Eilmeldung

Nach den jüngsten Terroranschlägen in Istanbul und Brüssel ist anzunehmen, dass die öffentlichen Reaktionsmuster unverändert bleiben. Das ist nicht gut. Denn unsere Reaktionsmechanismen führen zur Fossilierung unserer Sprache und unseres Denkens. Es lohnt sich, diese typischen Reflexe zu hinterfragen.

Von muslimischer Seite wird es wieder Verurteilungen hageln. Nicht irgendwelche, sondern „aufs Schärfste“. Mit Ausrufezeichen. Man gewinnt den Eindruck, durch die immer gleichen Worthülsen versuchten Muslime quasi durch die Anwendung eines maximalen rhetorischen Scoville-Grades zukünftigen Attentätern den Appetit auf noch mehr Mord und Gewaltexzesse zu verderben. Es wird nicht fruchten. Die Täter handeln nicht aus religiösen Überzeugungen. Deshalb können sie auch nicht durch den Widerspruch religiöser Instanzen von ihrem Weg der Gewalt abgebracht werden.

Die nichtmuslimische Öffentlichkeit wird ebenfalls vorhersehbar reagieren. Die Anschläge werden als Angriff auf „unsere Werte“, „unsere Freiheit“ verdammt. Es folgen Appelle, unsere bürgerlichen Freiheiten zu verteidigen und den Tätern durch die Infragestellung dieser Freiheiten keine Genugtuung zu verschaffen. Der Terror wird als Eskalation eines freiheitlichen Kulturkonflikts begriffen. Durch den Rekurs auf die eigene Kultur wird der Terrorist als fremder, äußerer Feind analysiert. Auch dieser Ansatz ist eine Sackgasse. Die Täter handeln nicht aus kulturellen Überzeugungen. Deshalb können Sie auch nicht durch die Überlegenheitsbehauptung einer Kulturdebatte überzeugt werden, sich nicht in die Luft zu sprengen.

Es geht den Tätern um etwas anderes. Es geht den Tätern darum, die Verletzlichkeit im Herzen Europas spürbar zu machen. Im Herzen seiner Großstädte. In den pulsierenden Adern und Zentren seiner gesellschaftlichen Prosperität. Auch dort soll es Schmerz, Not und Verlust geben. Die von ihrer kulturellen Überlegenheit überzeugte europäische Gesellschaft soll auf das gleiche emotionale Niveau gebombt werden, die gleiche Verzweiflung und Ratlosigkeit spüren, wie sie in den arabischen Ländern und den arabischen Vorortnachbarschaften der europäischen Großstädte präsent sind.

Es geht um das nicht eingehaltene Versprechen von Freiheit und Gleichheit. Gerade auch im Sinne von Gleichheit im und Freiheit durch Wohlstand. Das ist die viel wirkmächtigere Motivation, mächtiger als jedes tatsächliche oder behauptete religiöse Motiv.

Es geht viel mehr um die Bestrafung aus Enttäuschung, als um irgendein Glaubenskonzept. Es sind nicht Fremde, mit fremden Glaubenswelten, die hier zum Feind werden. Es sind die enttäuschten Kinder unseres gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systems, die sich gegen ihresgleichen wenden. Die sich zornentbrannt gegen ihre Geschwister wenden, deren Aufstieg für sie selbst unerreichbar bleibt. Die Attentäter lösen das ihnen gegenüber gebrochene Versprechen in der ihnen bekannten Währung ein. Wenn schon nicht Gleichheit im Aufstieg und Erfolg, dann wenigstens Gleichheit im Schmerz und in der Verzweiflung.

Es ist vor diesem Hintergrund auch kein Zufall, dass dieses Phänomen des nihilistischen, rachsüchtigen Terrors gerade in einer Zeit eskaliert, in der die Globalisierungseffekte in allen Gesellschaften spürbar werden. Die arabischen Ursprungsländer sind nicht mehr in exotischer Ferne. Sie sind unmittelbare Nachbarschaft im globalisierten Weltdorf.

Die Phänomene des globalen Aufstiegs und Niedergangs werden nun deutlicher als je zuvor als zusammenhängend begriffen. Der universelle Anspruch des westlichen Gesellschaftsentwurfs und Freiheitsverständnisses entlarvt sich als eine auf Kosten anderer aufrechterhaltene Illusion, als zynische Heuchelei.

Diese Wut, um die eigene Zukunft betrogen worden zu sein, wirkt als die größte Triebfeder des Terrors. Um es drastischer auszudrücken: Es geht den jungen Männern nicht um das vermeintliche Versprechen, im Jenseits über 72 Jungfrauen verfügen zu können. Keine jenseitige Hedonismusphantasie kann so viel Anziehungskraft entfalten, wie die kleinste Aussicht auf persönliches irdisches Glück.

