Wie heißt Du?

Noch ziehen die Rauchschwaden der Silvesternacht durch unsere Debatten. Die Augen brennen noch, die Ohren klingen nach, der Lärm und das Chaos beherrschen den öffentlichen Diskursraum. Dort, wo das Instinktive zum Vorschein kommt und jeden klaren Gedanken überdeckt, fallen wir zurück in eingeübte Rollen. Die empörten Lager bilden sich rasch entlang der ausgetretenen Pfade: Das rechte politische Lager fragt nach Vornamen. Das linke politische Lager denkt in Vornamen.

Für das linke politische Lager gibt es keine eigenverantwortlichen Alis. Wenn bei den Alis etwas schiefläuft, sind wir alle verantwortlich dafür – nur nicht Ali selbst. Es ist eine Mischung aus der Verdrängung der Tatsache, dass rassistische Vorurteile manchmal anknüpfen an real existierende Probleme der stigmatisierten Gruppe und der in ihrem Erscheinungsbild nicht selten ebenso rassistischen Tendenz als „weißer Retter“ endlich stellvertretend für die Kanaken auf dieses Land und seine Fehler spucken zu können, ja in der ausgelebten Attitüde fast schon kanakischer sein zu wollen als die Kanaken es selbst sind. In dieser Welt sind von Rassismus betroffene Menschen immer nur Opfer und müssen in dieser Opferrolle verharren.

Da taugt dann jeder angezündete Briefkasten aus der eigenen weißen Jugend als Beleg dafür, dass die Gewaltexzesse der Silvesternacht gegen Rettungskräfte und Feuerwehr eigentlich schon immer passiert sind. Und es schwingt da vielleicht auch ein bisschen überraschende Anerkennung für jene halbstarken Alis mit, denen für die Gewalt gegen Polizeikräfte einfach nur die Gelegenheit der Silvesternacht ausreicht, ohne sich erst noch ein dünnes, „autonomes“, ideologisches Alibi zurechtbasteln zu müssen. „All Cops are Zielscheibe“ hat in diesem Milieu offensichtlich eine stärkere solidarisierende und einigende Wirkung als jeder Kiezdöner.

links wie rechts

Ähnlich vorhersehbar und in ihrer rassistischen Dumpfheit zunehmend langweilig sind die Reaktionen des rechten politischen Lagers. Dort ist man, so wirkt es, kaum über den Stand der Kraniometrie hinaus: So wie einst die Meister der deutschen Rassenlehre anhand von Schädelproportionen Aussagen über die Charaktereigenschaften und intellektuellen Fähigkeiten ganzer Bevölkerungsgruppen treffen wollten, sollen heute bestimmte Vornamen dazu geeignet sein, Erkenntnisse über die Ursachen von Gewalt und Delinquenz zu liefern.

Ich bin religiös, familienverbunden, traditionsbewusst. Ich wäre so gerne ein konservativer Deutscher geworden. Aber ich habe gelernt und erkenne auch aktuell wieder, dass der Konservatismus in diesem Land rein gar nichts mit diesen Begriffen und Werten zu tun hat. Es geht dem deutschen Konservatismus nicht um die Beständigkeit von positiven Haltungen und Einstellungen diesem Land und dieser Gesellschaft gegenüber. Es geht ihm lediglich um die Konservierung von vermeintlichen Eigenschaften des Deutsch-Seins, die eingeschlossen in einem geistigen Einmachglas haltbar gemacht werden sollen gegen jeden Impuls der Veränderung. Deutsch, das ist für den Konservatismus in unserem Land ein bestimmter Vorname, eine im übertragenden Sinn konkret vermessbare Schädelstruktur, nach der über Zugehörigkeit oder Fremdheit entschieden wird.

Man kann in der Vorstellungswelt des deutschen Konservatismus unserer Tage niemals durch eine bestimmte Haltung zu diesem Land zum Deutschen werden. Egal wie antidemokratisch, wie faschistisch, wie menschenverachtend, wie asozial jemand auch sein mag – solange es sich um einen „Uwe“ handelt, gehört er dazu.

