Sehnsucht nach Größe

Die Parlamentswahlen und die Wahl zum Staatspräsidenten in der Türkei sind vorüber. Die Hoffnungen auf einen Wandel in der Türkei waren – in der Türkei und im Ausland – diesmal offenbar so groß, dass mit der neuerlichen Bestätigung der Machtverhältnisse die erneute Enttäuschung über die Entscheidung der türkischen Wahlberechtigten sich in noch gröberen Zügen und wiederholter Geringschätzung Bahn brach und in den öffentlichen Diskursraum vordrang. Insbesondere die türkischen Wahlberechtigten in Deutschland standen wieder im Fokus der Aufmerksamkeit.

An ihnen arbeitet sich die zunehmende Ratlosigkeit ab, wie Menschen antidemokratische Regime in der alten Heimat voller Begeisterung stützen können, während sie hier in ihrem deutschen Zuhause die Vorzüge eines demokratischen Gemeinwesens genießen und sicher bereit wären, auf die Barrikaden zu gehen, würden sie hier die Betroffenen nur eines Bruchteils jener staatlichen Willkür sein, unter der tausende Menschen gegenwärtig in der Türkei zu leiden haben.

Der Vorwurf der fehlenden demokratischen Reife macht die Runde. Und in der Selbstbefragung der deutschen Öffentlichkeit, was sie angesichts dieses Wahlverhaltens denn integrationspolitisch falsch gemacht haben mag, schwingt die unausgesprochene Andeutung mit, zu nachlässig mit den türkischen Mitbürgern gewesen zu sein. Manch einer will all jene, die nicht so wählen, wie es seiner Auffassung nach richtig wäre, in „ihre Hinterhöfe“ zurückschicken.

Teilweise wird auch selbstkritisch hinterfragt, ob nicht die versäumte staatsbürgerliche Eingliederung Türkeistämmiger und die Vernachlässigung ihrer parteipolitischen Teilhabemöglichkeiten eine Ursache für die aktuellen Entwicklungen sein könnten. Das Pendel schwingt dann in die andere Richtung und macht allein Diskriminierung und Geringschätzung im deutschen Diskurs verantwortlich für die problematisierte Wahlentscheidung.

Gründe für das Wahlverhalten

All diese Ansichten implizieren häufig die Annahme, die Wahlentscheidung der Türkeistämmigen sei eine Reaktion, ein Trotzverhalten auf hiesige Umstände. Das erscheint auf den ersten Blick nachvollziehbar, beschreibt die Motivlage aber nicht präzise genug. Dieses Narrativ ist selbst bei den betroffenen Wahlberechtigten anschlussfähig, passt sie sich doch bequem in die Reihe der Opfernarrative ein, mit denen Türkeistämmige und muslimische Bürger in Deutschland die Verantwortung für ihr Handeln – oder immer häufiger gerade für ihre Passivität – äußeren Einwirkungen zuschreiben und somit eine selbstreflektierende, kritische Diskussion über das eigene Denken und Handeln von sich schieben.

Dabei hat der Zuspruch für die AKP und die Treue der Wahlberechtigten für die Person Erdoğans sehr tiefe, in der türkischen Befindlichkeit verwurzelte, intrinsische Motive. Der AKP gelingt es seit 16 Jahren, diese Saiten der türkischen Seele mal sehr grob und plump anzuschlagen, mal sie mittelbar, auf subtile Weise zu streicheln. Der Effekt ist stets eine auf die Führungsperson der AKP hin individualisierte Projektion kollektiver türkischer Denk- und Reaktionsmuster – und damit eine kaum zu erschütternde, weil rationalen Zweifeln gegenüber immunisierte und uneingeschränkte Begeisterungsbereitschaft.

Die Gefühlswelt, aus der sich dieser Zuspruch speist, ist so komplex, dass sie schwer nur in einem Text beschrieben werden kann. Sie mag auch nicht monokausal das Wahlverhalten erklären können. Hier soll aber dennoch der Versuch unternommen werden, einige Schlaglichter auf diese Binnensphäre des türkischen Denkens und Empfindens zu werfen, um konkreter sichtbar werden zu lassen, mit welchen Phänomenen wir es zu tun haben: Die Versuchung abgeleiteter Macht und der Versuch, eine verhasste historische Vaterfigur zu ersetzen.

Chiffren der türkischen Befindlichkeit

Die türkische Seele kann man am ehesten dechiffrieren, wenn man die Stilmittel näher untersucht, derer sich die AKP bedient, um sie anzusprechen. Im jüngst vergangenen Wahlkampf wurde ein Wahlwerbefilm veröffentlicht, der in seiner Bildersprache an die Tiefen der türkischen Seele anknüpft. Der Werbefilm stellt Szenen der osmanischen Geschichte nach. Er beginnt in der vorosmanischen, seldschukischen Geschichte und bei dem Großseldschukischen Sultan Alp Arslan, der als siegreicher Befehlshaber in der Schlacht von Manzikert 1071 die „Tore Anatoliens aufgestoßen hat“, wie die Stimme des türkischen Staatspräsidenten Erdoğan aus dem Off die Bilder kommentiert.

