Ramadan – Eine Retrospektive

Er ist vorbei, der diesjährige Ramadan. Es war in der Rückschau ein Ramadan, der durch die öffentliche Berichterstattung über islamische Religionsgemeinschaften überlagert, als seltsam profan und schal empfunden werden konnte. Er war gekennzeichnet von vielen Absurditäten und Abgründen in und um die muslimischen Community, die erst jetzt – nach den Feiertagen – kritisch besprochen werden können. Für die Feiertage galt eine selbstverordnete Regel: Kein Klagen, kein Kritisieren. Nur Freude. Sie war sehr schwer einzuhalten.

Den Auftakt des Ramadan prägten die Debatten um die Armenier-Resolution des Bundestages. Diese politischen Diskussionen haben den Zustand insbesondere der türkisch-muslimischen Community in bedrückender Weise offengelegt. Man muss rückblickend feststellen, dass – teilweise bis in die muslimischen Organisationen hinein – das Selbstverständnis von religiöser Gemeinschaft und die Sensibilität für die Unterschiede von politischen Interessenvertretungen zu religiösen Organisationen problematische Konturen aufweist.

Gerade nationalistische Kleinstgruppierungen haben mit ihrem kopflosen, eruptiven und völlig überzogenen Wüten bar jeder Rationalität oder gesunden Menschenverstandes deutlich gemacht, dass mittlerweile eine populistische Fraktion irrationaler Hetzer innerhalb der türkisch-muslimischen Community entstanden ist. In ihrer vollständigen Abkehr von den sozialen Wirklichkeiten einer hier in Deutschland gelebten Existenz, wirken sie in ihrer Form chauvinistisch-vulgär und in ihrem Inhalt vollkommen destruktiv. In ihrem selbstbehaupteten Anspruch, identitätswahrend und –verteidigend zu handeln, greifen sie exzessiv-wahnhaft alles und jeden an, der nicht in vollkommener Kongruenz zu ihnen zu denken, zu sprechen und zu handeln bereit ist. Sachliche Differenzierung ist ihnen fremd, der Pöbel ihr Adressat und die plumpe Obszönität ihr Werkzeug.

Wie wenig glaubhaft ihre vorgebrachten Motive sind, wird daran deutlich, dass aufgrund ihrer Agitation und ihrer Tobsucht Iftar-Empfänge bzw. –Einladungen abgesagt werden mussten. Das war bislang keiner islamfeindlichen Gruppierung gelungen. Mit angedrohten Moscheeblockaden und Iftar-Randalen die Kontinuität religiöser Traditionen in Frage zu stellen, ist die traurige Errungenschaft dieser Kreise. Es muss uns alarmieren, wenn solche Gruppen selbst bis in organisierte Strukturen der muslimischen Community hinein anschlussfähig sind und vereinzelt Zuspruch finden. Populistische Agitation kann nicht die Haltung sein, mit der religiöse Organisationen ihre Auffassungen und Positionen vertreten. Ebenso haben Individuen, die in Manier einer privaten Stasi mittels Verleumdungen und übelster Diffamierung versuchen, sich solchen populistischen Agitatoren anzudienen, keinen Platz innerhalb religiöser Organisationen. Diese Niedertracht und charakterliche Deformation hat unter dem Dach von Organisationen, die sich als „islamisch“ bezeichnen, nichts zu suchen.

Keine muslimische Organisation hat sich indes zu diesen Themen öffentlich positioniert. Den Mut, in dieser problematischen Konstellation eine Haltung als Religionsgemeinschaft vorzuleben, hat nur die DITIB bewiesen. Sie ist die einzige religiöse Organisation, die sich im Vorfeld der Bundestagsresolution kritisch aber sachlich und mäßigend zum Gegenstand der Debatte positioniert hat. Sie ist die einzige muslimische Organisation, die am 07.06. auf dieser Seite und am 08.06. auf ihrer offiziellen Webseite eindeutig und unmissverständlich zu den Bedrohungen von Bundestagsabgeordneten Position bezogen hat. Gleichwohl wurde ihr am 09.06. durch den Bundestagspräsidenten mittelbar vorgeworfen, sie würde zu den Ereignissen schweigen. Eine bemerkenswerte Wahrnehmung oder eher Wahrnehmungsverweigerung, die eine weitere Absurdität in der Entwicklung der öffentlichen Debatten erkennbar werden lässt.

