Der Hamburger Vertrag mit muslimischen Verbänden – 10 Jahre Stillstand

(Anm.: Eine Kurzfassung des Textes erschien auf https://www.experteninitiative-religionspolitik.de/)

Vor zehn Jahren unterzeichneten die Freie und Hansestadt Hamburg und die drei muslimischen Verbände, der DITIB-Landesverband Hamburg (DITIB), SCHURA – Rat der Islamischen Gemeinschaften in Hamburg (SCHURA) und der Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ) einen Vertrag „mit dem Ziel, die Beziehungen zwischen der Freien und Hansestadt Hamburg und den islamischen Religionsgemeinschaften partnerschaftlich weiterzuentwickeln“ – wie es u.a. in der Präambel des Vertrages formuliert wird.

Zwischen 2009 und 2013 war ich Vorstandsmitglied des DITIB Landesverbandes Hamburg. In den letzten drei Jahren der Verhandlungen zwischen der Hamburger Senatskanzlei und den muslimischen Verbänden war ich Teil der Verhandlungsdelegation des DITIB Landesverbandes Hamburg und habe die Gespräche bis zur Unterzeichnung des Vertrages im Jahr 2012 begleitet und mitgestaltet. Zehn Jahre sind nun verstrichen.

Welche Erfahrungen wurden in diesen zehn Jahren gewonnen? Welches Licht werfen diese Erfahrungen auf den Vertrag und die Vertragspartner?

In den Protokollerklärungen des Vertrages findet sich eine Formulierung, die auf die damalige Intention und Verhandlungssituation verweist: „Die islamischen Religionsgemeinschaften streben im Rahmen ihrer weiteren organisatorischen Entwicklung die Erlangung der Rechte von Körperschaften des öffentlichen Rechts nach Artikel 140 des Grundgesetzes in Verbindung mit Artikel 137 Absatz 5 Satz 2 der Weimarer Reichsverfassung an. Die Vertragsparteien stimmen darin überein, dass diesbezügliche Fortentwicklungen auch die Neuordnung der wechselseitigen Beziehungen erforderlich machen werden.“

Die muslimischen Vertragspartner haben diesen Vertrag also unter der bekundeten Absicht unterzeichnet, sich zu Körperschaften des öffentlichen Rechts entwickeln zu wollen. Was ist nach zehn Jahren aus dieser Absicht geworden?

Als einer der damaligen Mitverantwortlichen für den Vertrag und als Muslim blicke ich auf diese zehn Jahre zurück und schaue auf den gegenwärtigen Zustand der Vertragspartner und den ihrer Dachorganisationen auf Bundesebene – und bin ernüchtert. Um nicht zu sagen: enttäuscht.

Diese Enttäuschung erstreckt sich auch auf die Wahrnehmung und Bewertung des Vertrages durch Dritte. Denn häufig ist dieser Außenperspektive deutlicher zu entnehmen, wo die problematischen Punkte liegen und wie diese mit den Erfahrungen der letzten zehn Jahre zu bewerten sind.

Für nicht muslimische Dritte scheint die Bedeutung des Vertrages lediglich darin zu liegen, dass er mit den Vertragspartnern konkrete Ansprechpartner benennt, an die man sich wenden kann, wenn man sich über Belange von MuslimInnen oder das interreligiöse Zusammenleben in Hamburg austauschen will.

Dass es in zehn Jahren offenbar nicht gelungen ist, den Vertrag über die faktische Bedeutung eines Telefonbuches hinaus zu entwickeln, ist ein erstes Anzeichen dafür, was alles nicht unternommen wurde. Denn mit der Vertragsunterzeichnung waren ursprünglich ja ganz andere Hoffnungen und Wünsche verbunden.

 

Ziele des Vertrages

Nämlich – so der Vertrag – die Überzeugung, dass Religion einen wertvollen Beitrag als Mittlerin zwischen unterschiedlichen Kulturen und Traditionen zu leisten vermag. Oder der Wunsch, die Beteiligung der islamischen Religionsgemeinschaften am religiösen, kulturellen und gesellschaftlichen Leben der Stadt anzuerkennen und zu unterstützen.

Der Vertrag wollte auch bekräftigen, dass die Vertragspartner sich auf eine gemeinsame Wertegrundlage verpflichten. So heißt es in Artikel 2 Absatz 1 des Vertrages:

„Die Freie und Hansestadt Hamburg und die islamischen Religionsgemeinschaften bekennen sich zu den gemeinsamen Wertegrundlagen der grundgesetzlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere zur Unantastbarkeit der Menschenwürde, der Geltung der Grundrechte, der Völkerverständigung und der Toleranz gegenüber anderen Kulturen, Religionen und Weltanschauungen sowie der freiheitlichen, rechtsstaatlichen und demokratischen Verfassung des Gemeinwesens. Sie sind sich einig in der Ächtung von Gewalt und Diskriminierung auf Grund von Herkunft, Geschlecht, sexueller Orientierung, Glauben oder religiöser oder politischer Anschauungen und werden gemeinsam dagegen eintreten.“

Hierzu heißt es in den Einzelbegründungen konkretisierend:

„Sowohl die in Satz 1 als auch die in Satz 2 besonders genannten Einzelaspekte der gemeinsamen Wertegrundlagen zielen nicht auf eine theoretische Vollständigkeit, sondern benennen Gesichtspunkte, deren besondere Betonung über ihr materielles Gewicht hinaus auch wegen ihrer im politischen und gesellschaftlichen Diskurs erkennbar gewordenen Virulenz nahe lag.“

Der Vertrag sollte also die muslimischen Verbände ausdrücklich ermutigen, im Sinne einer auch religiös pluralen Gesellschaft an der weiteren Gestaltung des vielfältigen religiösen Lebens der Stadt teilzuhaben. Damit ging und geht der Vertrag über bloße Bekenntnisse und Gelöbnisse hinaus – die Partner versichern einander aktiven Einsatz, ein „gemeinsames Eintreten“ für diese Wertegrundlagen und Ziele des Vertrages.

Und hier liegt auch das große Missverständnis zwischen den Vertragspartner. Ein zunächst nicht wahrgenommenes Missverständnis, ein stiller Dissens, der in den letzten zehn Jahren immer deutlicher sichtbar wurde – wenn man gewillt war und ist, genau hinzusehen.

 

Stagnation nach Abschluss des Vertrages

Für die muslimischen Vertragspartner war, so muss man aus heutiger Sicht schlussfolgern, das Ziel der eigenen Bemühungen mit dem Datum der Vertragsunterzeichnung erreicht. Man war „als Religionsgemeinschaften anerkannt“. Eine über diese Anerkennung hinausreichende Zielsetzung und Sinnentfaltung des Vertrages haben die muslimischen Verbände nicht erkannt oder sich nicht angeeignet. Der Vertrag war eigentlich in seiner religionsverfassungsrechtlichen, sozialen und gesellschaftspolitischen Bedeutung, ein Signal des Aufbruchs, ein Startschuss für einen längeren Prozess, in dessen Verlauf die muslimischen Verbände ihre Rolle als Religionsgemeinschaften erst noch mit Leben füllen und im Sinne eines gedeihlichen Zusammenlebens erst noch entfalten sollten. Der Vertrag war ein Anerkennungsvorschuss, der sich in der Erfüllung aller Voraussetzungen für einen Status der öffentlich-rechtlichen Körperschaft erst noch bewähren und einlösen musste.

