Auf islamiq.de wurde am 13.01.2016 ein Beitrag mit dem Titel „Der Teufelskreis der Prävention“ des Generalsekretärs des Islamrates und stellvertretenden Generalsekretärs der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüş (IGMG), Murat Gümüş, veröffentlicht, in dem die Maßnahmen der Extremismusprävention kritisch hinterfragt werden. Das Thema ist aufgrund seiner Aktualität und der recht eindeutigen kritischen Positionierung eines hohen Vertreters einer muslimischen Religionsgemeinschaft wert, eingehender diskutiert zu werden. Der folgende Kommentar soll ein solcher Diskussionsbeitrag sein.
Mit Rücksicht auf die spezielle Gemütslage der muslimischen Verbandslandschaft gilt es, mit einer wichtige Erläuterung zu beginnen:
Mit dem folgenden Diskussionsbeitrag ist die Hoffnung verbunden, dass die darin zum Ausdruck kommende inhaltliche Auseinandersetzung auch als solche, also als sachliche und inhaltliche Meinungsverschiedenheit, begriffen wird. In früheren Beiträgen auf dieser Seite wurde ausführlich dargelegt, dass es in der muslimischen Community die verbreitete Haltung gibt, öffentliche Disputationen seien unislamisch, ein muslimischer Autor oder Akteur dürfe nicht öffentlich kritisiert werden. Diese Verletzlichkeit und über die Maßen ausgeprägte Sensibilität der muslimischen (Verbands-)Seele gegenüber kritischen Erwiderungen mutet auch grundsätzlich aber insbesondere im öffentlichen Raum merkwürdig an. Die gesamte muslimische Community kann nur davon profitieren, wenn öffentlich geäußerte Meinungen und öffentlich vollzogene Handlungen sich auch vor einer innermuslimischen öffentlichen Debatte bewähren. Im besten Fall können so Positionen geschärft und deutlicher herausgearbeitet werden. Das sind die Motive für diesen Kommentar.
Dies vorausgeschickt muss festgehalten werden, dass die Ausführungen Gümüşs das besprochene Thema leider nur eindimensional behandeln.
Der kritische Beitrag reduziert die Extremismusprävention auf eine tatsächliche oder vermeintliche Kriminalisierung von Moscheegemeinden. Es wird der Eindruck vermittelt, den Präventionsmaßnahmen würde vorrangig die Annahme zu Grunde liegen, muslimische Gemeinschaften seien besonders in ihrer organisierten Ausprägung als Quelle der Radikalisierung zu lokalisieren. Als Beispiel dafür werden die verdachtsunabhängigen Personenkontrollen vor Moscheen in Niedersachsen unter der Verantwortung des damaligen niedersächsischen Innenministers zitiert.
An diesem Punkt wird die problematische Prädisposition der gesamten kritischen Stellungnahme deutlich, denn sie ist dadurch seltsam anachronistisch und inhaltlich unpräzise.
Anachronistisch deshalb, weil die zu Recht kritisierten und grundgesetzwidrigen Personenkontrollen bereits Anfang 2010 eingestellt wurden. Die IGMG selbst hat dies auf ihrer Internetseite im Februar 2010 bekannt gemacht (http://www.igmg.org/nachrichten/artikel/2010/02/11/kein-generalverdacht-moscheekontrollen-in-niedersachsen-werden-eingestellt.html)
Das ist nun mittlerweile fast 6 Jahre her. Selbst wenn man auf die Wahlen zum 17. Niedersächsischen Landtag abstellen will, liegen auch diese bereits 3 Jahre zurück. Das Verständnis von Extremismusprävention hat sich seitdem gewandelt. Die veränderte Ausgangslage und die zeitliche Entwicklung auszublenden, verhindert eine ausgewogene Besprechung der Materie.