Wir befinden uns mitten in einer kampagnenhaften Diskreditierung des religiösen Personals und des Gesamtverbandes der DITIB. Es wirkt wie die Vorbereitung österreichischer Entwicklungen, wenn in unbegründeter Weise kollektiv die religiösen Dienste der DITIB als untauglich, ja gesellschaftsschädlich charakterisiert werden und die Forderung nach entsprechenden Verbotsgesetzen zwischen den Zeilen mitschwingt. Die inhaltlichen Argumentationslinien und das Personal dieser Kampagne sind an Kuriosität kaum zu überbieten.

Da gibt es innermuslimische, sektiererische Einzelkämpfer, die aus einer religiös-ideologischen Motivation heraus den Mainstream der Muslime in Deutschland ins Visier nehmen und denen es gelungen ist, ihren religiösen Feldzug als „Verbandskritik“ zu tarnen und ihren öffentlichen Förderern weiszumachen, sie würden aus einer „liberalen“ Haltung heraus kritisieren.

Dann gibt es wieder Vertreter der breiten Front von 82 Millionen Islamexperten in Deutschland, die bar jeder praktischen Kenntnis von der Gemeindewirklichkeit und in völliger Ignoranz 30-jähriger Gemeindearbeit mit der frei aus der Hüfte geschossenen These Gehör finden, die DITIB Imame seien radikalisierende Hassprediger.

Nicht fehlen dürfen muslimische Theologen, die in Wirklichkeit keine sind. Als Pädagogen oder Soziologen erklären sie einem interessierten Publikum, dass es eine denklogische und auch ganz praktische Linie gebe, zwischen extremistischen Attentätern, ihren wahhabitischen Förderern in Saudi-Arabien und den muslimischen Organisationen in Deutschland. Eines Beweises solcher steiler Thesen bedarf es gar nicht mehr. Ihre ständige Wiederholung genügt als Evidenz. Ohne rot zu werden, werden islamische Religionsgemeinschaften in Deutschland kriminalisiert und ihre religiöse Sensibilität zu einer quasi-terroristischen Bedrohung verzerrt. Solche Akteure behaupten, mit diesen Thesen eine schweigende Mehrheit zu vertreten und wundern sich aktuell, warum Muslime ihnen nicht zu folgen bereit sind.

Diese Haltung ist das Resultat der tatsächlichen Umstände, die solchen Hochschullehrern verborgen bleibt: Es gibt eine nicht unerhebliche Zahl an Personen, die nicht wegen ihrer fachlichen Eignung in akademische Würden aufgestiegen sind. Sie sind vielmehr die Posterboys der islamischen Theologie, die auch der nichtmigrantischen alleinstehenden Endvierzigerin glaubhaft vermitteln sollen, dass man sich vor islamischer Theologie an deutschen Hochschulen nicht zu fürchten braucht und dass das etwas ganz Kuscheliges und Angenehmes sein kann. Das ist ihre politische Funktion. Mehr wird von ihnen gar nicht erwartet.

Geringschätzen darf man diese Funktion indes auch nicht, weil man ihretwillen ganz offensichtlich die absurdesten Konstellationen zu dulden bereit ist. Die schillerndsten Vertreter dieser Zunft machen ja praktisch mit jedem zweiten öffentlichen Statement deutlich, dass sie die islamischen Religionsgemeinschaften abgrundtief verachten und ihre Existenzberechtigung in Frage stellen. Sie kooperieren ganz offen mit politischen Kräften, die den islamischen Religionsgemeinschaften gerade diese verfassungsmäßige Eigenschaft, Religionsgemeinschaft zu sein, absprechen. Gleichzeitig proklamieren sie in offiziellen Gesprächen, dass sich an der verfassungsrechtlichen Grundlage ihrer Lehrbefugnis, nämlich ihrer Zusicherung, die eigene Forschung und Lehre in Übereinstimmung mit den Grundsätzen eben jener Religionsgemeinschaften zu gestalten, nichts geändert habe. Jede Bauchtanztruppe wäre neidisch angesichts dieser Verrenkungskünste.

Die Politik und Verwaltung ist bereit, diese Absurditäten schönzureden und weiter hinzunehmen. Ihre Flexibilität ordnet jedes fachliche, rechtliche oder ethische Gegenargument dem Werbezweck unter, den diese Akteure erfüllen. So wundert es auch nicht, dass aus diesen akademischen Kreisen immer wieder der Vorwurf erhoben wird, die DITIB Imame würden sich nur für 5 Jahre in Deutschland aufhalten, die Lebenswirklichkeit hier nicht kennen und seien als solche „Import-Imame“ ungeeignet für religiöse Dienste. Die Gegenprüfung hat bislang noch niemand gewagt: Was qualifiziert einen Import-Professor, der kaum mehr als 5 Jahre in Deutschland lebt, also die Lebenswirklichkeit der über 30-jährigen islamischen Religionsgemeinschaften hier gar nicht kennt, eigentlich dazu, Thesen für eine islamische Theologie in Deutschland zu formulieren und sich bewertend zu den hiesigen Selbstorganisationen der Muslime zu äußern, mit denen ihn mehrheitlich aber auch gar nichts – weder sprachlich, noch kulturell, noch biographisch – verbindet?

