Man hätte erwarten dürfen, dass die hiesige Politik nach monatelanger Türkeiobsession und antitürkischen Ausfällen kurz aufschreckt, innehält und sich Gedanken darüber macht, ob die durchgehend negative Besetzung und Kommentierung der Causa Türkei nicht auch problematische Reaktionen auslöst. Ob die dramatisch angestiegene Zahl an Moscheeübergriffen, insbesondere gegen solche mit überwiegend türkischstämmiger Gemeinde, nicht auch Folgen der politischen Auseinandersetzung mit dem Thema Türkei sind. Ob nicht die hetzerische Rhetorik der dauernd unterstellten Fremdkontrolle, der vorgeworfenen Unterwanderung durch türkisch-muslimische Organisationen Einzelne in ihrem Hass auf Türken eskalieren lässt. Das hätte man nach München erwarten dürfen.
Im Falle islamistisch-extremistischer Anschläge machen sich Politik und Medien kaum Gedanken darüber, ob es sich bei den Tätern nun konkret um islamistische Gestörte oder gestörte Islamisten handelt. Wie zuletzt im Fall Ansbach, ist die Kategorisierung „Terroranschlag“ unumstößlich, selbst wenn es gewichtige Indizien dafür gibt, dass es sich hier um einen Täter mit zurückliegenden Suizidversuchen, psychischer Störung, delinquenter Vorgeschichte, abgelehntem Asylantrag und Ausreiseaufforderung handelt. Vielleicht will so ein Täter durch die Adaption extremistischer Symbole und Muster seinem Lebensende eine vermeintliche über seine Existenz hinausreichende illusionierte Bedeutung verleihen, die er Zeit seines Lebens im Positiven nie zu erreichen in der Lage war.
Andererseits sehen wir, wie die Motive des Attentäters in München konsequent pathologisiert werden, obwohl er während der Tatausführung ausdrücklich eine türkenfeindliche Motivation äußerte, eine entsprechende Historie hatte, Breiviks Terroranschlag idealisierte, seine Selbstwahrnehmung ausdrücklich als „Deutscher“ in die Welt hinausschrie, um mit dieser Selbstpositionierung Ziele zu suchen, die er als die Antagonisten des Deutschen schlechthin wahrnahm, also explizit als Türken identifizierte oder zumindest dem äußeren Anschein nach als Türken erkannte.
Warum in diesem Fall die Behörden von einer vorgeschobenen, der psychischen Störung nur übergestülpten politischen Rechtfertigung ausgehen, im Fall Ansbach aber eine solche Erklärung zurückweisen und den Charakter eines politisch motivierten Terroranschlages als prägend annehmen, bleibt ihr Geheimnis. Vielleicht liegt es daran, dass man aus dem NSU Komplex nichts gelernt hat und angesichts der vielen Ungereimtheiten, verschwundenen Akten und plötzlich verstorbenen Zeugen wohl auch nichts lernen will.
Konfrontiert mit dieser behördlichen Haltung hätte man zumindest von Seiten der Politik eine Intervention, eine öffentliche Problematisierung erwarten dürfen. Warum kann ein Attentäter mitten in München am helllichten Tag, dies laut verkündend auf eine regelrechte Türkenjagd gehen, ohne dass dies auf politischer Ebene thematisiert wird?
Statt diesen Skandal anzusprechen und zu diskutieren, wendet sich die Politik, angetrieben von politischen Hasspredigern und den immer gleichen „Experten“, der Freitagspredigt der DITIB zu und versucht hier eine durchsichtige maliziöse Skandalisierung zu betreiben. Keine 48 Stunden nach der Türkenjagd von München, markieren politische Hassprediger wieder die größte türkisch-muslimische Gemeinschaft in Deutschland als Trojaner, als Agent und Statthalter fremder Mächte, als Gefahrenpotential, dem man bürgerliche und institutionelle Rechte verwehren und bereits gewährte Rechte wieder aberkennen muss. In völliger Unkenntnis der tatsächlichen und rechtlichen Umsetzung des islamischen Religionsunterrichts zeichnen Sie das düstere Erinnerungen weckende Bild von nach „unseren Kindern“ ausgestreckten langen, fremden, bösartigen Armen und Fingern.
Dass durch eine solche kampagnenhafte Hetzrhetorik Einzelne sich dazu berufen fühlen, Türken oder Menschen, die sie für Türken halten, auch noch ganz andere existenzielle Rechte abzusprechen, das können oder wollen die Verunsicherungsvertreter und geistigen Brandstifter im religionspolitischen Biedermann-Kostüm nicht erkennen.
Sie echauffieren sich darüber, dass in der Freitagspredigt der Putschversuch in der Türkei thematisiert und verurteilt wird. Sie offenbaren damit eine völlige Abwendung von einem Großteil der türkischstämmigen Community in Deutschland. Sie offenbaren damit, dass sie auch nach über 50 Jahren nicht den Hauch an Empathie oder Verständnis für die Sorgen und Ängste vieler Bürger türkischer Herkunft aufbringen können oder wollen. Die gleichen Stimmen haben sich in den ersten Stunden der Putschnacht noch darüber gefreut, die Türkei werde am nächsten Morgen als ein demokratischeres Land aufwachen. Ihnen ist der ferne Triumph über ihre politische Hassfigur wichtiger, als das Leben von Millionen von Menschen unter einer Militärdiktatur.