Diese auf die Zukunft orientierte Perspektive und Zielvorgabe des Vertrages haben die muslimischen Verbände nicht gesehen oder nicht sehen wollen. Mir ist es, nachdem ich ein Jahr nach der Vertragsunterzeichnung den DITIB Landesverband verlassen habe auch in darauffolgenden Funktionen nicht gelungen, auf diese Bedeutung des Vertrags hinzuweisen und die Verwirklichung dieser Perspektive der tatsächlichen Etablierung als deutsche Religionsgemeinschaft anzumahnen.

Die muslimischen Verbände haben in den letzten zehn Jahren vielmehr das getan, was sie besonders gut können – sie haben sich am Status quo festgehalten und sich darum bemüht, die gegenwärtigen Zustände zu verwalten, statt sie in die Zukunft orientiert weiterzuentwickeln. Und in mancher Hinsicht haben sich die Zustände sogar noch verschlechtert.

Wie hartnäckig dieses Missverständnis im Hinblick auf die Inhalte und Perspektiven des Vertrages sich auch nach zehn Jahren noch hält, wird in einer aktuellen Expertise der AIWG zu dem Hamburger Vertrag deutlich.

 

AIWG-Expertise

Die Expertise ist im vergangenen Jahr unter dem Titel „Das Verhältnis zwischen Staat und islamischen Religionsgemeinschaften – Der Hamburger Staatsvertrag aus Praxisperspektive“ von der Akademie für Islam in Wissenschaft und Gesellschaft (AIWG), Goethe-Universität Frankfurt am Main, herausgegeben worden. Verfasst wurde die Expertise von Norbert Müller, der im Text wie folgt vorgestellt wird: „Norbert Müller ist als Rechtsanwalt in Hamburg tätig. Er ist Vorstandsmitglied bei SCHURA – Rat der Islamischen Gemeinschaften in Hamburg e.V.. Dort ist er für Rechtsangelegenheiten zuständig und Beauftragter der islamischen Religionsgemeinschaften bei Senat und Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg. Während der Verhandlungen zum Staatsvertrag in Hamburg war er Mitglied der Verhandlungskommission der islamischen Verbände. Ferner ist er Mitglied des Boards der Akademie für Islam in Wissenschaft und Gesellschaft (AIWG).“

Damit bietet die Expertise einen seltenen ausführlichen Einblick in die Perspektive der muslimischen Vertragspartner bzw. deren Vertreter und macht Probleme sichtbar, die ohne diese Expertise vermutlich nicht so deutlich hervorgetreten wären.

Dass die Expertise sich in weiten Teilen wie eine Laudatio zu Ehren der SCHURA liest, sei der Tatsache nachgesehen, dass der Autor Norbert Müller als Vertreter eben dieser SCHURA an den Verhandlungen teilgenommen hat und im Rückblick naturgemäß die positiven Eindrücke alles andere überlagern. Diese perspektivische Verzerrung ermöglicht es aber auch, Details zu erkennen, die den Blick auf die Vertragspartner und die Missverständnisse um den Vertrag selbst schärfen. Nicht ohne Grund wird im Titel der Expertise diese „Praxisperspektive“ hervorgehoben. Sie tritt bereits bei der Beschreibung der Vertragspartner in den Vordergrund. So sind in der Expertise einige „Infokästen“ grafisch hervorgehoben, mit denen die Vertragspartner vorgestellt werden. So heißt es z.B. im Hinblick auf die SCHURA:

„Der SCHURA sind 39 Moscheegemeinden und 24 weitere muslimische Vereine in Hamburg angeschlossen, darunter Jugend-, Frauen-, Bildungs- und Studentenvereine. Der Rat ist seit 2012 im Rahmen des Staatsvertrags mit der Stadt Hamburg einer der Kooperationspartner des Landes und damit als Religionsgemeinschaft anerkannt.“

Diese „Anerkennung als Religionsgemeinschaft“ wird im Zusammenhang mit allen muslimischen Vertragspartnern wiederholt.

Diese Betonung macht die unterschiedliche inhaltliche Wahrnehmung deutlich. Für die muslimischen Verbände war mit der Unterzeichnung des Vertrages die staatliche Anerkennung schriftlich und rechtlich fixiert und ihre Aufgabe damit abgeschlossen. Die muslimischen Verbände haben den Vertrag als Abschluss ihrer bisherigen Arbeit, als Endergebnis ihres gesellschaftlichen Engagements wahrgenommen.

Obwohl der Vertrag entgegen dieser Wahrnehmung den Blick eher in die Zukunft richtet und in dieser zukünftigen Perspektive die Erwartung an die muslimischen Verbände adressiert, ihre unterstellte Eigenschaft als Religionsgemeinschaft auch in der sozialen Lebenswirklichkeit zu beweisen und fortzuentwickeln, verharrten die muslimischen Verbände in einer eher statischen Perspektive.

Ausdrücklich heißt es im Vertrag – Ausgangslage – Seite 3:

„Nach Überzeugung des Senats bieten die Verträge insgesamt eine für alle Seiten gewinnbringende Grundlage für die kooperative Fortentwicklung des Verhältnisses der Vertragspartner und leisten damit nicht nur einen wertvollen Beitrag zur Fortentwicklung ihrer religionsverfassungsrechtlichen Beziehungen, sondern setzen als Ausdruck der Wertschätzung für die muslimischen und alevitischen Mitbürgerinnen und Mitbürger auch ein Zeichen für Integration und friedliches Miteinander.“

Die Perspektive des Vertrages formuliert also kein Endergebnis, sondern die Förderung eines Fortentwicklungsprozesses.

Im Anschluss an diese Zweckerläuterung im Hinblick auf den Vertragsschluss sind in den Einzelbegründungen des Vertrages folgende Sätze formuliert:

„Die Bezeichnung der Vertragspartner der Freien und Hansestadt Hamburg als islamische Religionsgemeinschaften versteht sich als Ergebnis ihrer rechtlichen und religionswissenschaftlichen Begutachtung. Deren vertragliche Bezeichnung als Religionsgemeinschaften bedeutet zwar keine konstitutive „Anerkennung“ als Religionsgemeinschaften, die das geltende Recht nicht kennt; auch die weitergehende und ihrerseits konstitutive Verleihung der Rechte von Körperschaften des öffentlichen Rechts steht im vorliegenden Zusammenhang nicht in Rede. Der Senat bringt durch die Bezeichnung der Vertragspartner und die Inhalte des vorliegenden Vertrages indes zum Ausdruck, dass er seine Vertragspartner als nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts rechtsfähige Religionsgemeinschaften ansieht und dementsprechend auch außerhalb der Inhalte dieses Vertrages als solche behandeln wird.“

Der Staat konnte nichts „anerkennen“, was die Rechtsordnung nicht als Anerkennung regelt. Er hatte sich aber vertraglich verpflichtet, die muslimischen Verbände als Religionsgemeinschaften im Sinne unserer Rechtsordnung zu behandeln. Im Gegenzug haben die muslimischen Verbände sich dazu verpflichtet, durch die Beachtung einer gemeinsamen Wertegrundlage und die zunehmende Teilhabe und Zuwendung an die deutsche Gesellschaft ihre positiven Potenziale zum Wohle der Allgemeinheit und im Sinne eines gedeihlichen Zusammenlebens zu entfalten und fortzuentwickeln – also nicht nur zu behaupten, dass sie Religionsgemeinschaften seien, sondern sich auch als solche zu verhalten.