Der Film geht weiter über die Eroberung Istanbuls durch Sultan Mehmet II., zur Expansion des Osmanischen Reiches auf dem Balkan unter Süleyman dem Prächtigen mit seinem Sieg bei der Schlacht von Mohács. Erfolg wird in dieser historischen Perspektive mit militärischer Expansion und Landgewinn gleichgesetzt.

Für die neuere Geschichte ist hingegen nur andeutungsweise Platz: Der Schritt vom Osmanischen Reich zur Republik Türkei wird nur in seiner frühesten Phase gezeigt. Mustafa Kemal, der spätere Staatsgründer Atatürk – „Vater der Türken“ –, wird als schattige Gestalt ohne Gesicht auf der „Bandirma“ gezeigt, dem Schiff, mit dem er als osmanischer Militärinspekteur an der Schwarzmeerküste bei Samsun landen wird, um danach den republikanischen Aufstand gegen das osmanische Herrscherhaus anzuführen.

Die Wahlwerbung schlägt den Bogen in die Neuzeit und schnell wird deutlich, was Erfolg für die AKP bedeutet und wie er stilistisch den Zuschauern vermittelt werden soll. Das Stichwort ist: Beton. Die Stärke und der Fortschritt der „neuen Türkei“ werden mit Bildern von Bauwerken beschrieben. Straßen, Tunnel, Brücken, Staudämme, Hochhäuser, Flughäfen. Sie sind die in Beton gegossenen Symbole staatlicher Potenz. Der Film endet mit einer Nahaufnahme Erdoğans und seiner in eine noch erfolgreichere Zukunft weisenden Pose: Mit ausgestrecktem Arm und Zeigefinger in die Ferne deutend. All diese filmischen Elemente sind von Bedeutung. Wir werden sie im Laufe dieses Textes entschlüsseln.

Mythologische Legitimation absoluten Machtanspruchs

Der rote Faden des Werbefilms, das stilistische Mittel, mit denen die Szenen aus Vergangenheit und Gegenwart mit Fingerzeig in die Zukunft verbunden werden, ist die computeranimierte Darstellung eines mythologischen Vogels, der durch alle Bilder, alle historischen und aktuellen Szenen fliegt. Es ist der „Zümrüdü Anka“, der smaragdene Anka-Vogel. Ein Fabelwesen der zentralasiatischen Turkvölker. Diese und ähnliche Figuren sind in den verschiedenen asiatischen und vorderasiatischen Kulturen bekannt. Er gleicht dem persischen Simurgh, der wieder Parallelen zum Phönix aufweist. Die Symbolik der neuen, strahlenden Wiedergeburt aus dem Feuer und der Asche des eigenen Niederganges verbindet diese sich ähnelnden mythologischen Erzählungen. In den letzten Sekunden des Werbefilms fliegt der Anka-Vogel über das Haupt des Staatspräsidenten Erdoğan, seinen ausgestreckten Arm entlang und über den Zeigefinger hinauf in den Himmel.

All diese Szenen, all diese historischen und mythologischen Andeutungen sind Chiffren, die tief in die türkische Seele hineinwirken. Es muss tatsächlich nicht einmal ein ausdrückliches Wissen um Geschichte und Symbolik vorhanden sein. Im Gegenteil ist die bloße Präsenz von Volkssagen und Erzählungen, von Legendenbildungen der osmanisch-türkischen Geschichte ausreichend, um die beabsichtigte Wirkung zu erzielen.

Der Staatspräsident Erdoğan wird durch die Darstellung in diesem Werbefilm in eine Reihe gestellt mit den historischen Heldenfiguren der osmanischen Geschichte. Es sind Eroberer, absolutistische Alleinherrscher. Die mythologische Verbindung dieser Figuren durch den Anka-Vogel verstärkt den Führungsanspruch und die Personalisierung von staatlicher Macht.

Die persisch geprägte Erzählung des Anka-Vogels wird in der türkischen Mythologie durch die Vogelgestalt „Hüma“ ergänzt. Die Ursprünge dieser Mythologie reichen bis in die Frühzeit der mongolischen und zentralasiatischen Turkvölker zurück. In der osmanischen Geschichte hat sich diese Erzählung erhalten. Von dem Namen „Hüma“ leitet sich etwa der Begriff „Hümayun“ ab, eine Bezeichnung für den alleinigen Herrscher, den Gebieter. Der Sage nach wird jener Mann zum Herrscher, zum obersten Anführer, auf dessen Haupt der Schatten Hümas fällt. Hümayun ist die Erzählung von einer Souveränität, von einem Herrschaftsanspruch, der vom Himmel herab, von Gottes Gnaden nur einer bestimmten Person zukommt. Hümayun ist zugleich der Herrschertitel der osmanischen Sultane.