Wäre es anders, kämen nicht so viele Täter aus dem kleinkriminellen Milieu, in dem sie an den Versuchen gescheitert sind, sich mit Gewalt ihren Anteil an Erfolg und Glück zu nehmen. Wäre es anders, würde der der Religion immanente Aufruf zur mühsamen persönlichen Läuterung mehr Gehör finden, als Narrative der Strafe und Vergeltung. Wäre es anders, jeder zweite pubertierende Muslim würde in Vorortzügen explodieren.

Es geht den Tätern nicht darum, in einem späteren jenseitigen Leben potent und mächtig zu sein. Sie wollen sich vielmehr an denen rächen, die hier und jetzt mit ihrer wirtschaftlichen Potenz über alles und jeden verfügen, während sie selbst diesen Mächtigen die Burger einwickeln, den Moccacino einschenken und die Autos waschen.

Diese Wut kriegt keine Reformtheologie gebändigt. Weil sie sich nicht mit den wahren Motiven der Gewalt beschäftigt. Weil sie annimmt, das Islamverständnis sei entscheidend. Den Tätern geht es aber gar nicht um Religion. Sie steigern sich nicht in eine Religion, sie konvertieren – Muslime wie Nichtmuslime – ohne Umwege in den Terrorismus, in die Gewalt.

Und diese Gewalt ist nicht fremd, hat ihren Ursprung nicht in einer fremdartigen Religion oder unbegreiflichen Kultur. Sie entspringt der Einsicht oder zumindest der Ahnung, dass unser Wohlstand nicht das Resultat einer überlegenen Kultur oder Religion ist. Sie ist das Ergebnis von Ausbeutung. Unser Überfluss ist die Folge des Mangels und der Not anderer. Unseren Fortschritt verdanken wir der Tatsache, dass wir die theoretisch allen zur Verfügung stehenden Ressourcen praktisch schneller, wirkungsvoller und exzessiver ausbeuten als andere. Das war auch früher so. Was neu ist, ist die Tatsache, dass heute nicht nur Waren und Dienstleistungen schneller um den Globus zirkulieren, sondern auch Ohnmacht, Wut und Rachsucht. Im gewissen Sinne wird die Szenerie in Paul Webers „Hungrige Gäste“ zur Wirklichkeit.

All das ist nichts Fremdes. Die gleiche Motivation treibt die besorgten Bürger an, die im letzten Jahr knapp 1000 Flüchtlingsunterkünfte und etwa 80 Moscheen angegriffen haben. Auch ohne die Erfahrung von existenzieller Not und Ausbeutung, allein aus Sorge um eine Ressourcenkonkurrenz waren sie zu diesen Gewaltexzessen fähig. Die Alternativwähler treibt nicht die Angst vor einer fremden Religion oder Kultur um. Nein, es ist die Sorge darum, dass Muslime den ihnen zugewiesenen Platz am Rande der Gesellschaft verlassen und Teilhabe an Ressourcen fordern, die ihnen bislang nicht zugänglich waren.

Auch unser Verhältnis zur Gewalt unterliegt keinen religiös oder kulturell anderen Maßstäben. Das wird besonders in der unmittelbaren zeitlichen Nähe der Anschläge von Istanbul und Brüssel deutlich. Die Anschläge in Istanbul haben zu keinem Zeitpunkt die Reflexe eines kulturellen Angegriffen-Seins ausgelöst. Niemand sah sich dazu genötigt, kulturelle Solidarität und freiheitliche Geschlossenheit zu bekunden. Vielmehr wurden die Anschläge als Konsequenz staatlichen Handelns analysiert. Das ist – so kann man jetzt schon vermuten – auf einer globalen Makroebene auch die menschenverachtende Denklogik der Attentäter von Brüssel. Wenn aber Religion nicht der entscheidende Faktor der Gewaltbereitschaft ist, warum soll dann eine Religionsdebatte zur Problemlösung beitragen?

Und die Ironie der Zeitgeschichte: Es ist gerade der Islam mit seinem Grundsatz, dass Vermögen, welches aus einem gesellschaftlichen Miteinander geschöpft wird, auch anteilig den Schwachen in dieser Gesellschaft zurückgegeben werden muss, der einen Ausweg aus einem durch Profitmaximierung getriebenen Wirtschaftssystem böte. In den Staubwolken der Selbstmordanschläge bleibt für diese Diskussionen freilich kein Raum.