Dass diese Verpflichtung von den Verbänden als solche verstanden oder gar verinnerlicht wurde, muss man mit Blick auf die vergangenen zehn Jahre ganz nachdrücklich bezweifeln.

Anhand einiger Details des Vertrages soll an dieser Stelle verdeutlicht werden, wie sehr der Gedanke der Fortentwicklung der Zusammenarbeit und des religionsverfassungsrechtlichen Status der muslimischen Partner von diesen selbst vernachlässigt wurde und der Vertrag, unmittelbar nach seiner Unterzeichnung wohl nie mehr gelesen, für zehn Jahre in der Schublade verschwand.

 

Feiertage

Als einen der wenigen nicht nur deklaratorischen, sondern ausdrücklich gestaltenden Punkte enthält der Vertrag eine Feiertagsregelung. So heißt es im Vertrag:

„Folgende islamische Feiertage sind kirchliche Feiertage im Sinne des hamburgischen Feiertagsgesetzes mit den Rechten aus § 3 des Feiertagsgesetzes für islamische Religionsangehörige:

  1. Opferfest (Id-ul-Adha bzw. Kurban Bayrami) – Einer der zwei Tage ab zehnten Dhul-Hiddscha,
  2. Ramadanfest (Id-ul-Fitr bzw. Ramazan Bayrami) – Einer der zwei Tage ab ersten Schawwal,
  3. Aschura – Ein Tag am zehnten Muharram.

Die Daten der Feiertage beziehen sich auf den islamischen Mondkalender und werden von den islamischen Religionsgemeinschaften jeweils vorher bestimmt und bekannt gegeben.“

Die Bedeutung dieser Frage für die muslimischen Vertragspartner erläutert die SCHURA auch heute noch im Rückblick auf den Verhandlungsprozess auf ihrer eigenen Webseite mit den Worten:

„Ein Punkt für einen Staatsvertrag ist eine islamische Feiertagsregelung. Wie anderswo in Deutschland auch, waren Hamburgs Muslime mit einer von Jahr zu Jahr größeren Verwirrung bei der Bestimmung des Ramadan und der Feste Id-ul-Fitr und Id-ul-Adha belastet. Hier sah sich nun SCHURA in der Verantwortung, ein möglichst großes Maß an Einheitlichkeit und Transparenz zu schaffen. Man konnte schlecht dem Senat gegenüber als Religionsgemeinschaft der Muslime Hamburgs auftreten und in einer für die Religionsausübung so zentralen Frage den Dingen einfach ihren Lauf lassen.“

Was ist in zehn Jahren aus diesem Ansinnen geworden? Bis heute blieb diese Vereinbarung nur eine schriftliche Erklärung auf dem Papier des Vertrages ohne konkrete Umsetzung in die Lebenswirklichkeit der Hamburger MuslimInnen. Die gängige Praxis in Hamburg ist nach wie vor jene, dass die muslimischen Verbände die Schulbehörden über eine bestimmte Zeitspanne informieren, in die einer der beiden Feiertage jeweils fallen. Weder den muslimischen Partnern insgesamt noch etwa allein den Mitgliedern der SCHURA ist es möglich, sich untereinander auf einen bestimmten Tag oder auf einen von zwei bestimmten Tagen festzulegen. Die Feiertagsregelung wäre eine gute Möglichkeit gewesen, die behauptete und vom Staat unterstellte Eigenschaft als Religionsgemeinschaft durch Fortentwicklung der eigenen Binnenstrukturen zu stärken. Denn ein Dachverband, will er Religionsgemeinschaft sein, muss zumindest einige der sich aus dem Glaubensbekenntnis ergebenden umfassenden identitätsstiftenden Aufgaben selbst auf der Dachverbandsebene erfüllen. Eine bloße Vertretung nach außen oder eine bloße Koordinierung nach innen reichen nicht aus. Ein Dachverband, der lediglich als Pressesprecher oder gemeinsames Sekretariat seiner Mitglieder funktioniert, ist keine Religionsgemeinschaft.

Der Wunsch zum Beispiel der SCHURA, durch eine möglichst vielfältige Mitgliederstruktur eine höhere Repräsentativität beanspruchen zu können, steht dem gleichzeitigen Wunsch, als Religionsgemeinschaft angesehen zu werden, entgegen. Sie vereint derart viele und unterschiedliche religiöse Traditionen in sich, dass sie ihre Mitglieder nicht einmal auf zwei alternative Feiertage verpflichten kann. Ein Dachverband aber, der für das religiöse Leben seiner Mitglieder faktisch keine prägende Bedeutung hat, kann keine Religionsgemeinschaft sein. In zehn Jahren ist auch von den anderen muslimischen Vertragspartnern nichts unternommen worden, diese Verbindlichkeit und Prägung nach innen zu stärken. Man muss deshalb feststellen, dass etwa die SCHURA heute weniger als Religionsgemeinschaft betrachtet werden kann, als es vor zehn Jahren noch der Fall war.

 

Mitgliederstruktur

Zum gleichen Ergebnis kommt man, wenn man die Entwicklung der Mitgliederstruktur der SCHURA in den letzten zehn Jahren betrachtet. In der AIWG-Expertise und dem oben bereits zitierten Infokasten zur SCHURA gibt der Autor an: „Der SCHURA sind 39 Moscheegemeinden und 24 weitere muslimische Vereine in Hamburg angeschlossen, darunter Jugend-, Frauen-, Bildungs- und Studentenvereine.“.

Über diese Mischstruktur, die sich aus Moscheegemeinden, also Vereinen, die sich der umfassenden Pflege aller religiösen Aufgaben widmen, und bloß religiösen Vereinen, die sich nur mit einem bestimmten Aspekt der Religion beschäftigen oder nur aus einer religiösen Motivation heraus tätig sind, ist während des Verhandlungsprozesses ausgiebig diskutiert worden. Denn das religionsverfassungsrechtliche Gutachten von Prof. Heinrich de Wall – das dem Vertrag zu Grunde liegt – weist insoweit auf ein nicht unerhebliches Problem hin.

So heißt es in jenem Gutachten:

„Im Hinblick auf Dachverbandsorganisationen ist überdies zu berücksichtigen, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts durch den Zusammenschluss von religiösen Vereinen zu einem Dachverband auch dann keine Religionsgemeinschaft entsteht, wenn darin zahlreiche unterschiedliche fachliche Ansätze und Zielrichtungen unter einem einheitlich religiösen Blickwinkel zusammengefasst werden. Dasselbe gilt danach auch, wenn der Dachverband sowohl aus solchen fachorientierten Vereinigungen, also religiösen Vereinen als auch aus örtlichen Kultusgemeinden zusammengesetzt wird, wenn Letztere aber den Dachverband nicht prägen, sondern von den fachorientierten Vereinigungen beherrscht werden. Ein Dachverband ist also dann keine Religionsgemeinschaft, wenn er seinerseits nicht von Unterverbänden geprägt wird, die der umfassenden Religionspflege dienen, sondern von religiösen Vereinen beherrscht wird.“

Zum Zeitpunkt des Gutachtens vor zehn Jahren gehörten neben 32 Moscheegemeinden auch fünf mit Moscheegemeinden verbundene Frauen-, Studenten- und Bildungsvereine sowie vier sonstige Vereine zu den Mitgliedern der SCHURA.