Und nun ist es in diesem Werbeclip Erdoğan höchst selbst, über dessen Haupt Hüma seinen Schatten wirft. Ein Führer, ein Gebieter, der vom höchsten Willen legitimiert wird – das ist die Botschaft. Und wer will sich schon dem Willen Gottes widersetzen?

Osmanische Vorbilder und ihre Widersprüche

Der historische Bezug zur Eroberungsphase des Osmanischen Reiches passt in die zunehmend nationalistische und militaristische Tonlage der türkischen Regierungspolitik. Sie ist Zeugnis einer einseitig verklärenden, idealisierenden Geschichtsbetrachtung. Das Osmanische Reich ist in Populärkultur und im Bildungssystem vor allem mit der Gründungs- und Expansionsphase präsent. Von 1299 bis 1566 reicht diese Phase. Knapp drei Jahrhunderte, die auch heute noch immer wieder als Bezugsgrößen für gegenwärtiges Handeln herangezogen werden.

Die längere, knapp 350 Jahre dauernde Phase der Stagnation und des Zerfalls wird konsequent ausgeblendet, hat indes im türkischen Unterbewusstsein viel prägendere Spuren hinterlassen. Die Erfahrung des stetigen Gebietsverlustes und der andauernden Reihe militärischer Niederlagen im Kaukasus, auf dem Balkan, in Nordafrika, im Nahen Osten, der Verlust der heiligen Stätten in Mekka und Medina, bis hin zur Besetzung Westanatoliens durch griechische Truppen Anfang des 20. Jahrhunderts haben das Gefühl der Ohnmacht, der Bedrohung durch innere und äußere Feinde bis zum heutigen Tag erhalten.

Aktuell werden immer wieder Jahrestage der Eroberung oder der Befreiung von Besatzungstruppen feierlich begangen. Wie zur Selbstvergewisserung und Besänftigung im Unterbewusstsein präsenter Verlustängste wird die Eroberung Istanbuls durch osmanische Truppen im 15. Jahrhundert wieder und wieder gefeiert. Es sind die gleichen Anhänger der AKP, die einerseits nicht müde werden, die „Pax Ottomana“ zu beschwören, eine idealisierte Vorstellung vom Osmanischen Reich als immer gerecht handelndes, alle Religionen und Ethnien gleichberechtigt unter dem Dach der eignen Herrschaft vereinendes historisches Vorbild. Andererseits sind es eben diese Anhänger Erdoğans, die ihn dazu aufrufen doch endlich die Hagia Sophia in Istanbul wieder als Moschee in Dienst zu stellen. Es sind Gesten der wiederholten Aneignung, der endgültigen Inbesitznahme, mit denen vermeintlich Stärke und Dominanz verkörpert werden sollen, die aber doch unverkennbar nur Schwäche und tiefe Unsicherheit zur Grundlage haben.

Konflikt mit der Moderne

Es ist das bis heute nicht aufgelöste emotionale Spannungsverhältnis, die osmanischen Vorfahren verehren zu wollen, aber die Konsequenz des territorialen Zerfalls nicht akzeptieren zu können. Es ist der bis heute wirksame innere Konflikt mit der Moderne. Ihre technologischen Errungenschaften sind unverzichtbar für die Erzählung von Erfolg und Fortschritt aber gleichzeitig wird eine tiefe Abneigung gegen den vermeintlichen „moralischen Verfall“ des Westens empfunden. Dieser innere Konflikt entzündet sich stellvertretend in der Figur Atatürks. Er ist Kriegsheld und Befreier von ausländischer Besatzung, er ist der Modernisierer der Türkei. Aber er ist auch gleichzeitig der durch das osmanische Herrscherhaus in Abwesenheit wegen Hochverrats zum Tode verurteilte Abtrünnige, jener, der das Sultanat und das Kalifat abgeschafft hat.

Der unter Atatürk vollzogene massive Bruch der jungen republikanischen Türkei mit dem osmanischen Erbe hatte seine Motivation in dem Willen, gesellschaftliche und technologische Rückständigkeit gegenüber dem Westen aufzuholen und zu überwinden. Sie wurde begleitet durch eine imaginierte historische Homogenitätserzählung mit dem Ziel, ein gemeinsames türkisches Nationalbewusstsein zu konstruieren und zu festigen. Opfer dieser Assimilierungspolitik waren naturgemäß religiöse und ethnische Minderheiten, aber auch religiös-konservative Bevölkerungsgruppen, die sich nach den klaren Herrschaftsverhältnissen einer Monarchie und der prägenden Rolle der Religion zurücksehnten.

