfall demokratischer Kultur und findet hoffentlich keine Nachahmer in anderen Parteien. Denn bislang waren wir eine solche „Politik“ nur von randständigen Parteien gewohnt, deren demokratische Standfestigkeit eher zu hinterfragen war.
Natürlich wissen wir beide, dass es in einer demokratischen Gesellschaft jedem Menschen frei steht, wofür er sich interessiert, welche politischen Sympathien er hegt und mit welchen Themen er sich beschäftigt. Warum bei türkischstämmigen Menschen jetzt plötzlich andere Maßstäbe angelegt werden, warum ihre Aufmerksamkeit für politische Entwicklungen in der Türkei ein Indiz für Fremdheit in unserer Gesellschaft sein soll, erschließt sich gegenwärtig wohl nur den Grünen.
Ich erinnere mich nicht daran, dass bei irgendeiner anderen Bevölkerungsgruppe Bundestagsresolutionen in den Rang von Glaubenssätzen erhoben und dass unterschiedliche Meinungen zu solchen Sachverhalten zu Hürden der demokratischen Tauglichkeit deklariert worden wären.
Ich erinnere mich nicht daran, dass Deutsch-Sein, Zugehörigkeit zu dieser Gesellschaft zwingend an eine abrenuntiatio diaboli, ausgesprochen gegenüber der Türkei, geknüpft ist, um mal eine katholische Metapher zu verwenden.
Und ausgerechnet Ihre Parteikollegen verpassen momentan keine Gelegenheit, um die Gelegenheit zu verpassen, den türkischstämmigen Menschen in Deutschland das Gefühl zu geben, ihre Belange, ihre Empfindungen, ihre Sorgen und Interessen seien für die hiesige Politik wichtig.
In München fand ein rechtsterroristischer Anschlag auf junge Menschen statt, die der aktuellen Erkenntnislage nach deshalb zum Ziel geworden sind, weil sie Türken waren oder wie solche aussahen. Keine zwei Tage nach diesem Anschlag waren es wieder Ihre Parteikollegen, die sich mit Angriffen gegen die größte türkisch-muslimische Religionsgemeinschaft in Deutschland zu profilieren suchten, statt die Ereignisse in München auf bundespolitischer Ebene zu thematisieren.
Der Täter des Anschlages in München hat sich Ziele gesucht, die er für nichtdeutsch, für fremd gehalten hat. Noch bevor die Opfer beigesetzt sind, forcieren Ihre Parteifreunde die Narrative von nichtdeutschen, fremdgesteuerten, türkischen Organisationen. Wie soll man als Bürger seine Antennen auf so einen politischen Stil richten? Wie soll man in einer solchen Konstellation Ihren Satz nachempfinden können, man sei als türkischstämmiger Mensch auch Deutscher?
Ihr Parteikollege Herr Özdemir hat natürlich Recht, wenn er sagt, er sei nicht von einem Volksstamm gewählt, sondern von Staatbürgern und vertrete einen Wahlkreis. Die Grundlage seien gemeinsame Überzeugungen, gemeinsame Inhalte.
Dann ist es aber auch das gute demokratische Recht eben dieser Staatsbürger, festzustellen, dass ein oben beschriebenes politisches Agieren eben nicht mehr den Eindruck vermittelt, da habe ein Politiker noch die gleichen Überzeugungen und die gemeinsamen Inhalte mit der türkischstämmigen Community. Herr Özdemir steht in der Wahrnehmung dieser Community gegenwärtig für den Prototypen des erfolgreichen Politikers mit migrantischen Wurzeln. Nämlich als ein Modell, das nur dann politischen Erfolg verspricht, wenn sämtliche Inhalte, Interessen und Überzeugungen der türkischstämmigen Menschen in Deutschland über Bord geworfen werden und nicht nur ignoriert werden, sondern der politische Erfolg geradezu voraussetzt, diesen Überzeugungen und Inhalten diametral entgegenzuwirken.
Verehrter Herr Ministerpräsident,
wenn das die gelebte Manifestation gelungener Integration und des Deutsch-Seins sein soll, dann befürchte ich, dass sich davon nicht viele Menschen angesprochen fühlen und dass uns als Gesellschaft noch ein langer und mühsamer Weg bevorsteht.
