„Hass gleicht einer Krankheit, dem Miserere, wo man vorne herausgibt, was eigentlich hinten wegsollte.“ – Johann Wolfgang von Goethe
Die Ereignisse nach der Bundestagsresolution vom 02.06.2016 machen auf vielfältiger Ebene und im Zusammenhang mit den unterschiedlichsten Akteuren deutlich, welche dramatische Erosion unsere gesellschaftlichen Umgangsformen erfahren haben. Der Begriff Erosion ist, angesichts der rasanten Verrohung des Diskurses und seiner Protagonisten, wohl zu euphemistisch. Es ist vielmehr ein Steinschlag ordinärer, hämischer Verachtung, der sich überall Bahn bricht. Mal knapp verhüllt im scheinbar souveränen Gewand der Ironie, dann wieder als unverhohlene Pöbelei, die jede Behauptung kritischer Sachlichkeit als trügerische Tarnung entlarvt.
Das mit den einleitenden Sätzen beschriebene Niveau der Debatte wird von allen Seiten aktiv unterboten. Exemplarisch sei nur auf den Iftar-Abend des 24.06.2016 in der DITIB Zentralmoschee in Köln verwiesen. Neben mir saß der Bundestagsabgeordnete und religionspolitische Sprecher der Grünen Volker Beck. Während der Grußworte des Gastgebers war sein Mitteilungsbedürfnis via Smartphone kaum zu bremsen. Auf Instagram postet er: „Der türkische Botschaftsrat und Bundesvorsitzender der deutschen (!) DITIB, Prof. Nevzat Asikoglu, begrüßt zum Iftar, kritisiert die Armenienresolution des Bundestages, verurteilt Gewalt und behauptet, es gäbe keinen politischen Einfluss aus Ankara.“
Er ergänzt: „Ich finde es kommentiert sich von selbst, was der türkische Botschaftsrat da sagt“ und garniert seinen Kommentar mit einem Emoticon, das offenbar Scheinheiligkeit symbolisieren soll.
Zwischen ihm und dem Bundestagsabgeordneten Özcan Mutlu folgt diese Konversation:
Özcan Mutlu: „Sei froh! Du wirst wenigstens eingeladen, du Biodeutscher. Wir müssen noch einen Bluttest machen.“ (Özcan Mutlu findet das so lustig, dass er drei tränenlachende Emoticons hinzufügt.)
Volker Beck: „Özoguz hat den Test wohl bestanden, sie bekam etwas zu essen.“
Wohlgemerkt entsteht dieser Dialog anlässlich einer Begegnung, bei der die DITIB als Gastgeber die Resolution des Bundestages deutlich kritisiert, aber ebenso deutlich die Bedrohung der Bundestagsabgeordneten verurteilt. Das Motto des Abends lautet: „Lasst uns Herzen versöhnen!“ Volker Beck applaudiert mehrmals an diesem Abend, als die Redner dieses Motto aufgreifen und sich – bei aller unveränderten inhaltlichen Kontroverse – um Versachlichung der Debatte bemühen.
Wirklich erreicht, scheint ihn dieser Appell nicht zu haben. Es ist für ihn bequemer, bei seinen alten Feindbildern und Vorurteilsschablonen zu bleiben. Welche Verachtung und welcher Hass der DITIB aufgrund dieses Engagements um Sachlichkeit und Annäherung gerade aus der türkischen Community entgegen schlägt, scheint ihm unbekannt oder zumindest nicht von Interesse zu sein.
Allein die Doppelfunktion des Bundesvorsitzenden der DITIB als Botschaftsrat reicht für ihn aus, alle inhaltlichen Beiträge als irrelevant zu begreifen. Das Gerücht über die DITIB ist ihm genug. Die tatsächliche Arbeit, die Stellungnahmen der letzten Tage – praktisch die einzigen aus der türkisch-muslimischen Community – sind ohne Bedeutung.
Eine solche Politik des Ressentiments schadet der Glaubwürdigkeit von Politikern und der Politik insgesamt. Sie verrennt sich immer hartnäckiger in die eigenen Trugbilder, wie erst kürzlich wieder in dem Lale Akgün-Interview zum Moscheebau in Köln zu lesen war. Da meint die „Islamexpertin“ tatsächlich, es bestehe aus ideologischem Kalkül die Absicht, den Moscheebau niemals zu vollenden. Die Realität sieht freilich ganz anders aus. Aber wer lässt sich schon von der Realität überzeugen, sorgsam gepflegte Feindbilder aufzugeben?