Im Spannungsverhältnis dieser historischen Erfahrungen konnte sich bis zum heutigen Tag kein in der Masse der Bevölkerung wirksames Bewusstsein ausprägen, das die eigene Rolle als individueller Staatbürger definiert. Vielmehr herrscht im Grunde weiter die Selbstwahrnehmung als Untertan einer staatlichen Obrigkeit, die es loyal zu stützen gilt. Die türkische Gesellschaft fühlt sich durch Stärke und Macht angezogen. Sie projiziert die Stärke ihres Führers auf die eigene Persönlichkeit und kompensiert damit auch kollektive Erfahrungen der Schwäche und Hilflosigkeit.

Projektion und Überleitung von Macht

Ein aggressiver, wehrhafter Staatsführer befriedigt die eigenen Gefühle und Sehnsüchte nach Einfluss, Geltung und Wirkmacht. Neid hat in dieser Denkweise keine Bedeutung. Korruption, Nepotismus, persönliche Bereicherung können der Bewunderung eines starken Führers nichts anhaben. Sie werden ins Reich der Unterstellung verbannt und als Zeichen des Versuchs, die Türkei zu schwächen, interpretiert.

Ein Herrscherpalast löst keine Missgunst aus. Denn es ist der Palast des eigenen Herrschers und von dessen Pracht und Macht strahlt letztlich ein Teil auch zurück auf jeden Anhänger. Das ist die Mentalität türkischer Wähler. Sie treten mit Phantasiekostümen osmanischer Herrscher an die Wahlurnen, als seien sie irrtümlich vergessen und zurückgelassen worden, während die Herrscherfamilie der Osmanen ins Exil verbannt wurde. In jedem schlummert ein verhinderter Großwesir oder zumindest ein Janitscharenkrieger, der sein Denken und Handeln ohne umständliche Selbstbefragung an seinem mächtigen Sultan ausrichtet.

Erdoğan erfüllt diese Sehnsucht nach einem Herrscher, der in seiner Machtfülle absolut ist, der alle Verantwortung für das Denken und Handeln des Kollektivs übernimmt und nicht irren kann, weil sonst die Bewunderung für ihn ja eine Schwäche, ein Irrtum des Individuums selbst sein müsste. Deshalb spielt es keine Rolle, ob von der Türkei unter Erdoğan noch von einem Rechtsstaat gesprochen werden kann. Es ist irrelevant, dass Tausende sich staatlicher Willkür und Unterdrückung ausgesetzt sehen. Es hat nichts zu bedeuten, dass die Räume der Freiheit in der Türkei immer enger werden. Davon ist emotional und konkret nur etwa die Hälfte der türkischen Bevölkerung betroffen – jene, die nicht Erdoğan wählt. Die andere Hälfte erlebt einen zumindest emotional empfundenen Aufstieg und eine eigene Stärke, an der sie sich bis zur Verblendung, bis zur Selbstverleugnung berauscht.

Der Rausch der Macht

Die religiös-konservativen Kräfte erleben sich nun unter der Herrschaft von Gleichgesinnten als potente Bevölkerungsgruppe. Sie erinnern sich an die eigene Schwäche und Hilflosigkeit unter dem repressiven Regime des kemalistisch geprägten Militärs und der darauf folgenden Regierungen der politischen Mitte. Sie haben nun die Möglichkeit, durch simpelste Denunziation über menschliche Schicksale zu entscheiden. Diese vom Staatsführer abgeleitete Macht über den Nächsten will die AKP-nahe Bevölkerung nicht aus der Hand geben.

Individuelle Eigenschaften sind in dieser Konstellation ohne Bedeutung. Die Türkei der letzten 15 Jahre erlebt eine unglaubliche Entwertung der Bildung. Ihr Staatspräsident – alle in der türkischen Bevölkerung wissen das – hat allem Anschein nach keinen regulären Hochschulabschluss. Es gibt weder überzeugende Dokumente, noch Hochschullehrer, noch Kommilitonen, die sich an den Studenten Erdoğan erinnern können. Damit fehlt ihm wohl eine formale Voraussetzung, um dieses Amt zu bekleiden. Den Anhängern ist das egal. Mitbewerber um das höchste Staatsamt wurden als „elitistisch“ geschmäht, weil sie mehrere Fremdsprachen sprechen. „Wir wählen keinen Dolmetscher, wir wählen einen Staatspräsidenten“, war die Reaktion der Regimebefürworter. Über beruflichen Erfolg und gesellschaftlichen Aufstieg entscheidet in der Türkei nicht mehr die individuelle Leistung, sondern das tatsächliche oder gemutmaßte Wohlwollen der obersten Staatsführung. Deshalb ist tatsächliche oder bloß behauptete Nähe zum Staatspräsidenten das beliebteste Mittel der Selbstinszenierung.