Meine große Sympathie hat Ihre Forderung, dass Bürger dieses Landes mit beiden Füßen auf dem Boden des Grundgesetzes stehen müssen. Nicht nur mit den Zehenspitzen. Ich kann diese Äußerung vorbehaltlos unterschreiben und verfechte sie gemeinsam mit Ihnen konsequent und ohne einschränkende Zugeständnisse. Das tue ich nicht nur als türkischstämmiger Mensch, sondern gerade auch als deutscher Jurist. Das gilt dann aber auch für uns alle und nicht nur als Forderung an „Andere“ oder „Dazugekommene“.
Wie ambivalent dieser Satz angewandt wird, zeigt nämlich das Beispiel Ihres Bundesvorsitzenden Herr Özdemir. Er wirft der DITIB ein falsches Loyalitätsverständnis vor, sie sei der Vertreter eines fremden Staates. Das bessere Beispiel einer Religionsgemeinschaft seien die alevitischen Verbände. Diese schlichten Sätze sind nichts anderes als holprige Pirouetten auf dem Boden des Grundgesetzes. Noch weiter, als mit solchen Aussagen, kann man sich gar nicht auf die Zehenspitzen stellen.
Allein bei der Loyalitätsfrage müssen Sie doch als Katholik, zumal als einer mit Vertreibungserfahrungen in der Familiengeschichte, aufschrecken. Das ist eine Sprache, wie sie vor knapp 150 Jahren gepflegt wurde, um Katholiken die Loyalität gegenüber ihrem deutschen Vaterland abzusprechen. Dass selbst Sie diese sprachliche und wohl auch gedankliche Verirrung nicht kritisieren, muss uns allen ein Warnsignal sein.
Denn natürlich schuldet eine Religionsgemeinschaft dem Staat keine Loyalität im Sinne einer uneingeschränkten Ergebenheit oder Zuverlässigkeit. Es ist die Kehrseite der weltanschaulichen Neutralität des Staates, dass Religionsgemeinschaften natürlich verfassungstreu zu sein haben, aber nicht – selbst dann nicht wenn sie Körperschaften des öffentlichen Rechts sind – auf der Seite des Staates, quasi in den Reihen seiner Untergliederungen stehen.
Sie sind weiterhin dem Staat als gesellschaftlicher Akteur gegenübergestellt, dem Grundgesetz verpflichtet aber dem Staat nicht loyalitätsschuldig. Sie sind im Böckenfördschen Sinne Teil der Zivilgesellschaft die um der Freiheit Willen auch als Kritiker, als Werte und Tugenden generierende und tradierende Institutionen den Staat kontrollieren, ihn kritisch begleiten, ihm bei Bedarf auch widersprechen.
Und wenn sie das wie im Beispiel der DITIB tun, dann sind sie dadurch nicht Vertreter fremder Staaten sondern solide Religionsgemeinschaften, die ihre verfassungsmäßige Rolle sehr gut verstanden haben. Offenbar sogar besser als der Bundesvorsitzende der Grünen, der gerade die alevitischen Verbände als vorbildliche Religionsgemeinschaften preist, obwohl diese in ihrer Selbstbeschreibung häufig genug betonen, sie seien vorrangig politische Interessenvertreter ihrer Mitglieder – und damit eben keine Religionsgemeinschaften im Sinne unseres Grundgesetzes.
Wenn Religionsgemeinschaften, wie die DITIB, in gesellschaftlichen und auch verfassungsrechtlichen Diskussionen unbequem sind, praktizieren sie keinen „türkischen Staatsterrorismus“. Sie verhalten sich als verantwortungsbewusste Institutionen dieser deutschen Zivilgesellschaft. Wer an dieser Stelle immer noch von Fremdsteuerung oder Emanzipation redet, will in Wirklichkeit keine selbstbewusste deutsche Religionsgemeinschaft, sondern selber ans Steuer und Religionsgemeinschaften aktiv gestalten – und damit unser Grundgesetz brechen.