„Wenn der Hass feige wird, geht er maskiert und nennt sich Gerechtigkeit.“ – Arthur Schnitzler
Schlimmer als diese nicht sonderlich überraschende politische Verkrustung antimuslimischer Narrative ist indes die geradezu beschämende Verfassung der türkischen Community in Deutschland. In nur drei Wochen haben Teile dieser Community sich selbst demaskiert und eine Fratze der Verrohung offengelegt, die zu allem im Widerspruch steht, was in der Selbstwahrnehmung über Generationen hinweg als „Muslimisch“ oder „Türkisch“ beschrieben worden ist. In der auf ordinärste Art und Weise eruptierenden Vulgarität ist selbst der kleinste Rest religiöser Tugend verdunstet. Ein Iftar-Empfang wird nur noch als „Abendessen“ begriffen, das islamische Friedensgebot als unverbindliche Empfehlung, die vor dem eigenen populistischen Eifer gefälligst zurückzutreten hat.
Gerade jene neoosmanischen Helden, die sich im Zusammenhang mit der Bundestagsresolution vorgeblich um das Ansehen ihrer Vorfahren sorgen, legen in ihrer kopflosen Rage und obszönen Pöbelei ein Benehmen an den Tag, für das sich bereits ihre Großeltern wohl abgrundtief geniert hätten – bei ihren Eltern darf man sich angesichts dieser Kinderstube wohl nicht mehr so sicher sein.
Ich mache hier gar nicht erst den Versuch, das Verhalten einer Religionsgemeinschaft zu erklären, die versucht, an der prophetischen Tradition orientiert und Offenbarungsverse als Richtschnur des Handelns begreifend, Frieden zu schaffen, Schlechtes mit Gutem zu begegnen, durch eigenes vorbildliches Handeln, die Fehler dessen zu kritisieren, dem man widerspricht. Mit Worten Gottes sind die Hassentbrannten längst nicht mehr zu überzeugen, wenn sie schon das Stadium der Verachtung erreicht haben, in dem sie öffentlich in niederträchtigster Gossensprache von Vertretern einer Religionsgemeinschaft als „Schlampen“ und „Verrätern“ schwadronieren.
Es sind Maulhelden, die sich aus der Anonymität heraus darüber empören, dass man Meinungsverschiedenheiten dem göttlichen Gebot entsprechend in der besten Weise austragen will. Denn zu ihren Methoden gehört mittlerweile das Verbreiten von Lügen und manipulative Provokation. Da wird öffentlich zu Übergriffen auf einen Iftar-Empfang aufgerufen, um sich dann darüber zu entrüsten, dass Polizeikräfte eine Moschee schützen. Es wird wahrheitswidrig behauptet, die Polizei habe Muslime am Iftar gehindert, obwohl unmittelbar an der Moschee wieder – wie jeden Abend im Ramadan – über 1.000 Menschen zum gemeinsamen Iftar empfangen wurden.
„Was wir hassen, ist die Projektion unseres Selbsthasses.“ – Andreas Tenzer
In der Denklogik dieser Hetzer ist jeder, der nicht genauso hasszerfressen ist wie sie selbst, ein Verräter. Gerade dieser Begriff des Verrats, das Bild des Verräters dominiert die aufwiegelnde Rhetorik. Es sagt dabei mehr über die Verwender aus, als über die Adressierten. Es offenbart gerade vor dem konkreten Hintergrund der Bundestagsresolution einen tiefsitzenden Selbsthass, der auf die Bundestagsabgeordneten und nun auch auf die DITIB projiziert wird.
Es ist die Wut auf das vielleicht nur unterbewusst empfundene, vielleicht sogar ansatzweise erahnte eigene Unvermögen, die eigene Position inhaltlich zu formulieren und dem Empfängerhorizont entsprechend zu artikulieren. Es mag Faulheit oder Kurzsichtigkeit oder faktische Talentlosigkeit sein, das sich als ausschlaggebend für die inhaltliche Substanzlosigkeit und Unbeholfenheit bei der Verteidigung eigener Positionen offenbart. Stattdessen wird – an politischer Naivität und Unkenntnis kaum zu überbieten – erwartet, Abgeordnete des deutschen Bundestages würden von sich aus, quasi einer genetisch-telepathischen Eingebung folgend, nicht eigenen oder parteipolitischen Interessen folgend abstimmen, sondern allein wegen der Phonetik ihres Namens eine Meinung vertreten, die man ihnen zuvor gar nicht kommuniziert oder erläutert und von der man sie nicht überzeugt hat.