Das Gefährliche an der Erdoğan-Verehrung ist die emotional-affektive Komponente. Erdoğan ist Symbol und Projektionsfläche für die Überkompensation von beinahe 400 Jahre andauernden Niederlagen und Rückschlägen. Er verkörpert den Anspruch der Auflehnung gegen ein als schicksalhaft begriffenes Sich-Fügen in die Rolle des Verlierers. Bei dieser Auflehnung geht es nicht um Überwindung von technologischer Rückständigkeit oder die Aufarbeitung militärischer Niederlagen. Es geht nicht darum, das unter kemalistischer Militärdiktatur erlebte Unrecht aufzuarbeiten. Es geht nicht mal darum, die arabeske Interpretation von Laizismus und Säkularismus auf den Prüfstand zu stellen und im Sinne einer religiös-konservativen Politik neu zu justieren.

Die Macht des Hasses

An diese komplexen Denkmuster appelliert Erdoğan nicht. Seine Sprache ist einfacher, im Volk verständlicher, härter und eindeutiger. Es geht ihm um Rache, um Revanche. Es geht nicht darum, das Land in eine für alle Bürger freie, gleichberechtigte und gerechtere Zukunft zu führen. Es geht nicht darum, das Unrecht vergangener Regierungen aufzuarbeiten und als Mahnung für die politische Zukunft des Landes zu verstehen.

Erdoğan geht es vornehmlich darum, die Machtverhältnisse, die dieses Unrecht begünstigten, in seinem Sinne umzulenken und für seinen Machterhalt zu zementieren. Seinen Worten nach geht es darum, eine Jugend heranzuziehen, die „dindar ve kindar“ ist, also eine fromme und hassende Jugend. Der Hass auf den politischen Gegner und der Hass auf alle, die seinen Herrschaftsanspruch in Frage stellen, ist das Fundament seiner politischen Ambitionen.

Er profitiert dabei von einer Bevölkerung, die mindestens zur Hälfte noch im Selbstverständnis des osmanischen Untertanen stecken geblieben ist. Ein staatsbürgerliches Selbstverständnis, ein Bewusstsein, Bürger zu sein, ist in der türkischen Gesellschaft nur in Ansätzen ausgeprägt. Frühere Regierungsparteien sind nach Wahlniederlagen einfach in der Bedeutungslosigkeit verschwunden. In der Türkei gibt es kaum etablierte politische Lager, die an parteipolitischen Konzepten festhalten und sie durch Phasen der parlamentarischen Opposition hinweg zu neuer Regierungsmacht führen. Die türkische Gesellschaft neigt in weiten Teilen dazu, der faktischen Macht zu folgen. Sie schlägt sich in das Lager des gegenwärtigen Herrschers. Sie ist immer noch in weiten Teilen nicht einem bürgerlichen Souveränitätsverständnis verpflichtet, sondern der Loyalität gegenüber dem aktuellen Gebieter. Das Kollektiv dient dem Machterhalt und nicht zur Hinterfragung von Machtstrukturen.

Die türkische Version des Absolutismus

Der türkische Untertan schöpft aus der Machtfülle seines Herrschers ein individuelles Gefühl der Stärke und Macht. Er fühlt sich bestätigt in dieser Empfindung, wenn ihm die Loyalität zur Staatsführung auch konkrete Macht über seinen Nächsten verleiht. Aus diesem Grund werden spionierende Religionsbedienstete oder Denunziationen nicht als ethische Brüche oder gesellschaftliche Krisen wahrgenommen. Tausende Inhaftierte, zerstörte Existenzen, repressive Willkür werden nicht als potentielle Bedrohung der Freiheit eines jeden Bürgers verstanden. Sie sind vielmehr notwendige Mittel der Sicherung und des Erhalts staatlicher Integrität, des Machtanspruchs des jeweiligen Herrschers und damit zuletzt auch der individuell empfundenen Stärke. Das ist die türkische Version des Absolutismus: „L’état c‘est moi!“ als ewiges Versprechen der vom Staatsführer abgeleiteten Stärke. In der Gegenwart seiner Anhänger hütet man zumindest eine regimekritische Zunge, um etwaige beruflichen oder persönlichen Nachteile zu vermeiden. Allein diese Überlegenheit, diese Diskurshoheit wollen die AKP-Wähler nicht aus der Hand geben.