Verehrter Herr Ministerpräsident,
wir beide sind vollkommen gleicher Überzeugung, wenn Sie sagen, „Ein Demokrat zu sein heißt, sich an die Gesetze zu halten, ein guter Demokrat verinnerlicht die Tiefengrammatik der demokratischen Ordnung“. Das unterschreibe ich. Das will ich auch angewandt wissen. Auch in Baden-Württemberg.
Einer Ihrer Hochschullehrer in Tübingen ist Mitglied im Muslimischen Forum Deutschland (MFD). Ich habe hier an anderer Stelle meines Blogs darauf hingewiesen, dass das MFD über seinen Sprecher mit Organisationen verflochten ist, die in der Nähe zu antimuslimischen Netzwerken und ausländischen Think Tanks agieren. Das sind teilweise Organisationen, die im Ausland gezielt islamfeindliche Positionen und Meinungen verbreiten und bestrebt sind, diese auch nach Europa zu tragen.
Ein anderer Ihrer Hochschullehrer, diesmal in Freiburg, hat in den Stunden des rechtsterroristischen Anschlages in München folgendes über die Sozialen Medien veröffentlicht: „Ich habe noch nie in meinem Leben so naive Politiker/innen wie in Deutschland erlebt. Einfach alle Menschen aus allen Herren Ländern aufnehmen. Und jetzt haben wir in München einen Terrorverdacht. – Islamisten!“ Die Rechtschreibfehler Ihres Hochschullehrers habe ich im Original belassen.
Der gleiche Hochschullehrer, Ihr Beamter, hat erst jüngst folgendes veröffentlicht: „Die DITIB ist langsam am Ende. Ein Lebenswerk durch meine hartnäckige Kritik an dieser politischen Auslandsorganisation geht in Erfüllung. Ich bin allerdings noch am Anfang. Übersetze Berichte aus dem Türkischen ins Deutsche werden demnächst von mir veröffentlicht. Dafür bin ich einigen türkischstämmigen Menschen sehr dankbar, die die DITIB als Feind der Integration betrachten.“
Ich weiß nicht, auf welchem demokratischen Grammatikniveau Sie diese Äußerungen verorten. Meiner Ansicht nach fehlt es Ihrem Hochschullehrer bereits an einfachster demokratischer Alphabetisierung. Als Landesvater und oberster Dienstherr vertrauen Sie jedes Jahr immer neue Studierende der geistigen Obhut eines solchen Hochschullehrers an, der in übelster rechtspopulistischer Manier Muslime pauschal als Terroristen stigmatisiert, der getrieben ist von Vernichtungsphantasien – seinem Lebenswerk(!) – gegen die größte muslimische Religionsgemeinschaft Ihres Landes. Unter der Aufsicht Ihrer Fachministerien werden alle DITIB Gemeinden und alle ihre Mitglieder und Besucher als „Feinde“ markiert. Ihr „Ende“ wird durch Steuergelder – auch der Muslime – alimentiert.
Gleichzeitig erwarten Sie, dass eben diese Religionsgemeinschaft ihre Gemeindetüren für jene Absolventen öffnet, die durch eine solche geistige „Schule“ gegangen sind. Bei allem Respekt, hier geht es nicht mehr nur um Zehenspitzen. Ihr Hochschulbeamter flattert eine gute Armlänge über dem Boden des Grundgesetzes.
Verehrter Herr Ministerpräsident,
Es sind diese Doppelstandards, diese widersprüchlichen Wertungen und politisch ambivalenten Haltungen, die einen großen Teil der türkischstämmigen Community daran hindert, ihre „Antennen“ so auszurichten, wie Sie und Herr Özdemir sich das wünschen. Es ist nicht eine Frage der Integration oder der Loyalität. Es ist eine Frage von Glaubwürdigkeit demokratischer Spielregeln – oder eben das Fehlen einer solchen.
Bitte nehmen Sie diesen Brief als das wahr, was er sein will: Ein Zwischenruf, dass Sie und mit Ihnen die Parteiführung der Grünen dabei sind, sich in einer Rhetorik zu verlieren, die türkischstämmige Menschen weiter von dieser Gesellschaft entfernt. Ein Zwischenruf der DITIB, die eben das nicht will.
Hochachtungsvoll
Ihr Murat Kayman