Und inhaltlich unpräzise deshalb, weil die gegenwärtigen Präventionsprojekte nicht vergleichbar sind mit verfassungswidrigen Maßnahmen, die in unbegründeter und unangemessener Ausdehnung polizeilicher Ermächtigungsgrundlagen ergriffen wurden. Präventionsprojekte sind keine hoheitlichen Maßnahmen im Rahmen polizeilicher Befugnisse.
Eine solche Gleichsetzung oder auch nur Ähnlichkeit herzustellen, wird den vielen Engagierten nicht gerecht, die sich im Bereich der Präventionsprojekte um ein akutes gesellschaftliches Problem kümmern. Es kommt einer Diskreditierung dieser Bemühungen und damit aller Organisationen gleich, die sich daran beteiligen. Mit einer solchen kategorischen Ablehnung wird die Chance vertan, sich aus der Position einer muslimischen Religionsgemeinschaf heraus differenziert mit der Frage des ob und wie von Präventionsprojekten auseinander zu setzen.
Die kritische Stellungnahme auf das Fundament eines solchen Vergleichs zu stellen, wirkt überdies konstruiert und verstellt auch dem Autor selbst den Blick für eine akkurate Analyse der Radikalisierungsursachen und der entsprechenden Präventionsansätze.
Denn mit Fug und Recht weist Gümüş darauf hin, dass die Ursachen der Radikalisierung vielfältig sind und nicht monokausal religiös. Sie werden insbesondere auch nicht durch die Arbeit der großen muslimischen Religionsgemeinschaften befördert. Volle Zustimmung.
Aber warum bleibt dann bei Gümüşs Ausführungen das einzige positive Angebot einer wirksamen Prävention die Unterstützung der Moscheegemeinden? Wenn es auf der Seite der Radikalisierungsursachen mit Blick auf die Moscheegemeinden keinen relevanten religiösen Faktor gibt, warum soll dann auf der Seite der Deradikalisierungsansätze allein die Unterstützung der Moscheearbeit eine entscheidende Rolle spielen?
Diese problematische Denklogik verkennt die differenzierten Ansätze der gegenwärtigen Präventionsprojekte. Es geht nicht darum, einem Verdacht gegenüber Moscheegemeinden nachzugehen. Sondern vielmehr darum, ein Beratungsangebot für die höchst individuellen Problemkonstellationen der Betroffenen anbieten zu können.
Die Zusammenarbeit mit Moscheegemeinden ist nur ein Aspekt aus einer Vielzahl von Einzelelementen, die sich in dem Beratungsangebot der Präventionsstellen abbilden. Ausgehend vom konkreten Einzelfall muss in Beratungsgesprächen erst ergründet werden, wo möglicherweise der tatsächliche Konflikt verborgen liegt, der einen Jugendlichen in extremistische Kreise abdriften lässt. Sind es berufliche Probleme? Schulische Konflikte? Familiäre Schwierigkeiten? Der falsche Freundeskreis? Fehlende Bezugspersonen im häuslichen Umfeld? Und, und, und. Diesen Konfliktfeldern nachzugehen und je nach Lage der Dinge Beratungspartner wie Familie, Jugendamt, Schule, Arbeitgeber, Arbeitsamt, vielleicht therapeutische Hilfe oder eben auch Moscheen einzubinden, das ist die Aufgabe und die Grundkonzeption der Präventionsprojekte. Die religiöse Argumentation hat eher eine nachgeordnete Bedeutung.
Gleichzeitig dienen solche Projekte nicht nur der Beratung konkret von Radikalisierungstendenzen betroffenen Personen, sondern auch der aufsuchenden Beratung mit einem abstrakteren präventiven Ansatz. So können auch ohne Beratungsbedarf im akuten Einzelfall, soziale Interaktionsräume und die dort agierenden Personen mit Beratungsinhalten unterstützt werden. Wie sollten Lehrkräfte mit Jugendlichen umgehen, die problematische Ansichten äußern? Wann und nach welchen Kriterien kann ich absolut legitimes religiöses Interesse oder eine ausgeprägte religiöse Identitätsbildung von tatsächlichen Radikalisierungstendenzen unterscheiden und wie gehe ich mit beiden Phänomenen unterschiedlich um? Allein dieses Handlungsfeld ist so vielschichtig, dass hier Moscheearbeit allein keine umfassenden Lösungen anbieten kann.