In einer Art positiver Generalprävention von Macht sind es gerade die unwahrscheinlichen politischen Karrieren, die den Anhängern wiederholt bestätigen, dass sie es ohne fachliche Qualifikation allein durch Loyalität und bedingungslosen Gehorsam bis in die höchsten Staatsämter schaffen können. Bildung im Sinne einer Befähigung zur kritischen Selbstanalyse, zur mündigen Erarbeitung eines eigenen Urteils über die Inhaber der staatlichen Macht, ist eine Gefahr für das Regime. Deshalb wird Bildung nicht als Instrument kritischer und eigenständiger Selbstaneignung von Wissen verstanden, sondern als Aufgabe des Staates, seiner Sicht der Geschichte und der Gegenwart als einzige Version der Wahrheit Geltung zu verschaffen. Das werden wir jetzt, nach dem jüngsten Wahlerfolg, in Gestalt einer noch aggressiveren sogenannten „Diaspora-Politik“ Erdoğans auch in Deutschland erleben.

Wirkungsvolle Verdrängungsleistung

Es ist die analytische Schwäche der hiesigen Politik, dass sie diese Wirkmechanismen nicht erkennen kann und immer noch glaubt, durch Spott und Hohn, durch Anprangerung und Verurteilung, durch den Hinweis auf Menschenrechtsverletzungen und Demokratieabbau die Wähler Erdoğans umstimmen zu können. Die Würdigung von Recht und Unrecht als abstrakte Prinzipien können aber der faktischen Selbsttäuschung und der Verdrängungsleistung der AKP-Wähler nichts entgegensetzen.

Die Anhänger Erdoğans haben in den 16 Jahren der AKP-Regierung einen ethischen Wandel vollzogen, der sie gegen moralische Anwürfe abschirmt. Die AKP-Regierung ist seinerzeit angetreten, der Korruption in der Türkei den Kampf anzusagen. „Selbst wenn es meinen eigenen Verwandten trifft, werde ich die Korruption bekämpfen“, war das sinngemäße, politisch zugkräftigste Versprechen der AKP. In nur 16 Jahren ist aus diesem moralisch-sittlichen Anspruch, der gerade auch religiös begründet wurde, eine Haltung erwachsen, die selbst dann noch zur Unterstützung Erdoğans bereit ist, auch wenn er konkret der Korruption überführt werden würde. „Çalıyor ama çalışıyor“ – „Er stiehlt, aber er arbeitet“ ist zum Inbegriff der Verdrängungsleistung der AKP-Wähler geworden.

Sie nehmen Korruption und Nepotismus hin, wenn es der Sicherung der „eigenen“ Machtposition dient. Eine Bewegung, die sich als religiös definiert aber dann doch diesen moralischen Absturz zu verdauen bereit ist, wird sich durch die Korruptionsvorwürfe gegen Erdoğan oder durch faktische Misswirtschaft und Kaufkraftverfall nicht beirren lassen. Die Verehrung der Führerpersönlichkeit ist längst entkoppelt von rationalen, ethischen oder religiösen Maßstäben. Besser einer aus ihren Reihen ist korrupt und besetzt die Staatsspitze, als einer aus den Reihen der politischen Gegner. Besser mit ihm untergehen, als ohne ihn. Denn im Falle des Machtwechsels – das ahnen sie – droht ihnen die gleiche Willkür, der sie gegenwärtig alle anderen aussetzen, welche sie als Gegner markieren. 16 Jahre Feindrhetorik und eine täglich wiederholte, immer tiefere Gräben reißende Politik der gesellschaftlichen Spaltung in treue Gefolgsleute und niederträchtige Verräter, erschweren eine rationale Wahlentscheidung entlang sachlicher, inhaltlicher Kriterien.

Der verhasste Übervater

Die Erzählung von Stärke braucht im türkischen Kontext und vor dem Hintergrund ganz konkreter historischer Erfahrung von Schwäche auch heute noch die Angst vor der Niederlage, vor dem Untergang. Die griechische Besatzung im Westen der heutigen Türkei Anfang des 20. Jahrhunderts folgte dem Wahn der „Megali Idea“, der „Großen Idee“ des griechischen Nationalismus von einem hellenischen Großreich mit Istanbul/Konstantinopel als Hauptstadt. Auf dem Höhepunkt dieses Konflikts standen die griechischen Truppen kurz vor Ankara, dem damaligen Sitz der türkisch-republikanischen Kräfte, bevor sie im türkischen Unabhängigkeitskrieg angeführt durch Mustafa Kemal, dem späteren Atatürk, niedergerungen werden konnten. Dieser Konflikt und die entscheidende Rolle Atatürks darin, ist der zweite Schlüssel zum Verständnis des Phänomens Erdoğan und der anhaltenden Treue seiner Wählerschaft.