Für solche akademischen Kreise gilt das, was Thomas Fischer jüngst in einem anderen Zusammenhang geschrieben hat: (Zitat) „Sie bestimmen die Tonlage, obgleich sie nicht die Mehrheit sind. Sie sind wie alle Fanatiker: Nichts gilt ihnen außer der eigenen Wahrheit, die sie mit verstellten Mikroskopen noch aus den Fußnoten der harmlosesten Werke filtern; jeder Kritiker ist ein Feind, jedes Gegenargument eine neue Kriegserklärung; eigene Fehler sind schlimmstenfalls unwichtige Verirrungen auf dem Weg zum Paradies.“ (Zitat Ende)

Den vorläufigen Höhepunkt dieses Kuriositätenkabinetts markiert ein Notfallmediziner, der sich ganz offensichtlich während seines Bereitschaftsdienstes zum Islam- und gleichzeitig auch Türkeiexperten fortgebildet haben muss. Er glänzt mit der in der Jüdischen Rundschau veröffentlichten These eines vermeintlich in den religiösen Urquellen des Islam und der kollektiven türkischen Seele verankerten genozidalen turko-muslimischen Welteroberungskonzepts. Also die These einer zersetzenden muslimischen Weltverschwörung. Wohlgemerkt, veröffentlicht in der Jüdischen Rundschau. Wie sind wir an diesem Punkt angelangt, ohne dass sich jemand über diese Entwicklung wundert?

 

Ausklingen soll diese Nachbetrachtung mit der Beschreibung jenes Zustandes, der unsere weiteren Debatten prägen wird. Wir haben eine Situation erreicht, in der die Kampagne gegen die DITIB und damit exemplarisch gegenüber der größten muslimischen Religionsgemeinschaft, erkennbar werden lässt, wohin die Reise geht.

Der Verfasser dieser Zeilen muss in seiner Funktion als Vertreter einer Religionsgemeinschaft sich immer dort kritisch zu Wort melden, wo er die rechtlichen und tatsächlichen Interessen der Mitglieder seiner Religionsgemeinschaft gefährdet sieht. Das ist die legitime und erforderliche Rolle einer Religionsgemeinschaft und ihrer Vertreter. Aktuell reicht es aber aus, wenn er die Verfassungswidrigkeit staatlichen Handelns kritisiert, um von ministeriellen Vertretern als „türkischer Staatsterrorist“ diffamiert zu werden. Natürlich nicht von Angesicht zu Angesicht, sondern – schön diplomatisch – in Abwesenheit. Es reicht aus, wenn er als Gast der Initiative „Muslime in der Union“ an einem Iftar-Empfang junger muslimischer CDU-Mitglieder teilnimmt, dass diese Initiative öffentlich als fremdstaatliche, türkische Unterwanderungsbewegung diffamiert wird. Wohlgemerkt, eine Initiative von jungen Menschen, die aus ihrem Glauben heraus sich aktiv für die Demokratie in Deutschland engagieren wollen.

Das sind repressive Mittel der Feindmarkierung und der faktischen Eliminierung aus dem öffentlichen Diskurs. Getragen von der bisweilen wahnhafte Züge annehmenden Erdogan-Obsession der politischen und medialen Landschaft, wird jeder inhaltliche Widerspruch, jede noch so vorsichtige Kritik von DITIB-Vertretern als „Erdogan-nah“ in die Illegitimität verwiesen. So lässt sich trefflich jeglicher inhaltliche Diskurs, jede kritische Nachfrage unterbinden. Wie „aufgeklärt“ das ist, mögen die Leserinnen und Leser selbst würdigen.

Vor dem Hintergrund all dieser diskursiven Erfahrungen im Ramadan muss auch das tatsächliche Engagement der islamischen Religionsgemeinschaften und ihrer Gemeinden wahrgenommen werden. Denn das ist im Gegensatz zu den Unheilsbotschaften der zahllosen selbsternannten „Islamexperten“ die tatsächliche gesellschaftliche Realität:

Über 300 DITIB-Gemeinden haben während des Ramadan täglich Iftar-Mahlzeiten (Fastenbrechen) für Flüchtlinge angeboten. Über 380 DITIB-Gemeinden haben an Wochenenden Iftar-Mahlzeiten angeboten. Gemeinsam haben diese Gemeinden im Ramadan über 650.000 Mahlzeiten an Flüchtlinge ausgegeben.