Die Gnade der Uwe-Geburt

Und egal wie gebildet, wie demokratisch, wie verantwortungsbewusst, wie solidarisch, wie erfolgreich auch immer jemand sein mag – solange es sich um einen „Ali“ handelt, bleibt er ganz unten, dafür wird er stets verachtet werden, wird er immer nur „für uns arbeiten“, aber nicht einer von uns sein. Für den deutschen Konservatismus sind wir immer noch kein Einwanderungsland. Wir schauen auf unsere demografische Entwicklung, auf unseren Arbeitsmarkt und den Zustand der Sozialkassen und wollen immer noch kein Einwanderungsland sein, das allen Menschen die faire Chance bietet, zu dieser Gesellschaft zu gehören. Wir wünschen uns im Grunde so etwas wie moderne Zwangsarbeiter, die uns Deutschen den Lebensstandard erhalten, die wir aber weiter wegen ihrer Fremdheit verachten wollen.

So plakativ wie wir über die Silvesternacht in Berlin reden, so plump ist der Blick auf die Probleme. Probleme im Plural. Denn Vieles spricht dafür, dass die tatsächlichen Ursachen und Details der Ereignisse eben nicht einfach nur auf bestimmte Vornamen der Täter, auf deren dadurch angenommene, als homogen imaginierte Religion oder Kultur zurückzuführen sind. Die tatsächlichen Zustände sind weitaus komplexer.

Nach den ersten Erkenntnissen zu den Tätern können wir momentan davon ausgehen, dass es sich um hier Geborene und Aufgewachsene handelt, wie ebenso um neu in Deutschland Angekommene. Also um Eingeborene, aber auch um Eingewanderte.

Unter den angegriffenen Einsatzkräften waren vermutlich auch solche Frauen und Männer, die die gleiche Herkunft haben wie viele der Täter. Nach den Vornamen der verletzten Feuerwehrleute, der Polizeikräfte und des Rettungspersonals erkundigt sich bislang niemand.

Wir wissen nicht, ob die Täter religiös sind oder welcher Religion sie angehören. Warum sind wir dann teilweise so sicher, dass die Gewalt einen religiösen Grund hat? Wir wissen nichts über die familiäre Situation der Täter, sind aber fest davon überzeugt, dass die Ursache des Problems genau dort zu finden sein muss. Deshalb regen wir uns zu Recht über eine rassistische Sprache auf, mit der wieder nur muslimfeindliche Überzeugungen genährt werden, statt eine vernünftige Debatte zu führen.

Muslimische Bunker zum Schutz vor Silvestersünden

Zur Realität gehört es aber auch, zu wissen, dass in zahlreichen Moscheen der großen muslimischen Verbände ganz ausdrücklich religiöse Alternativen zu Silvesterfeierlichkeiten angeboten werden. Weil aus Sicht der Verbände die Silvesternacht für Ausschweifung, Alkoholrausch, sexuelle Annäherung und auch für christliche Rituale steht – ja, in muslimischen Kreisen hält sich teilweise hartnäckig das Gerücht, in der Silvesternacht werde die Geburt Christi gefeiert. Vor diesem Hintergrund werden jährlich zur Weihnachtszeit und über den Jahreswechsel hinaus speziell für junge Reisende kollektive Pilgerfahrten nach Mekka und Medina angeboten – damit sie erst gar nicht in Versuchung geraten, an hiesigen Silvesterfeierlichkeiten teilzunehmen. Nicht selten werden in Moscheen besondere Gebets- und Rezitationsveranstaltungen angeboten, die am Abend des 31.12. beginnen und manchmal auch über Mitternacht hinausgehen. Moscheen werden zu spirituellen Schutzbunkern gegen das silvesterliche Sündenfeuerwerk. Wer dennoch unbedingt feiern will, dem wird ein rechtgläubiger Anlass konstruiert: Trotz der unterschiedlichen Berechnung nach dem muslimischen Mondkalender wird die Eroberung Mekkas durch muslimische Truppen jährlich wiederkehrend auf den 31.12. datiert – nur um einen konkurrierenden „muslimischen“ Anlass für Feierlichkeiten zu bieten.