Aber auch mit Blick auf die Jugendlichen in Moscheegemeinden kann und sollte die gute – und wie es Gümüş treffend betont, immunisierende – Jugendarbeit unterstützt werden durch Beratungsangebote, die sich mit der Frage beschäftigen, wie auch muslimische Jugendliche besser erkennen können, was extremistische Narrative sind, welche Argumentationslinien in die Radikalisierung führen oder welche Angebote im medialen Raum kritisch zu hinterfragen sind.
Letztlich können solche Beratungsangebote den Jugendlichen auch die Artikulation von Gedanken erleichtern, mit denen sie durch Kontakt zu radikalen Personen oder Medieninhalten in Berührung gekommen sind und deren Behandlung im Kontext der Tätigkeiten einer ehrenamtlich organisierten Moscheegemeinde zu kurz kommt.
All das sind Möglichkeiten und Angebote, die Muslime oder ihre Moscheegemeinden nicht einem Generalverdacht aussetzen, sondern sie bei der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Problemen unterstützen und als Partner einbinden. Die muslimischen Religionsgemeinschaften sind gut beraten, nicht in einem falschen Selbstverständnis als Gralshüter der muslimischen Würde, außerhalb ihrer eigenen Tätigkeiten nur Bedrohliches und Herabwürdigendes wahrzunehmen und nicht den Fehler zu begehen, die eigenen Tätigkeiten als abschließend und vollkommen zu betrachten.
Trotz der durch die in der Vergangenheit erlebten und teilweise auch heute noch gegenwärtigen negativen Erfahrungen im Umgang mit muslimischen Gemeinschaften, sollten diese sich beim Thema Prävention nicht kategorisch verweigern, wie es Gümüş nahelegt. Denn muslimische Jugendliche und junge Erwachsene reisen zu Hunderten in Krisenregionen und verüben und erleben dort Fürchterliches. Davor darf man die Augen nicht verschließen. Es ist auch die Verantwortung von Moscheegemeinden, junge Muslime vor solchen Schritten zu schützen. Auch wenn die Gemeinden nicht die Ursache des Problems sind, müssen sie doch Teil der Lösung sein – gerade mit ihren Kompetenzen, mit ihrem religiösen Input und wenn nötig auch mit ihren kritischen und mahnenden Interventionen. Nur so können Präventionsmaßnahmen auch verbessert und etwaige Fehler vermieden werden.
An einer Stelle muss man dem Ausgangstext indes auch den Vorwurf einer Grenzüberschreitung machen: Radikalisierung und Bereitschaft zum Extremismus sind nicht Probleme, die erst mit der Etablierung von Präventionsprojekten begonnen haben oder gar durch sie gefördert werden. Eine solche Verteufelung engagierter Beratungsarbeit in einem sehr schwierigen und hochkomplexen Feld ist kontraproduktiv – und auch zu bequem, wenn andererseits im eigenen Tätigkeitsbereich keine adäquaten Lösungen für Fragestellungen angeboten werden, die eben nicht unmittelbar oder nicht überwiegend religiös begründet sind.
Um mit der Straßenlaternenmetapher des Ausgangstextes zu enden, ohne sie dabei zu sehr zu strapazieren: Man muss auch in Erwägung ziehen, dass es gar nicht mehr Nacht und schon taghell ist. Und dass das Gelände mittlerweile hinreichend bekannt ist. Und dass Gucken und Suchen und Abwarten vielleicht nicht reichen. Jetzt muss man auch handeln.
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