Atatürk bleibt bis zum heutigen Tag der unbezwungene Gegner der AKP-Politik. Er war und bleibt der ewige Gegner, der noch aus dem Grab heraus den Führungsanspruch der AKP und ganz persönlich Erdoğans ins zweite Glied verweist, relativiert und einem ständigen Vergleich aussetzt. Selbst bei aller ideologischen Überhöhung und des durch die Militärregierungen gesteigerten Personenkultes um Atatürk, bleibt dieser schon als historische Figur eine stetige Herausforderung des Führungsanspruches der AKP.

Seit 16 Jahren gehört die permanente Schmähung und Herabsetzung des Andenkens Atatürks zur politischen Konstante der AKP. Denkmäler wurden entfernt, offiziell nach Atatürk benannte Straßen und Gebäude wurden umbenannt. Wer durch besonders geschmacklose Herabwürdigungen im öffentlichen Raum von sich reden machte, konnte sich Hoffnungen auf eine steile politische Karriere machen. Die Bezeichnung Atatürks und Ismet Inönüs als „zwei Säufer“ gehörte zum persönlichen rhetorischen Repertoire Erdoğans. Er hatte erkannt, dass die türkische Gesellschaft nicht unbedingt politischen Konzepten folgt, sondern konkreten Vorbildern, Heldenfiguren, zu denen sie aufblicken will. Seine Gefolgschaft wird wie er selbst auch durch dieses Atatürk-Syndrom angetrieben, vereint im Hass gegen die Säkularisierung der Türkei und den diese Entwicklung verkörpernden Atatürk. Nur, wie konkurriert man mit einem Kriegshelden und Staatsgründer?

Dekonstruktion von Geschichte als Grundlage des eigenen Heldenmythos

Zunächst durch die Relativierung der historischen Bedeutung Atatürks als militärischer Anführer: Nicht seine taktischen Manöver als Frontoffizier bei der Schlacht von Gallipoli haben den britischen und australisch-neuseeländischen Truppen derart zugesetzt, dass sie von der weiteren Durchführung der Invasionspläne absahen. Die militärische Niederlage der feindlichen Truppen wird in AKP-Kreisen vielmehr mit der Intervention höherer Mächte und die Unterstützung durch mystische Wesen erklärt.

Die Demontage als politischer Anführer folgt ähnlichen Narrativen: Die gesellschaftlichen Reformen Atatürks werden bis heute als diktatorische Versündigung an Religion und Kultur des türkischen Volkes geschmäht. In der Erdoğan-Rhetorik ist durch die Einführung des lateinischen Alphabets das türkische Volk seines historischen Gedächtnisses beraubt worden, sind die Türken „in nur einer Nacht“ in die Dunkelheit des Unwissens geführt worden und konnten fortan „nicht einmal mehr die Grabsteine ihrer Vorfahren lesen“. Bei diesem Blick auf die türkische Geschichte wird gern verschwiegen, dass zum Zeitpunkt des Zerfalls des Osmanischen Reiches die Alphabetisierung der männlichen Bevölkerung etwa bei 7 % und die der weiblichen Bevölkerung bei etwa 0,4 % lagen. In der neu ausgerufenen Republik Türkei bestand das Erbe des Osmanischen Reiches im Bereich des Bildungswesens aus etwa 5.000 Grundschulen, etwa 70 Mittelschulen und weniger als 30 Oberschulen.

Um weitere Wählerkreise zu erschließen, ist die AKP heute mehr als zuvor in ihrer politischen Erfolgsgeschichte daran interessiert, den Führungsanspruch Erdoğans durch eine symbolhafte Inszenierung zu festigen, die ganz deutlich jene Bilder ersetzen soll, die im türkischen Unterbewusstsein mit der Erinnerung an Atatürk verknüpft sind. So bleibt die Darstellung Atatürks im eingangs beschriebenen Werbefilm der AKP schemenhaft, ohne Gesicht und in dunklen Bildern verschwommen.

Erdoğan hingegen streckt seinen Arm und Zeigefinger in der abschließenden Bildkomposition zum Horizont gen Osten. Diese Geste ist eine seitenverkehrte Spiegelung der berühmtesten Geste Atatürks. Am Morgen des „Büyük Taaruz“, des großen Angriffs auf die griechischen Befestigungen, in dessen Folge die türkischen Truppen bis zur Westküste der Türkei vordringen und die griechischen Truppen zum vollständigen Rückzug zwingen, ruft er mit ausgestreckten Arm, mit dem Zeigefinger Richtung Westen deutend seinen Truppen zu „Ordular, ilk hedefiniz Akdenizdir, ileri!“ – „Armeen, euer erstes Ziel ist das Mittelmeer, vorwärts!“. Atatürk erklärt diesen Befehl später, nach der Gründung der Republik so, dass der militärische Sieg über die griechische Besatzung nur der erste Schritt der kollektiven Anstrengungen der neuen Türkei sein kann. Ihm muss die Modernisierung der Türkei folgen, mit der das Land und seine Gesellschaft in den Kreis der technologisch und gesellschaftlich fortentwickelten Zivilisationen vorstoßen können.