All das bedeutet nicht, dass die Täter der Silvesternacht mekkanische Eroberungsinszenierungen in Neukölln abhalten. Es liegen uns auch keine Informationen vor, dass die Täter durch ein kollektives religiöses Ritual zu pyrotechnischen Gewaltorgien angestiftet wurden.

Wir können lediglich feststellen, dass das organisierte muslimische Veranstaltungsangebot zur Silvesternacht nicht dazu gedacht ist, Einheit und Zusammenhalt in dieser Gesellschaft zu fördern. Vielmehr kommt in den bewussten Abgrenzungsbemühungen wieder eine Abwertung der nicht muslimischen Gesellschaft zum Ausdruck, die den Boden der Verachtung nährt, auf dem jugendliche Gewaltbereitschaft eben auch gedeiht.

Was wir wissen

Was wir auch wissen: Die Täter der Silvesternacht in Berlin weisen insgesamt fast zwanzig unterschiedliche Staatsangehörigkeiten auf. Von etwa 15 dieser Staatsangehörigkeiten wissen wir nicht, um welche es sich handelt. Gleichwohl sind wir bereit zu glauben, dass die Ursache der Gewalt in einer fast zwanzig unterschiedliche Herkünfte umfassenden kollektiven Gemeinsamkeit zu finden ist, die wir als fremde, einheitlich gewaltaffine Kultur definieren wollen.

Die tatsächliche Gemeinsamkeit der Täter verdrängen wir, weil sie nicht unsere kulturhierarchischen Überlegenheitsvorstellungen bestätigt: Die Täter leben alle in Deutschland – genauer: in Brennpunktquartieren unserer Hauptstadt. Sie gehören aller Wahrscheinlichkeit nach einer Jugendszene an, die kaum eine Perspektive hat, ein besseres Leben zu führen als das ihrer Eltern. Erfolg und Aufstieg gehören vermutlich nicht zu ihren Alltagserfahrungen. Wirtschaftliche oder soziale Macht können sie wahrscheinlich nicht auf legalen Wegen erreichen. Die Erwartung, im Leben alles erreichen und alles schaffen zu können, wurde aller Voraussicht nach schon in der frühen Jugend enttäuscht. Stärke und Ansehen haben in ihrer Erfahrungswelt vermutlich wenig mit intellektuellen Fähigkeiten oder rhetorischen Kompetenzen zu tun, sondern eher mit körperlicher Überlegenheit. Es ist anzunehmen, dass „Sich zu behaupten“ in diesem Milieu etwas anderes bedeutet als in einer Akademikerfamilie.

Es dürfte nicht überraschen, dass Frustration und Wut bei diesen Jugendlichen zu einem permanent präsenten Stimmungshintergrund gehören. Was ihnen im familiären Kontext über Religion, Herkunft und Kultur an Werten mitgegeben wird, hat in unserer Gesellschaft keinen entsprechenden Gegenwert. Im Gegenteil, diese Jugendlichen machen mehrheitlich die Erfahrung, dass sie in ihrem religiösen, kulturellen und sozialen Geltungsanspruch eher entwertet, abgewertet und verachtet werden. Ihre Hoffnung auf Akzeptanz durch wenigstens formelle Zugehörigkeit wird mit einer herablassenden politischen Sprache zurückgewiesen, die sie sehr wohl mitbekommen: An „solche“ Jugendlichen wollen wir unsere wertvolle deutsche Staatsangehörigkeit nicht verramschen. Denn ihre Lebensentwürfe in dieser Gesellschaft sind nicht das Papier wert, auf dem der deutsche Pass gedruckt wird. Ihre Prachtgewänder sind für uns nur lächerliche „Bademäntel“. Ihre Siegerposen verstehen wir als Sympathiebekundungen mit Mördern. Selbst ihre Mutterliebe ist für uns ein Problem. Wo es an Verarbeitungsstrategien für solche Erfahrungen fehlt, stauen sich die Wut und Gegenverachtung.