Die Möglichkeit, dass die Türkei im Chaos ägyptischen oder gar syrischen Ausmaßes versinkt, bedeutet ihnen weniger, als die Freude ihrer politischen Klientel, mit der sie vereint sind in einer abgrundtiefen Verachtung gegenüber den Selbstorganisationen, die türkischstämmige Menschen hier in Deutschland aufgebaut haben.
Es sind diese politischen Hassprediger, die sich über vermeintliche „lange Arme“ der türkischen Politik in Deutschland beklagen, obwohl sie selbst die letzten Parlamentswahlen in der Türkei durch parteipolitische Propaganda zum Gegenstand der deutschen Innenpolitik gemacht haben.
Sie sind es, die die Ereignisse der Putschnacht in der Türkei über eine Medienlandschaft verfolgen, die stundenlang um den Erfolg des Putschversuchs bangt und dann nach seinem Scheitern wohlfeil – im Ton des „Was hätte man besser machen können?“ – darüber sinniert, weshalb der Putsch erfolglos geblieben sein mag. So, als ginge es um die taktische Nachbesprechung eines Testspiels der deutschen Fußballnationalmannschaft.
Für die türkischstämmigen Menschen in Deutschland war die Putschnacht mehr, als nur spannende Breaking News. Sie haben die Ereignisse jener Nacht unmittelbar durch Schilderungen ihrer Angehörigen, durch Anrufe, SMS, WhatsApp-Nachrichten und Tweets mitverfolgt. Da ging es nicht darum, was für oder gegen einen Militärputsch spricht, welche politischen Sandkastenspiele nun durchgespielt werden. Es ging um ihre Existenz, die Zukunft ihrer Angehörigen und auch die Zukunft eines Landes, das sie angesichts dieser teilnahmslosen emotionalen Kälte der hiesigen Berichterstattung und politischen Kommentierung noch intensiver als Heimat erleben, als es nach 50 Jahren Migrationsgeschichte eigentlich zu erwarten wäre.
Der DITIB nun vorzuwerfen, dass sie diese Gefühle und Spannungen in ihrer Freitagspredigt thematisiert, ihnen eine Stimme gibt, die empathisch zu artikulieren es der gesamten politischen und medialen Landschaft bis zum heutigen Tag nicht gelingt, zeugt von einer Ignoranz sondergleichen. Die Freitagspredigt der DITIB ist kein „politisches Machwerk“, kein Zeichen der politischen Fernsteuerung. Sie mag holprig formuliert sein. Sie ist aber dennoch ein deutliches Signal der Empathie und des Nachempfindens der Situation, in der sich unzählige Menschen in Deutschland vollkommen alleingelassen, ja teilweise verhöhnt fühlen.
Diese Gefühle aufzunehmen, Ihnen Verständnis entgegenzubringen und sie sinnvoll in die Bahnen rechtsstaatlicher und friedlicher Ausdrucksformen zu lenken, wäre eigentlich Aufgabe der hiesigen Politik gewesen. Die ist jedoch mit politischen Hasspredigten gegen die DITIB beschäftigt, die gerade diese Lücke füllt und ihrer gesellschaftlichen Verantwortung als Religionsgemeinschaft auch in schweren Zeiten nachkommt.
Auch in Reihen der DITIB mag es Personal geben, das sich falsch verhält. Dieses inakzeptable Verhalten steht aber in krassem Widerspruch zu der eindeutigen Haltung der DITIB. Diese Fälle als repräsentativ für die DITIB darzustellen, denunziert 99% der Gemeinden und reproduziert nichts anderes, als das rechtspopulistische Narrativ, nach dem die Ausnahme stets die Regel sei. Das ist nichts anderes als die AfD-isierung der Politik quer durch alle Parteien.
Statt jetzt die demokratischen Reihen zu schließen und gemeinsam gegen Gewalt und Extremismus vorzugehen, wird die größte Selbstorganisation der Muslime in Deutschland als Feind der Demokratie markiert und als größte Gefahr für diese Gesellschaft gebrandmarkt. Und gleichzeitig soll jede Kritik an diesem Vorgehen als „Opferhaltung“ delegitimiert und zum Schweigen gebracht werden.
Die Politik beweist damit gegenwärtig, dass sie jegliche empathischen Bande zu den türkischstämmigen Menschen in Deutschland verloren oder vielleicht sogar bewusst aufgegeben hat. Wenn davon die Rede ist, dass die Politik die Ängste und Sorgen der Bürger ernst nehmen muss, scheinen damit offenbar nur antimuslimische Ressentiments gemeint zu sein.
Diese Gleichgültigkeit gegenüber den Gedanken und Empfindungen türkischstämmiger Menschen in Deutschland hat nun ihren traurigen Tiefpunkt erreicht, wenn unmittelbar nach einem Terroranschlag eines türkenfeindlichen Gestörten oder eines gestörten Türkenfeindes in München – wenigstens darüber sollte gesellschaftlich diskutiert werden, bevor man wieder zur Tagesordnung zurückkehrt – die politischen Hassprediger wieder in eine irrationale Stigmatisierung der DITIB zurückfallen und den appellativ-rituellen Kern eines muslimischen Gottesdienstes als „Machwerk“ bezeichnen.
Der Marianengraben ist mit mehr als 11.000 Metern die tiefste Stelle des Weltmeeres. Tiefer kann man nicht mehr sinken.