Die migrantische Identität von Bundestagsabgeordneten wird als unausgesprochenes Versprechen türkischer Interessenvertretung verstanden. Meinung gilt also nicht als etwas, das durch Kommunikation und Argumentation gebildet wird. Das wäre auch viel zu anstrengend und würde ja professionelles Arbeiten politischer Lobbyisten voraussetzen. Nein, Meinung soll quasi als per Abstammung überlieferte kulturelle Mitgift unausgesprochen empfunden und vertreten werden.
Im Grunde ist dies in doppelter Hinsicht eine heuchlerische Haltung. Denn es ist nicht nur ein Verhalten, für das die populistischen Hetzer kurdischstämmige oder armenischstämmige Abgeordnete des türkischen Parlamentes wiederum als „Verräter“ schelten würden. Es ist auch nichts anderes, als das islamfeindliche Narrativ des homogenen, einheitlichen und durch Glaubensbekenntnis gleichgeschalteten Muslim im hier identitätspolitischen Gewand.
Das islamfeindliche Bild des Muslim als illoyaler „Volksverräter“, das in der rechten Szene kursiert, wird gleichsam gespiegelt und ein politisches Mandat als fremdkultureller Schuldschein begriffen, der den Schuldner zum „Verräter“ macht, sobald er sich weigert, diesen auf Abruf einzulösen. Damit wird gleichzeitig das ebenfalls islamfeindliche Bild des türkisch-muslimischen Trojanischen Pferdes bedient, in dem Muslime/Türken nur als feindliche Schläfer existieren.
In den Gewalt- und Vernichtungsphantasien, die nicht nur die Bundestagsabgeordneten, sondern auch die DITIB ins Visier nehmen, wird letztlich die standrechtliche Bestrafung des „Verräters am eigenen Volk“ gefordert. Dieses Zur-Rechenschaft-Ziehen unterscheidet sich in Nichts von den perfiden Rachegelüsten der rechten „Nürnberg 2.0“ Aktivisten, die sich schon in die Rolle der Richter und Vollstrecker zukünftiger Todesurteile fiebern.
Bei all diesen Gemeinsamkeiten der Denkmuster und Narrative muss man zwangsläufig zu dem Schluss kommen, dass nun auch die türkische Community in der Hitze des dumpfen Hasses ihre eigenen Nazis ausgebrütet hat. Gratulation.
Dieses Phänomen fällt den türkischen Populisten in ihrer selbstgerechten, pegidahaften Borniertheit nicht einmal auf. Sie zitieren sogar PI-News als Quelle ihrer „Beweisführung“ gegen die DITIB und solidarisieren sich damit faktisch mit kategorischen Muslim- und Türkenhassern gegen eine islamische Religionsgemeinschaft. Und ihr intellektuell ebenfalls vergleichbares Niveau offenbaren sie in dem Detail, dass auch sie den Namen ihres Feindbildes häufig genug falsch schreiben: „DITIP“.
„Scheußlichkeiten kommen stets aus einer kleinen Seele, die nötig hat, sich Geltung zu verschaffen.“ – Henri Stendhal
Gerade Vereine und Akteure, die sich der politischen Interessenvertretung verschrieben haben, sind das ganze vergangene Jahr seit April 2015 in völliger Untätigkeit versunken. Stilistisch und inhaltlich unfähig, die eigenen Positionen in den politischen Betrieb zu transportieren oder auch nur für das eigene Publikum auszuformulieren, gehen sie jetzt als Erste auf die Barrikaden, um wieder nichts anderes zu beweisen, als ihre völlige Unkenntnis von den hiesigen sprachlichen und kulturellen Codes, als ihren tiefen Autismus gegenüber politischen und kulturellen Assoziationsräumen in Deutschland.