Untergliederungen, die sich umfassend um die religiösen Belange einer bestimmten Gruppe von MuslimInnen kümmern, sind bei der Bewertung, ob es sich bei dem Gesamtverband um eine Religionsgemeinschaft handelt oder nicht, unschädlich. Die entscheidende Frage ist aber tatsächlicher Natur: Kümmern sich die Untergliederungen umfassend um die religiösen Bedürfnisse ihrer jeweiligen Gruppe? Oder fungieren sie innerhalb des Verbandes lediglich als Interessenvertretung der jeweiligen Gruppe im Hinblick auf die nächsthöheren Verbandsebenen? Diese Tatsachenfrage bleibt bis heute faktisch und gutachterlich weitestgehend ungeklärt. Aus meinen Erfahrungen aus der Verbandsarbeit kann ich eher zu dem Schluss kommen, dass sich die gruppenbezogenen Untergliederungen der Verbände nicht um eine umfassende religiöse Betreuung ihrer jeweiligen Gruppen kümmern, sondern nur als Konsultationsgremium und Interessenvertretung in der Verbandshierarchie fungieren – also, wenn überhaupt mit eigener Rechtsfähigkeit organisiert, sich lediglich als religiöse Vereine darstellen.

Jedenfalls ist zu beobachten, dass sich die Zahl der sonstigen religiösen Vereine in zehn Jahren von mindestens vier auf 24 erhöht hat. Die SCHURA selbst untergliedert ihre Mitglieder auf der eigenen Webseite wie folgt:

„39 Moscheevereine“, „9 mit Moscheegemeinden und Verbänden verbundene Frauen-, Jugend-, Studenten- und Bildungsvereine“, „15 weitere Mitgliedsvereine“.

Die Zahl der Moscheevereine hat sich also von 32 auf 39, die Zahl der gruppenbezogenen Vereine von 5 auf 9 und die Zahl der sonstigen Vereine von 4 auf 15 erhöht. Damit hat sich der Anteil von religiösen Vereinen, die den Gesamtcharakter einer Religionsgemeinschaft als solche eher schwächen von knapp 10 % auf knapp 24 % mehr als verdoppelt und stellt heute knapp ein Viertel der Gesamtmitglieder des Dachverbandes. Die SCHURA ist also auch religionsverfassungsrechtlich betrachtet auf dem Weg, sich vom Charakter einer Religionsgemeinschaft zu entfernen.

Sollten sich die gruppenbezogenen Untergliederungen tatsächlich nicht umfassend um die gesamten religiösen Bedürfnisse ihrer jeweiligen Gruppe kümmern, sondern nur als Interessenvertreter innerhalb der Verbandshierarchien fungieren, wäre der Anteil nur religiöser Vereine in zehn Jahren sogar auf 38 % angewachsen. Die Antwort auf die Frage, wer die SCHURA inhaltlich beherrscht und das Gepräge der innerverbandlichen Aufgabenerfüllung dominiert – Moscheevereine oder die Gruppe der religiösen Vereine –, wird damit immer unklarer. Diese negative Tendenz ist heute zu beobachten, obwohl das Problem vor zehn Jahren bereits diskutiert und allen Verhandlungsteilnehmenden erläutert wurde. Eine Fortentwicklung zu einem stärkeren verbandlichen Charakter als Religionsgemeinschaft hätte also in die andere Richtung laufen müssen: mehr Kultusgemeinden und weniger religiöse Vereine. Wie sollen nun Staat und Öffentlichkeit einen muslimischen Verband weiter als Religionsgemeinschaft betrachten und auch so behandeln, wenn der Verband selbst sich mitgliedschaftlich immer weniger als Religionsgemeinschaft organisiert?

 

Gemeinsamer Beauftragter

Eine weitere konkrete Veränderung, die mit der Vertragsunterzeichnung einhergehen sollte, wurde in Artikel 11 des Vertrages unter der Überschrift „Zusammenwirken“ vereinbart. Dort heißt es in Absatz 2: „Zur ständigen Vertretung ihrer Anliegen gegenüber der Freien und Hansestadt Hamburg und zur gegenseitigen Information bestellen die islamischen Religionsgemeinschaften eine Beauftragte oder einen Beauftragten bei Senat und Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg.“

Hier sollte er oder sie also endlich Wirklichkeit werden: Der oder die gemeinsame AnsprechpartnerIn auf muslimischer Seite. Ein Zeichen, dass die muslimischen Verbände zu einer Professionalisierung ihrer Kommunikationsmethoden in der Lage sind und die Bedürfnisse von Regierung und Parlament nach möglichst verbindlichem Austausch erfüllen können. Wenn von muslimischer Seite immer von einer Augenhöhe zu den Kirchen durch staatliche Anerkennung die Rede ist, wäre dies nun ein Punkt gewesen, eine vergleichbare Verstetigung der Kontakte zu Senat und Bürgerschaft durch eine eben solche ständige Vertretung eigenhändig zu schaffen.

Interessant ist bei diesem Punkt die Tatsache, dass der Autor der AIWG-Expertise zu dem Hamburger Vertrag, Norbert Müller, im Infotext aus 2021 zu seiner Person u.a. als „Beauftragter der islamischen Religionsgemeinschaften bei Senat und Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg“ vorgestellt wird.

Eine Anfrage beim Hamburger Senat wurde mit dem Hinweis beantwortet, dass die Senatskanzlei seit 10 Jahren in regelmäßigem Austausch mit den Vertragspartnern steht. Der Senatskanzlei ist aber kein/e Beauftragte/r im Sinne des Artikels 11 des Vertrages bekannt. Dies beziehe sich auf die Gegenwart. Zurzeit könne nicht recherchiert werden, ob es mal einen solchen Beauftragen gegeben hat.

Eine Anfrage bei allen drei muslimischen Vertragspartnern und der Hamburger Bürgerschaft blieb mit einer Ausnahme bislang unbeantwortet. Die SCHURA hat die Anfrage mit dem Hinweis beantwortet, dass Norbert Müller bis zum 21.11.2021 als Beauftragter zur ständigen Vertretung der islamischen Religionsgemeinschaften bestellt wurde. Seit dem 22.22.2021 sei Fatih Yildiz, Vorsitzender der SCHURA Hamburg, übergangsweise Beauftragter zur ständigen Vertretung der islamischen Religionsgemeinschaften.

Auf Nachfrage konkretisierte die SCHURA, dass Norbert Müller kurz nach Vertragsunterzeichnung in einer Mitgliederversammlung der SCHURA zum Beauftragten gewählt wurde.

Es deutet also einiges darauf hin, dass die Bestellung durch die Verbände tatsächlich gar nicht vertragsgemäß oder intransparent oder willkürlich durch einen Verband allein erfolgt ist. Beim staatlichen Vertragspartner scheint eine solche Bestellung jedenfalls nicht angekommen zu sein.