Kaum Raum für differenzierte Debatten

An diesem Punkt müsste eigentlich eine differenzierte Diskussion beginnen, inwieweit religiöse, kulturelle und familiäre Einflüsse hilfreiche Bewältigungsstrategien vermitteln können oder aber die Wut und Verachtung eher noch verstärken. Zu so einer Differenzierung sind wir aber mittlerweile nicht mehr fähig. In unseren Diskussionen geht es schon lange nicht mehr darum, Erkenntnisse zu gewinnen, sondern nur noch darum, die eigenen Überzeugungen zu bestätigen. Deshalb bleibt diese Diskussion aus.

Die Politik hält sich seit Jahren an phrasenhaften Formeln wie „Fordern und Fördern“ fest und wird schon für die aktuelle Variante „Mit Stoppschild und ausgestreckter Hand“ gefeiert. Aber wir vermeiden die Diskussion darüber, dass selbst hochqualifizierte Einwanderer in beruflichen Spitzenpositionen auf der Straße, am Arbeitsplatz und in Behörden unseres Landes Abwertung, Diskriminierung, Verachtung und Gewalt erleben, nur weil sie die „falsche“ Hautfarbe oder einen „fremden“ Vornamen haben. Wir diskutieren nicht darüber, was gesellschaftliche Akzeptanz in einem Einwanderungsland bedeuten muss.

Wir diskutieren nicht darüber, wie wir uns von biologistischen Vorstellungen des „Deutsch-Seins“ verabschieden können. Bis heute ist der politische Slogan „Kinder statt Inder“ ein prägendes Motiv unserer deutschen Selbstwahrnehmung: Wir sind unverändert davon überzeugt, dass „Deutsch-Sein“ von biologischen Eigenschaften abhängt und über genetische Nachkommenschaft weitergegeben wird. Kinder von nicht deutschen Eltern bleiben, selbst wenn sie hier geboren werden, stets die „Inder“, die Fremden. „Wir“ vermehren uns nicht durch die Erziehung aller Kinder zu demokratischen Bürgern, sondern durch die biologische Weitergabe „deutscher Eigenschaften“.

Aufstieg ist kein selbstbestimmter Weg in unserer Gesellschaft. Er wird – sparsam dosiert – geduldet von jenen, die die Definitionshoheit über das „Deutsch-Sein“ beanspruchen. Wir diskutieren nicht darüber, dass sich gerade auch an diesen Denkweisen etwas ändern muss.

Wo nach Vornamen gefragt wird, kommt es nicht mehr auf die Herausbildung einer positiven Haltung zu diesem Land, zu seiner Gesellschaft und das Zusammenleben in ihr an. Es geht nur darum, nach Markern zu suchen, die für zugeschriebene kollektive Eigenschaften stehen. Entlang dieser Eigenschaftsgrenzen wollen wir Einfluss und Teilhabe in unserer Gesellschaft verteilen. Dieser Logik folgen alle unsere bisherigen Debatten.

Die Straftat eines Murat dient uns als Bestätigung für unsere Annahmen über vermeintlich identische Eigenschaften aller Murats. Unsere Lösung für dieses Problem liegt in der Abschiebung aller Murats nach dorthin, wo sie hergekommen sind. Und wenn sie hier geboren wurden, schieben wir sie ab an den Rand unserer Gesellschaft. Dorthin, wo wir alles hinschieben, was wir verachten – Arme, Ältere, Ausländer. Die Straftat eines Markus ist hingegen immer nur die Ausnahme von der Regel des rechtstreuen Deutschen. Sie verlangt nicht nach unserer Aufmerksamkeit. Sie hat nie eine Bedeutung, die über den Täter hinaus reicht.

Deshalb fragen wir nicht danach, was wir gemeinsam gegen Kriminalität und Gewalt tun können. Wir fragen nicht danach, was wir in unserer Gesellschaft verändern müssen, damit mehr Menschen in größerer Chancengleichheit an den Möglichkeiten unseres Landes teilhaben können. Wir fragen lieber danach, wie die Vornamen der deutschen Täter lauten.