„Unser Land, unsere Gesellschaft, unsere Medien und unsere Personen des öffentlichen Lebens verlieren zunehmend ihren Instinkt für ein demokratisches Zusammenleben. Wir verlieren unsere kollektiven Tabus im gesellschaftlichen Miteinander. Unsere vielbeschworene Wertegrundlage, unsere Grundrechtsordnung, zerbröckelt in einer rasanten Geschwindigkeit. Diese Entwicklung bleibt nahezu unbemerkt und wird im öffentlichen Diskurs praktisch nicht thematisiert. Wir verlieren unsere Sensibilität für den gesellschaftlichen Umgang miteinander. Dafür, was sich in einer demokratischen Gesellschaft gehört und was nicht. Dafür, was eine Gefahr für das pluralistische Fundament unseres Verständnisses von freiheitlicher Gesellschaftsordnung ist.“…
„Wir driften zusehend in ein gesellschaftliches Klima der rassistischen Stigmatisierung.“…
„Indes haben wir in weiten Teilen der öffentlichen Debatte mit Blick auf unser Ideal einer freiheitlichen und pluralistischen Gesellschaftsordnung eine Verrohung und ethische Erosion zu beklagen, die in der bundesrepublikanischen Vergangenheit ihres Gleichen suchen. Das zu erkennen und dem entgegen zu wirken, muss uns allen ein Anliegen sein“…
Diese Sätze schrieb ich am 07.01.2016 auf diesem Blog. Wir haben nun mit den zurückliegenden Landtagswahlen eine politische Zäsur erlebt, welche die oben beschriebene Situation greifbar werden lässt. Wir erleben eine Hinwendung zu politischen Lagern, die unverhohlen ankündigen, weiter auf die Karte der rassistischen Stigmatisierung zu setzen.
Gleichzeitig erleben wir, wie die politische Mitte unserer Gesellschaft ins Wanken gerät. Denn nichts anderes als ein solches in Unruhe-Geraten des demokratischen Fundamentes unserer Gesellschaft ist es, wenn etablierte Parteien mit ihrer Rhetorik in die Legitimation faschistischer Denkmuster hineinstolpern.
Als ein solches – aber immer noch nicht als solches erkanntes – Legitimationsvehikel wirkt die anhaltende Werte- und Kulturdebatte mit Blick auf Flüchtlinge und Minderheiten, insbesondere die Muslime, in unserem Land.
Wenn aber Minderheiten oder gar Menschen in Not in uns das Gefühl auslösen, sie würden uns etwas wegnehmen wollen, dann bietet diese Leit-Debatte mir keine Werteordnung an, in die ich mich integrieren will.
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Ich bin in Lübeck aufgewachsen. Im damaligen Zonenrandgebiet. Die DDR-Grenze war in Sichtweite. Während ich mich am Travemünder Strand an der Sonne, an der Grenzenlosigkeit des Meeres und an der Weite des Horizontes erfreuen konnte, musste ich meinen Kopf nur leicht zur Seite wenden, um zu erkennen, dass all das nicht für jeden Menschen eine Selbstverständlichkeit war.
Wir waren eine Arbeiterfamilie. Wir hatten nicht viel. Aber wir hatten gerade in solchen Momenten Anlass, Allah dankbar zu sein, für all die Segnungen, derer wir uns glücklich schätzen durften. Weil wenige hundert Meter weiter eben auch das keine Selbstverständlichkeit war.
Ich bin in einer türkischen Familie aufgewachsen. Mit Angehörigen und Nachbarn, für die es eine Selbstverständlichkeit war, anderen – Gästen oder Hilfesuchenden – das Beste zu geben, was man hat. Das Beste, nicht nur irgendwas.
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Wir sollten keine Kulturdebatten mehr führen. Der Anspruch, eine Leitkultur, eine vorbildliche Werteordnung anzubieten, ist schon längst überholt, sollte er jemals überhaupt eine Berechtigung gehabt haben. Nicht die Sünden der Vergangenheit müssen hier bemüht werden. Nein, dieser Anspruch ist ganz aktuell im Mittelmeer ertrunken und im Schlamm von Idomeni versunken.
Wenn Kulturalisten immer noch ihre Leitdebatten führen wollen, wenn sie glauben, so auf Stimmenfang gehen zu können, wenn sie glauben, das sei die Erwartung „besorgter Bürger“, sollten sie wissen, dass ihnen niemand mehr zuhört.