Den muslimischen Vertragspartnern gelingt es also auch in diesem sehr konkreten Punkt des Vertrages nicht, den Inhalt ihrer vertraglichen Vereinbarungen und Verpflichtungen auch tatsächlich umzusetzen. Und wenn es zu Nachfragen kommt, entsteht der Eindruck eines taktischen Verhältnisses zur Wahrheit. Das ist keine gute Vertretung der Interessen und des Ansehens der MuslimInnen in Hamburg.

 

Türkeibindung

Ein wichtiges Thema im Kontext der Diskussionen um die Religionsgemeinschaftseigenschaften der muslimischen Verbände war und ist anhaltend ihre Entstehungsgeschichte und die sich daraus ableitenden Wertungen ihrer aktuellen Entwicklungen. Allein vom VIKZ konnte und kann man unverändert behaupten, dass es sich um eine Religionsgemeinschaft handelt. Mit dem Profil einer Glaubensgemeinschaft, die in sich hierarchisch verfasst ist und sich der umfassenden Pflege und Weitergabe einer ganz bestimmten Glaubenslehre bis hin zur Orientierung an einem spezifischen Ordensstifter verschrieben hat, ist er im Grunde die typische Beschreibung einer Religionsgemeinschaft. Bei den muslimischen Verbänden der SCHURA und der DITIB kann – jedenfalls mit Blick auf ihre dominierenden Bundesverbände – nicht (mehr) von einer ähnlich deutlichen religiösen Prägung gesprochen werden. Die gutachterlichen Ergebnisse im Hinblick auf die satzungsrechtlichen und religionssoziologischen Verhältnisse in beiden Verbänden müssen mit Blick auf die vergangenen zehn Jahre als überholt betrachtet werden.

Die BIG-Gemeinden der SCHURA und damit eine nicht unerhebliche Zahl ihrer Moscheegemeinden sind ideologisch der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüş (IGMG) zuzuordnen. Diese politische Bewegung geht auf ihren Gründer Necmettin Erbakan zurück und ist entsprechend durchdringend von dessen Ideologie einer „gerechten Ordnung“ geprägt, die durch deutsche Verfassungsschutzbehörden wiederholt als antidemokratisch eingeordnet wurde. Eine bis heute unverändert bis in die Gemeindebasis hinein wirksame Säule der Erbakan Ideologie ist deren Antisemitismus.

Zur Milli Görüş äußert sich die SCHURA auf der eigenen Webseite wie folgt:

„Einen besonderen politisch-religiösen Doppelcharakter weist die Islamische Gemeinschaft Milli Görüş e.V. auf, deren Vorläuferorganisationen bereits in den 1970er entstanden waren: Einerseits sah man sich als eine religiöse Organisation von Muslimen in Europa, andererseits der islamisch orientierten Parteibewegung von Necmettin Erbakan in der Türkei zugehörig. Dies führte in der Organisationsgeschichte immer wieder zu Auseinandersetzungen und auch Neuausrichtungen und die Veränderungen der letzten Jahre zeigen sich hier am deutlichsten: Zum einen lässt die Türkeibindung der türkischstämmigen Muslime immer mehr nach. Zum anderen wird der organisatorische Bezugspunkt in der Türkei immer bedeutungsloser aufgrund Gründung der AKP bei gleichzeitiger immer weiterer politischer Marginalisierung von Erbakans Saadet-Partei. Dadurch befinden sich viele IGMG-Gliederungen in einem Prozess der Neuorientierung bei immer weniger Bezug zur ursprünglichen „Milli Görüş“.“

Diese Bewertung muss man als grobe Fehleinschätzung und Wunschdenken mit Blick auf das gesellschaftlich Erwünschte bezeichnen. Denn tatsächlich ist festzustellen, dass der amtierende Vorsitzende des IGMG Bundesverbandes, Kemal Ergün, quasi auf dem Totenbett des Erbakan von diesem als neue Führung der IGMG ernannt wurde. Ergün hat in den fortschreitenden Jahren seiner Amtsführung erneut Kader der Saadet Partei in die Verbandsarbeit eingebunden. Eine offene Distanzierung von Erbakan und seinem antidemokratischen und antisemitischen Gedankengut ist vor diesem Hintergrund überhaupt nicht vorstellbar. Zu intensiv ist die Selbstidentifikation der Milli Görüş Basis mit der Figur und der Ideologie Erbakans.

Damit erscheint die Erbakanverehrung als das(!) identitätsstiftende und gemeinschaftsbildende Element innerhalb der Milli Görüş – mehr als irgendein religiöses Glaubensbekenntnis. Zuletzt hat der bisherige Generalsekretär der IGMG, Bekir Altaş, bei einer Veranstaltung in Österreich versucht, zaghafte selbstkritische Andeutungen zu machen. Nachdem dieses Verhalten für anhaltende Proteste aus der Basis gesorgt hat, ist zu vermuten, dass er seinen Posten noch innerhalb dieses Jahres wird räumen müssen.

Jedwede Form der Selbstverwaltung und Selbstbestimmung auf Länderebene und damit zum Beispiel auch innerhalb der SCHURA-Landesstrukturen steht unter dem stillen Vorbehalt der Kompatibilität mit dem Gedankengut der jeweiligen Bundesverbände. Jede Form der demokratischen Selbstverwaltung ist nur bis zur Grenze der Duldung durch den Bundesverband möglich. Bei den muslimischen Verbänden gibt es Binnendemokratie nur unter der Bedingung der vollständigen Kontrolle durch die Bundesstrukturen. Es handelt sich stets um eine Amtslegitimation, die von oben nach unten funktioniert und nicht etwa von der Basis nach oben, auch wenn Letzteres pro forma praktiziert wird. Es ist keine gelebte, keine verinnerlichte und im Konfliktfall belastbare Basisdemokratie, sondern vielmehr deren Inszenierung. Die Wirkung der Basis tritt nur in Ausnahmefällen in Erscheinung, wenn Führungskräfte sich von der Verbandsideologie entfernen oder öffentlich zu selbstkritisch äußern.

Gegen die behauptete „Bedeutungslosigkeit des organisatorischen Bezugspunktes in der Türkei“ spricht ferner die Gestaltung der religiösen Dienste innerhalb der Moscheegemeinden in Deutschland. So sind die Zahlen der vom türkischen Religionspräsidium nach Deutschland entsandten Religionsbeauftragten in den letzten zehn Jahren eher gestiegen als gefallen. Dieses Personal findet entgegen anderslautenden öffentlichen Statements ihrer Funktionäre ihren Weg auch in die Moscheegemeinden der IGMG. Auch wenn es dazu keine öffentlichen Erklärungen der SCHURA gibt, ist anzunehmen, dass diese Steigerung der Zahl von Diyanet-Imamen in den Moscheegemeinden ein Phänomen darstellt, das auch an den türkisch geprägten Moscheegemeinden der SCHURA nicht spurlos vorbeigegangen sein kann.

Für die DITIB Strukturen gelten die obigen Bewertungen ohnehin in gesteigerter Form. Ursprünglich als Filiale des türkischen Religionspräsidiums in Deutschland konzipiert und mit der Aufgabe betraut, ein möglichst laizistisches Islamverständnis zu vertreten und die damaligen Gastarbeiter und deren Nachkommen in religiöser Praxis zu unterrichten – und damit auf die Rückkehr in die Türkei vorzubereiten –, ist diese ursprüngliche Perspektive der Identitätsbewahrung weiterhin prägend für das Agieren des Gesamtverbandes. Die Rückkehroption ist weggefallen. An ihre Stelle ist das Verständnis einer eindeutigen, nach außen abgeschotteten türkisch-muslimischen Identität getreten, die auf die türkeistämmige Bevölkerung in Deutschland als türkische Diaspora in Westeuropa blickt. Buchstäblich konservativ ist die Zweckbestimmung aller Verbandsaktivitäten.