Da wird in der inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Gegenstand der Bundestagsresolution hartnäckig die Formulierung „Völkermordlüge“ verwendet. Ganz offensichtlich in völliger Unkenntnis des Begriffs der „Auschwitzlüge“ im Kontext des Holocausts. Damit suggeriert man eine Gemeinsamkeit mit Holocaustleugnern aus dem rechtsextremen Milieu und verwischt jede Möglichkeit, die gravierenden historischen und politischen Unterschiede zwischen diesen Ereignissen herauszuarbeiten. Niemandem fällt auf, dass ein solcher gedanklicher und sprachlicher Ansatz eine Nähe zu inakzeptablem Gedankengut herstellt und dadurch von vornherein jede Nachvollziehbarkeit der eigenen Position unmöglich macht.
Jeder berechtigte Hinweis auf die massenhafte Vertreibung und Ermordung von Muslimen an den Rändern des zerfallenden Osmanischen Reiches und damit ein wichtiger Zusammenhang in der Betrachtung der Ereignisse ab 1915 wird so eigenhändig zur geschichtsvergessenen Relativierung und Opferaufrechnung degradiert, mit der die rechte Szene Dresden gegen Auschwitz ins Feld führt.
Die zum Himmel schreiende Dummheit dieses Vorgehens gilt als vorbildliche Verteidigung des historischen Ansehens der türkischen Nation. Die Weigerung der DITIB hingegen, als Religionsgemeinschaft bei diesem hanebüchenen Dilettantismus mitzumachen und stattdessen ihr Engagement im Rahmen der einer solchen Gemeinschaft gebührenden Form für Austausch, Diskussion, Kritik und Verständigung einzubringen, gilt als niederträchtiger Verrat. Umso trauriger ist es, dass selbst bei der DITIB einige wenige geistig Minderbemittelte diesen Unterschied nicht erkennen und sich an widerlicher Agitation und Propaganda beteiligen. Sie sollten schnellstens erkennen, dass sie mit ihrer Demagogie bei einer islamischen Religionsgemeinschaft an der falschen Stelle sind.
Weil offensichtlich Talent und Überzeugungskraft für ernste, langfristige politische Arbeit fehlt, entschließen sich einige Akteure dann auch noch, segregierende Parteien zu gründen. Sie setzen vollständig auf den kurzfristigen Effekt und den billigen Applaus der Fankurve – und erkennen wieder nicht, wie weit sie von den gesellschaftlichen Realitäten entfernt sind: Sie freuen sich wahrscheinlich prächtig über die plumpe Vermittlung von Eroberungsphantasien mittels Zahlencodes und halten das für einen gelungenen Kniff. Und wissen ganz offensichtlich nicht, in welchem Milieu solche Kommunikationsmittel, etwa wie „18“, „88“, „444“, „19/8“, „1919“ oder „1488“, genutzt werden. Fulminanter kann man sich selbst gleich zu Beginn seines Vorhabens nicht ins gesellschaftspolitische Abseits schießen.
„Man hasst nicht, so lange man noch gering schätzt, sondern erst, wenn man gleich oder höher schätzt.“ – Friedrich Nietzsche
Ist die Pegida ein Sammelbecken für die Zu-Kurz-Gekommenen, für die Frustrierten, für die Wütenden, die sich ein Feindbild aufbauen, dem sie alles Übel zuschreiben können, um sich dann daran abzuarbeiten und sich nicht der eigenen Unzulänglichkeit stellen zu müssen, ist das nationalpopulistische Segment der türkischen Community, die türkische Pegida, eine Heimat der Nichtangekommenen, der insgeheim von sich selbst Enttäuschten und derjenigen, die ahnen, dass sie von den eigenen Fähigkeiten her nicht in der Lage sind, ihre Meinung überzeugend zu vertreten. Deshalb fliehen sie in die Geringschätzung anderer, in die Diffamierung, in die Bedrohung, in ein gesellschaftspolitisches Tourette.
Sie sind – unabhängig von der Frage, ob sie inhaltlich richtig liegen – tatsächlich unfähig, ihre Argumente schlüssig vorzutragen, überzeugend zu verteidigen und langfristig wirksam zu kommunizieren. Und dessen sind sie sich bewusst. Denn niemand, der seinen Fähigkeiten vertraut, verliert sich in Schimpftiraden. Niemand, der seinen Argumenten vertraut, wählt den Weg der Isolation. Niemand, der überzeugen will, beleidigt.
Alphonse Daudet beschreibt den Hass als den Zorn der Schwachen. Und wen hasst man am meisten? Die Zeugen seiner eigenen Schwäche, vor denen man sich blamiert hat.