Die Menschen, deren Wesen nicht allein ihre deutsche Abstammung ausmacht, durchschauen die Inflation und die vollständige Entwertung dieses Leitanspruchs. Und diejenigen, die dieser Wertedebatte noch applaudieren, tun dies nur, weil sie aus ihr die Behauptung heraushören, es gebe werte und unwerte Kulturen. Das sollte jedem bewusst sein, der sich in diese Richtung bewegt.
Deshalb sollten wir aufhören, Glaubenswelten und Kulturen einem expliziten oder impliziten Wertigkeitsvergleich zu unterziehen. Diese Diskussion ist einer Kulturnation, nimmt sie diesen Anspruch überhaupt ansatzweise ernst, spätestens nach den drei Landtageswahlen abhandengekommen. Denn in Deutschland wählen Bürger wieder Nazis, um der Politik einen Denkzettel zu verpassen – als ob sich das in der Vergangenheit bewährt hätte. Keiner unserer Kulturwerte hat uns vor diesem Rückfall bewahrt.
Und dieser Rückfall zeigt deutlich, dass all die Schlussstrichdebatten der Vergangenheit der Ausdruck einer kulturellen Selbstüberschätzung waren. Einer behaupteten zivilisatorischen Immunität gegen die Geister der Vergangenheit. Nichts davon hat sich als wahr erwiesen.
Schlimmer noch: Als reiche Gesellschaft, als wiedervereinte Nation ist uns in nicht unerheblichen Teilen der Anstand abhandengekommen, Menschen in Not zu helfen. Ihnen nicht etwa das Beste was wir haben, sondern wenigstens das Minimum an existenzieller Versorgung zu schenken, löst bereits Hass und Gewalt aus. Nicht mal mehr als kalkulierte Investition in unsere demographische Zukunft ist dieser Akt der Mitmenschlichkeit und Hilfeleistung den Bürgern noch zu vermitteln.
Wenn es also so etwas wie das christlich-jüdische Kulturerbe als zusammenhaltstiftende Sinnklammer jenseits des bloßen politischen Abgrenzungspostulats je gegeben haben sollte: Spätestens mit der „Nächstenliebe, aber nur mit Obergrenze“-Debatte ist das Christliche verloren gegangen. Und mit den Zäunen und Lagern mitten in Europa und mit der Ankündigung einer antireligiösen politischen Kampagne ist die Verantwortung vor dem jüdischen Erbe ad absurdum geführt.
Vor fünf Jahren ist der politische Durchhaltebefehl aus Bayern, sich „bis zur letzten Patrone“ gegen Zuwanderung zu sträuben, als postkarnevalistische Entgleisung verharmlost worden. Heute erhalten Politiker Zuspruch aus der Mitte der Gesellschaft, die auf hilfesuchende Kinder oder wenigstens auf deren Mütter schießen wollen. Angesichts solcher Entwicklungen erübrigen sich jedwede Kulturdebatten.
Was wir indes dringend brauchen, ist eine Debatte, in welcher Rechts- und Verfassungsordnung wird leben wollen. Und was wir dafür tun müssen – gesellschaftlich, politisch –, damit diese Verfassungsordnung nicht zusammenbricht.
Der größte integrative Anreiz, den wir als Gesellschaft haben, sind nicht irgendwelche kulturellen Werte. Es ist unsere Verfassungsordnung. Das ist unser gesellschaftliches Angebot. Das ist die Leitordnung für alle Menschen, die hier leben – gleichgültig, wie lange sie das schon tun oder woran sie glauben. Nicht irgendwelche Illusionen kultureller Überlegenheit.
Und diese Verfassungsordnung ist nicht etwas, was uns schöpfungsbedingt, zivilisatorisch über andere erhebt. Es ist eine Verfassungsordnung, die uns teilweise erst verordnet werden musste. Unsere deutsche Wert(e)leistung besteht darin, diese Ordnung bislang aufrechterhalten und in eine Form der gesellschaftlich angeeigneten (Rechts)Kultur transformiert zu haben. Das wird uns aber in Zukunft nicht gelingen, wenn wir ein politisches Wettrennen ihrer Preisgabe veranstalten.
Uns muss auszeichnen, dass wir Menschen nicht danach beurteilen, woran sie glauben, sondern an welche Verfassungsordnung sie sich halten. Diese Haltung muss die gemeinsame Kultur aller Menschen sein, die hier leben. Sie ist Anspruch und historische Aufgabe zugleich. Und sie ist alternativlos für Deutschland.