Religion hat sich in den letzten Jahren vom Zweck der Verbandstätigkeit weg, hin zum Mittel zum Zweck der nationalistischen, ethnisch und religiös eindeutigen Identitätsbewahrung entwickelt. Religiöse Dienste werden unverändert in türkischer Sprache vermittelt, um der Diaspora in erster Linie die Notwendigkeit der Bewahrung türkischer Sprachkenntnisse als kultur- und identitätsstiftendes Erbe vor Augen zu führen. Die Perspektive, die jeweiligen Landesverbände hin zu eigenständigen Religionsgemeinschaften zu entwickeln, wurde schrittweise seit 2014 demontiert. Föderale Eigenständigkeit wurde dabei zunehmend als Bedrohung zentralistischer Macht- und Autoritätsansprüche verstanden und zurück gebaut. Heute wird sich kein Landesverbandsfunktionär im Amt halten können, der sich nicht dem an der türkischen Politik orientierten Bundesverband und ihren Vorgaben für eine türkische Diasporapolitik vollständig unterordnet. Diese Entwicklung weg von den Eigenschaften und Merkmalen einer Religionsgemeinschaft und hin zu denen einer politischen Interessenvertretung ist kaum mehr zu übersehen und ohne einen fundamentalen Regimewechsel in der Türkei und einer daraus resultierenden Veränderung der türkischen Außenpolitik auch nicht revidierbar.

 

Gemeinsame Wertegrundlage

Dabei müssen insbesondere Entwicklungen im Kontext des Artikel 2 Absatz 1 und der darin formulierten gemeinsamen Wertegrundlagen diskutiert werden. Dort heißt es:

„Die Freie und Hansestadt Hamburg und die islamischen Religionsgemeinschaften bekennen sich zu den gemeinsamen Wertegrundlagen der grundgesetzlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere zur Unantastbarkeit der Menschenwürde, der Geltung der Grundrechte, der Völkerverständigung und der Toleranz gegenüber anderen Kulturen, Religionen und Weltanschauungen sowie der freiheitlichen, rechtsstaatlichen und demokratischen Verfassung des Gemeinwesens. Sie sind sich einig in der Ächtung von Gewalt und Diskriminierung auf Grund von Herkunft, Geschlecht, sexueller Orientierung, Glauben oder religiöser oder politischer Anschauungen und werden gemeinsam dagegen eintreten.“

In den Einzelbegründungen zu dem Vertrag heißt es zu diesen Wertegrundlagen:

„Sowohl die in Satz 1 als auch die in Satz 2 besonders genannten Einzelaspekte der gemeinsamen Wertegrundlagen zielen nicht auf eine theoretische Vollständigkeit, sondern benennen Gesichtspunkte, deren besondere Betonung über ihr materielles Gewicht hinaus auch wegen ihrer im politischen und gesellschaftlichen Diskurs erkennbar gewordenen Virulenz nahe lag.“

Dieser Aspekt wurde von den muslimischen Vertragspartnern noch während der Verhandlungen zum Vertrag und auch über die Zeit nach der Unterzeichnung hinaus nicht richtig verstanden oder nicht einem solchen Verständnis entsprechend berücksichtigt. Die muslimischen Vertragspartner haben stets angenommen, die Berufung auf eine solche gemeinsame Werteordnung und die Ächtung von demokratieschädlichen Einflüssen habe sich mit dem phonetischen oder schriftlichen Vollzug ihrer Deklaration erledigt.

Sie haben verkannt oder ignoriert, dass sie mit diesem Vertrag – „… und werden gemeinsam dagegen eintreten.“ – auch ein konkretes Handlungsversprechen abgeben. Dieses Versprechen konnten sie indes schon während der Verhandlungsführung über den Inhalt des Vertrages nicht uneingeschränkt einlösen. Ein Vertreter der SCHURA musste seinen Platz in der Delegation der muslimischen Verhandlungsführer räumen. Eben wegen gravierenden Widersprüchen im Hinblick auf die gemeinsamen Wertegrundlagen. Er fiel später mit antiisraelischen Reden und religiöser Verbrämung und Unterstützung türkischer Militäroperationen und seinem Posten als Vorsitzender eines wegen Unterstützung der Hamas verbotenen „Hilfsvereins“ auf. Diese Personalfrage endete damit, dass der Betroffene seine Ämter ruhen ließ und später aus dem Vorstand ausschied. Ein eigenes aktives Eintreten und damit der eigeninitiative Rausschmiss durch die SCHURA selbst war offenbar nicht möglich.

Ähnliche Schwierigkeiten hat die SCHURA bis heute mit Mitgliedern, die mit ihren Inhalten und Loyalitäten im deutlichen Widerspruch zu dem vertraglichen Bekenntnis gemeinsamer Werte stehen.

Mit dem Islamischen Zentrum Hamburg (IZH) ist der Außenposten des iranischen Regimes Mitglied der SCHURA. Der damalige SCHURA Verhandlungsdelegierte Norbert Müller beschreibt das IZH in seiner aktuellen AIWG-Expertise zu dem Hamburger Vertrag mit diesen Worten:

„Das Islamische Zentrum stellt eine zentrale Institution des schiitischen Islams in Deutschland und Europa dar, deren Leiter aus dem Iran entsandte Theologen sind. Aufgrund der Verbindung zur religiösen Führung im Iran wird dem Islamischen Zentrum etwa vom Verfassungsschutz Hamburg vorgeworfen, die Politik des Irans und den Export der islamischen Revolution in Deutschland zu betreiben. Diese Sichtweise ist von SCHURA wie vom Islamischen Zentrum zurückgewiesen worden: Das Islamische Zentrum sei als SCHURA-Gründungsmitglied an der Formulierung aller inhaltlichen Dokumente wie dem Grundsatzpapier und der Selbstverständniserklärung beteiligt gewesen und trage das darin formulierte Bekenntnis zur grundgesetzlichen Ordnung mit den Werten der Demokratie, Pluralität und Säkularität wie auch die im Staatsvertrag niedergelegten Wertegrundlagen uneingeschränkt mit, erklärte die SCHURA Hamburg im Jahr 2020.“

Der SCHURA genügt das rein deklaratorische Bekenntnis seines Mitglieds, zwar Teil des iranischen Regimes zu sein, aber gleichzeitig nicht die Werte des iranischen Regimes zu vertreten, sondern die der deutschen grundgesetzlichen Ordnung mit zu tragen. Dabei scheint es für die SCHURA keine Rolle zu spielen, dass der Iran ein Staatssystem mit theokratischen und totalitären Elementen ist, deren Staatsführer als Statthalter religiöser Autorität fungieren und alle Subjekte des Staates zu absolutem Gehorsam verpflichten. Eine Trennung von politischer Autorität und religiöser Autorität ist aus iranischer Perspektive gar nicht möglich. So ist das IZH dem geistlichen Oberhaupt und damit auch dem höchsten Staatsamt des iranischen Staates unterstellt.