Über 200 DITIB-Gemeinden haben außerhalb ihrer Gemeinden Essen und über 400 Gemeinden Bekleidung an Flüchtlinge verteilt.

Auf Wunsch und nach Bedarf der Flüchtlingseinrichtungen hat die DITIB bundesweit über 31.000 Korane und über 33.000 Gebetsteppiche an Flüchtlinge verteilt.

Fast 2.000 Flüchtlingskinder werden an den Wochenenden gemeinsam mit den ortsansässigen Kindern in den DITIB-Gemeinden unterrichtet.

In über 200 DITIB-Gemeinden lernen knapp 8.000 Flüchtlinge in regelmäßigen Kursen die deutsche Sprache.

Das sind die Zahlen allein in den DITIB-Gemeinden. Das ist das ehrenamtliche Engagement der DITIB-Mitglieder.

Um die Arbeit in der Flüchtlingshilfe in den Moscheen besser zu strukturieren und nachhaltig aufrecht zu erhalten, trägt der DITIB-Bundesverband zwei laufende Projekte. Mit dem Projekt „Muslimische Gemeinden bilden Patenschaften“ unter dem Slogan „Gegenwart – Geschwisterlich – Gestalten“ wird die schnellere Integration/Inklusion der Flüchtlinge in die Gesellschaft gefördert. Das Projekt richtet sich an ehrenamtliche Helfer in den Moscheegemeinden, die sich in persönlichen Patenschaften um geflüchtete Menschen kümmern und sie im Alltag begleiten.

Bei einem weiteren Projekt werden zusammen mit den Projektpartnern (VIKZ, ZRMD, IGBD und AMJ) bundesweit 34 Flüchtlingsbeauftragte geschult, die wiederum unter dem gemeinsamen Motto „Moscheen fördern Flüchtlinge“ 750 Multiplikatoren in den einzelnen Moscheegemeinden bundesweit als Flüchtlingsbeauftragte qualifizieren, damit diese dann in ihren Gemeinden weitere Unterstützung und Hilfe für Flüchtlinge realisieren können.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Es sind nicht die Muslime, die sich in einer vermeintlichen Parallelgesellschaft verschanzt haben. Mehrheitlich engagieren sich Muslime – gerade unter dem Dach ihrer islamischen Religionsgemeinschaften und in ihren Moscheegemeinden und im Falle der DITIB auch mit der großen Unterstützung ihrer vermeintlich so gesellschaftsschädlichen Imame – für diese Gesellschaft, für ihre deutsche Heimat. Ihnen gegenüber stehen laut redende aber wenig im Interesse der Muslime konkret handelnde „Islamexperten“, die – häufig genug importiert, erst seit wenigen Jahren in Deutschland lebend – nicht in den hiesigen islamischen Religionsgemeinschaften sozialisiert sind.

Sie haben die Erfahrung gemacht, dass man nur häufig genug von „Aufklärung“, „Humanismus“, „liberal“, „modern“, „Reform“ reden und am besten die etablierten Religionsgemeinschaften diffamieren muss, um als Heilsbringer hofiert zu werden. Substantielle Nachfragen, kritisches Nachsetzen müssen sie nicht fürchten. Um sie herum hat sich bereits eine Parallelgesellschaft formiert, die diese repetitiven, redundanten und selbstreflexiven Narrative und Akteure eines vermeintlich „aufgeklärten Islam“ im Gegensatz zu einem vermeintlich gesellschaftsbedrohlichen „konservativen Islam“ der etablierten islamischen Religionsgemeinschaften in Stellung bringt und eine „Aufklärung und Reform des Islam“ fördert. Im Namen einer vorgeblichen Aufklärung wird der Islamdiskurs in Wirklichkeit aber zunehmend entdemokratisiert und jede inhaltliche Gegnerschaft in quasi kulturrevolutionärer Selbstermächtigung disqualifiziert.

Erschreckend ist die immer häufiger erkennbare Selbstgewissheit, mit der diese Methode praktiziert wird. Gerade bei „liberalen“ muslimischen Akteuren erkennt man nirgends den geringsten Hauch des Selbstzweifels oder der kritischen Reflexion. Nirgends hört man ein „Allah weiß es besser“. Stattdessen scheint sich den überzeugten muslimischen Reformatoren und ihren Sekundanten wenn überhaupt nur noch eine Frage zu stellen: „Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein?“