Gleichwohl hat die Einschätzung der Freien und Hansestadt Hamburg und die ihrer Sicherheitsbehörden für ihren Vertragspartner SCHURA keine Bedeutung – jedenfalls keine größere Glaubwürdigkeit als das Wort des IZH. Der Hamburger Verfassungsschutz hatte erklärt, ihm würden iranische Dokumente vorliegen, die die Weisungsgebundenheit des IZH-Leiters Mohammad Hadi Mofatteh an das iranische Regime beweisen würden. Die Selbstinszenierung des IZH als rein religiöse, von Teheran unabhängige Einrichtung sei deshalb nicht glaubhaft. Der Autor der AIWG-Expertise zum Hamburger Vertrag, Norbert Müller, erwiderte in der Presse darauf:

„Ich glaube in diesem Punkt eher dem IZH als den Sicherheitsbehörden. Solange sich die Vertreter daran halten und unsere Beschlüsse respektieren, gilt das Wort des IZH: Es ist eine religiöse Einrichtung, keine politische des Iran.“

Vertraglich verpflichtet zum gemeinsamen Eintreten gegen demokratiefeindliche und antisemitische Tendenzen, scheint die SCHURA mit ihren Vertretern bislang wohl eher dazu bereit, das für seine antidemokratische Ideologie, sein totalitäres Religionsverständnis und seine antisemitische Haltung bekannte Regime in Teheran und seine Auslandseinrichtungen zu unterstützen als die Behörden ihres Vertragspartners in Hamburg.

 

Erstarken des Erbakan Personenkultes

Im Hinblick auf die gemeinsamen Wertegrundlagen muss auch auf ein Phänomen hingewiesen werden, das bereits in den obigen Ausführungen zu der tatsächlichen Entwicklung der Milli Görüş skizziert wurde. In den letzten Jahren ist zunehmend zu beobachten, dass angesichts der politischen Entwicklungen in der Türkei die Existenzberechtigung der Milli Görüş als Triebkraft eines politischen Islams im parlamentarischen Raum obsolet geworden ist. Da also die politische Arbeit im Hinblick auf die Türkei ihr Ziel zumindest mittelbar durch die AKP erreichen konnte, fragt sich, was der Organisationszweck der IGMG und damit ihrer bundesweiten Untergliederungen überhaupt noch sein soll. Eine Antwort scheint die IGMG Führung gefunden zu haben, die bislang öffentlich nicht kommuniziert wird, deren Folgen aber in der Jugendarbeit zu beobachten sind.

Es ist zu befürchten, dass die Verehrung Necmettin Erbakans und seiner Ideologie der „gerechten Ordnung“ in Zukunft durch die Verbandsführung selbst massiv gefördert werden wird. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem antidemokratischen, misogynen, antisemitischen Gedankengut Erbakans wird es auf absehbare Zeit nicht geben. Vielmehr ist anzunehmen, dass dieses Erbe immer stärker wiederbelebt und als Vorbild für die verbandsinterne Jugendarbeit aktiviert werden wird. Damit wird eine Übernahme ideologischer Versatzstücke einhergehen, die nicht mehr in der politischen und gedanklichen Auseinandersetzung mit einem lebenden Erbakan reflektiert werden können, sondern die durch seine physische Abwesenheit vielmehr zu einer mystifizierenden und überhöhenden Verehrung seiner Person und seiner Schriften führen werden. Eine muslimische Jugend, die sich der Ideologie Erbakans verschreibt, ist ein gravierendes Problem für jede demokratische Gesellschaft. Momentan muss man befürchten, dass die IGMG und damit alle ihr zuzuordnenden Untergliederungen auf dem Weg sind, dieses Problem zu vergrößern.

 

Schlussbetrachtung

Unter Berücksichtigung der obigen Ausführungen ergibt sich ein Bild der Erfahrungen der letzten zehn Jahre, das die Frage aufdrängt, welchen Sinn dieser Vertrag noch hat und ob er fortgesetzt werden soll. Die staatliche Seite dürfte nicht daran interessiert sein, eine Auseinandersetzung über die Kündigung des Vertrages auszufechten. Vielmehr wird sie an dem Vertrag festhalten und seine Bindekraft für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die tatsächliche Kooperation zwischen Staat und muslimischen Verbänden betonen.

Es ist verständlich, dass eine Kündigung des vor zehn Jahren unterzeichneten Vertrages durch die Freie und Hansestadt Hamburg einen immensen politischen und gesellschaftlichen Schaden verursachen würde. Angesichts der negativen Veränderungen im Hinblick auf die Eigenschaften einer Religionsgemeinschaft, die entsprechend den obigen Bewertungen bei mindestens zwei von drei Vertragspartnern zu beobachten ist, wäre ein unverändertes „Weiter so“ aber ebenfalls eine schlechte Option. Vielmehr sollten konkrete zusätzliche Verpflichtungen der Vertragspartner vereinbart werden, mit denen der Aspekt der Fortentwicklung der statusrechtlichen Verhältnisse innerhalb der Verbände und die tatsächliche Umsetzung der bisherigen Vereinbarungen zu den Feiertagen und dem Zusammenwirken nochmals bekräftigt und mit möglichst konkreten zeitlichen Fristvorgaben für alle Vertragspartner verbindlich festgeschrieben werden. Sind die Vertragspartner dazu nicht bereit oder fähig, müssen sie sich über eine inhaltliche Anpassung und Veränderung des bisherigen Vertragstextes Gedanken machen.

Die These einer demokratischen Transformation durch Kooperation oder einer wachsenden religionsverfassungsrechtlichen Selbstorganisation durch kooperative Nähe hat sich angesichts der obigen Feststellungen und Zustandsbeschreibungen in den letzten zehn Jahren jedenfalls nicht bewahrheitet. Es ist vielmehr eine gegenläufige Tendenz zu beobachten; die muslimischen Verbände haben sich in den verstrichenen zehn Jahren vom Status einer Religionsgemeinschaft eher entfernt, als dass sie ihn verfestigt hätten. Die bekundete gemeinsame Wertegrundlage hat sich nicht stabilisiert und vertieft. Sie ist eher brüchiger geworden.

Ist nun die Zeitspanne zu kurz? Wird sich in nochmal zehn Jahren endlich der Transformationseffekt zeigen, der bereits vor zehn Jahren mit der Vertragsunterzeichnung verfolgt wurde?

Die Gründe für die Stagnation und die Rückschritte der letzten zehn Jahre liegt nach hiesiger Ansicht nicht an einem rein zufälligen Kompetenzmangel oder an einem bloß übersehenen und dadurch vernachlässigten Dissens in der Erwartungshaltung, die mit der Vertragsunterzeichnung einhergegangen sein mag. Es ist vielmehr zu vermuten, dass die fehlende positive Fortentwicklung der muslimischen Organisationsstrukturen und der Kooperation mit dem Staat ganz wesentlich von einem prinzipiellen Verhältnis der muslimischen Verbände zum deutschen Religionsverfassungsrecht beeinflusst ist. Es ist ein Verhältnis und ein Verständnis darüber, wie Religionsverfassungsrecht funktioniert. Und dieses Verständnis der muslimischen Verbände steht der tatsächlichen Intention und der Wirkungsweise des Religionsverfassungsrechts diametral entgegen.

Ein Indiz für die Begründetheit dieser These bieten die Ausführungen des Autors der AIWG-Expertise zu dem Hamburger Vertrag. Norbert Müller hat sich in der Expertise und in der Presse dazu geäußert, wie er sich die nächsten Schritte auf dem Weg der Kooperation zwischen Staat und muslimischen Verbänden vorstellt. Seine Aussagen sind erhellend. In der von ihm verfasste Expertise zu dem Hamburger Vertrag formuliert er:

„Die Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts wird aber gleichwohl als zentrale Entwicklungsperspektive der nächsten Jahre gesehen. Erreicht werden soll damit in erster Linie etwas, was sich schon beim Staatsvertrag als entscheidender Wert erwies: Weiterhin öffentliche Anerkennung und eine verbesserte Rechtsposition – und damit mehr gesellschaftliche Teilhabe- und Gestaltungsmöglichkeiten für die muslimische Bevölkerung im Sinne eines friedlichen Zusammenlebens in Deutschland.“

Im Interview mit WELT AM SONNTAG hatte Müller auf die Frage nach dem nächsten Schritt in der Entwicklung der Schura ausgeführt:

„Dass die Schura über die Anerkennung als Religionsgemeinschaft hinaus den Körperschaftsstatus erlangt, wie die Kirchen auch. Das wäre eine weitere Aufwertung, weil dies die gesellschaftliche Wahrnehmung der islamischen Verbände noch mal auf neue Füße stellen würde.“

Die zurückliegende zehnjährige Starre der muslimischen Verbände im Hinblick auf die Verpflichtungen des Hamburger Vertrags, ihre Selbstorganisation und ihre Zuwendung hin zur deutschen Gesellschaft ist also nicht bloß die Folge einer fehlenden Kompetenz oder fehlender tatsächlicher Möglichkeiten. Sie ist vielmehr die Manifestation eines grundsätzlichen Missverständnisses, wie Religionsverfassungsrecht funktioniert und was der Status einer Religionsgemeinschaft oder einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft überhaupt gesellschaftlich bedeutet.

Nach Ansicht der muslimischen Verbände – unterstellt, die Wertungen des zitierten Autors sind repräsentativ auch für die anderen beiden Vertragspartner – soll ihre bloße Existenz ausreichen. Es sind muslimische Vereine und Verbände gegründet worden. Sie haben sich Satzungen gegeben und verhalten sich in etwa so, wie es juristisch vorausgesetzt wird, um als Religionsgemeinschaft zu gelten. Mit dem Hamburger Vertrag wurde ihnen diese Eigenschaft auch schriftlich bescheinigt. Also glauben sie, weiterhin still und untätig auf den reinen Zeitablauf warten zu können, bis eine weitere staatliche Initiative und politischer Gestaltungswille ihnen den Status einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft beschert.

Die muslimischen Verbände scheinen davon überzeugt zu sein, dass sie zunächst weitere politische und gesellschaftliche Anerkennung und eine Verbesserung ihres rechtlichen Status erhalten müssen, um erst anschließend sich darüber Gedanken zu machen, was sie aus diesen neuen Möglichkeiten inhaltlich ableiten wollen.

Das Motto der muslimischen Verbände scheint zu sein: „Erst Status, dann inhaltliche Substanz und Verbindlichkeit“.

Es ist exakt diese Haltung der muslimischen Verbände, die sie übersehen ließ, welche Verpflichtungen zur Fortentwicklung sie mit der Vertragsunterzeichnung vor zehn Jahren eingegangen sind. Sie hätten handeln müssen. Sie hätten durch die Fortentwicklung ihrer Binnenstrukturen und ihren öffentlich wahrnehmbaren Einsatz für die Hamburger Stadtgesellschaft insgesamt deutlich machen müssen, dass ihr Bekenntnis zu den Inhalten des Vertrages Hand in Hand geht mit ihrem Glaubensbekenntnis und dass gerade diese Kombination Positives für die gesamte Hamburger Gesellschaft zu entfalten vermag. Das wäre dann eine inhaltliche Substanz, die der Staat mit der Verleihung des Körperschaftsstatus in ihrer positiven Wirkung dauerhaft unterstützen und somit für die Hamburger Gesellschaft sichern könnte. Zehn Jahre lang hatten die muslimischen Verbände Zeit, vorzuleben, was diese positive gesellschaftliche Substanz ausmacht und wie sie konkret in Hamburg wirkt. Ist in den zurückliegenden zehn Jahren irgendetwas davon sichtbar geworden?

Ohne auf diese inhaltliche Leere / Lehre der letzten zehn Jahre zu blicken, will man nun den nächsten staatlichen Akt der Anerkennung, die nächste rechtlich stärkere Position und verspricht, endlich gesellschaftlich sinnvolle Wirkungen zu entfalten und sich für Demokratie und gleichberechtigtes Zusammenleben ohne Anfeindung anderer Gruppen einzusetzen – wenn man denn zunächst alles bekommt, was man sich wünscht.

Wie glaubwürdig ist aber das Versprechen, dass es diesmal besser laufen wird als in den letzten zehn Jahren?

Auf der SCHURA Webseite findet sich eine Formulierung, mit der das Selbstverständnis dieses Verbandes in Abgrenzung zu anderen Muslimen beschrieben wird. Dort heißt es:

„Im Gegensatz zu anderen Muslimen, die sich oft zu lange abschotteten und diese Abschottung dann erst im Konflikt und damit in einer nachteiligen Situation zwangsweise aufgeben mussten, hat man in Hamburg frühzeitig gelernt, sich in den hiesigen gesellschaftspolitischen Strukturen richtig zu bewegen.“

Da zu sein, nicht abgeschottet zu sein, reicht nicht aus. Konflikte nicht zu lösen, sondern sie zu umgehen oder zu vertagen oder schlichtweg zu leugnen, sind keine „richtigen“ Bewegungsmuster. Nur gelernt zu haben, wie man sich richtig zu bewegen hat, reicht für eine Religionsgemeinschaft nicht aus. Ein taktisches Verhältnis zu Stadt und Gesellschaft, ein strategisches Warten auf günstigen politischen Wind kann zur Unterzeichnung eines Vertrages führen. Es füllt diesen Vertrag aber nicht mit Leben.

Die härteste Währung von Religionsgemeinschaften sind Wahrheit und Glaubwürdigkeit. Bloße Bekundungen, schriftliche Bekenntnisse und vertragliche Versprechungen reichen nicht aus. Religionsgemeinschaften müssen im praktischen Alltag und in Konfliktfällen beweisen, welchen inhaltlichen Impuls sie zum Gelingen einer Gesellschaft beitragen können. Der rechtliche Status ist nicht die Bedingung, sondern die Folge ihrer tatsächlichen Handlungen und Wirkungen.

Die muslimischen Verbände in Hamburg sollten in den nächsten zehn Jahren konkret nachweisen, dass sie diese Reihenfolge endlich verstanden haben und nicht nur auf dem Papier, sondern auch tatsächlich Religionsgemeinschaften sein wollen. Denn nicht nur die muslimischen, sondern alle HamburgerInnen haben eine bessere Arbeit der Vertragspartner ihres Staatsvertrages verdient.