Das Ringen um absoluten Geltungsanspruch

Damit wird deutlich, was Erdoğan antreibt. Er will im kollektiven Bewusstsein der türkischen Gesellschaft die unangefochtene Spitzenposition als türkischer Staatenlenker und Führer einnehmen. Dazu muss er mit allen Mitteln den Platz des gerade im religiös-konservativen Milieu verhassten Atatürk einnehmen, die Erinnerung an ihn und sein Modernisierungsziel verblassen lassen. Nicht nur durch politische Aussagen, sondern auch durch symbolische Bilder. Im türkischen Bewusstsein sind zahlreiche Bilder Atatürks in militärischer Uniform verankert. Im Profil, bei Kocatepe am ersten Tag der großen Offensive des Unabhängigkeitskrieges, als junger Offizier in den Frontgräben der Dardanellen.

Erdoğan versucht, diese Bilder zu ersetzen. Anlässlich der Militäroperationen um und in Afrin ließ er sich wiederholt in Tarnfleckuniform ablichten. Die Bilder wirkten so gestellt und hölzern, wie sie tatsächlich inszeniert waren. Und sie dokumentierten erstaunlich offen, wie ideologisch flexibel Erdoğan im politischen Feld handeln kann. Denn dem religiösen Basiskern der AKP sind diese Aufnahmen in Uniform kaum zu vermitteln. Eine Basis, die mit militärischen Insignien bislang immer nur die eigene Unterdrückung und Demütigung assoziieren konnte, kann sich mit der Aneignung derartiger Symbole kaum anfreunden. Sie sind befremdet, wenn Erdoğan bei Wahlkampfveranstaltungen die oberste Heeresführung mit den Worten für sich reklamiert, er sei jetzt der Pascha aller Paschas. Traditionell wird der Begriff Pascha für hochrangige Offiziere der türkischen Armee benutzt.

Aber diese Basis wird weiter zu Erdoğan halten. Denn besser er besetzt die Schaltstellen der Macht, besser er konzentriert die staatliche Macht, als ein Vertreter des gegnerischen politischen Lagers. Deshalb wird es auch aus dieser Perspektive keine Zerrüttung der Erdoğan-Begeisterung geben. Selbst im Fall der wirtschaftlichen Instabilität wird diese Gefolgschaft halten. Denn sie speist sich weniger aus der konkreten Situation des Kollektivs als vielmehr aus den Zuschreibungen und Projektionen, die mit dem politischen Führer in Zusammenhang stehen. In einer solchen Welt ist die staatliche Führungsperson unfehlbar. Sie kann hintergangen und getäuscht werden, ausländische Mächte und innere Feinde können ihr Wunden zufügen, aber stürzen wird sie nur, wenn die Untertanen ihre Loyalität einstellen und damit sich selbst entmachten.

Ruck nach rechts

Mit dem Wandel von religiöser Rhetorik hin zu einer immer militaristischeren, immer nationalistischeren Sprache hat sich die AKP nun auf die untrennbare Gemeinschaft mit der rechtsextremen MHP eingelassen. Ihr Machterhalt wird noch mehr gesellschaftliche Freiheiten kosten, noch mehr bürgerliche Freiräume einschränken, noch mehr Willkür und Gewalt in den bürgerlichen Alltag tragen. Die Oppositionsparteien sind zu zersplittert und untereinander verfeindet, als dass sich daraus eine mehrheitsfähige, gesellschaftlich anschlussfähige Bewegung entwickeln könnte.

Und hier liegen die große Herausforderung und gleichzeitig die Chance für die Zukunft der Türkei. Die oppositionellen Kräfte und ihre gesellschaftlichen Basen haben es noch nicht vollständig verinnerlicht, was es bedeutet, in einer ethnisch und religiös pluralistischen Gesellschaft zu leben. Sie halten sich gegenwärtig eher widerwillig aus, als dass sie gedeihlich zusammenleben. Der Erdoğan-Effekt hat ihnen gezeigt, dass sie nur vereint eine parlamentarische Mehrheit gegen die AKP-MHP-Allianz erringen können.

Die türkische Zivilgesellschaft muss also lernen, sich in ihrer vielfältigen Erscheinungsform nicht nur auszuhalten, sondern diese Vielfältigkeit auch als unverzichtbaren Kitt der türkischen Gesellschaft zu verinnerlichen. Damit kann sie dem auf Ausgrenzung, Feindmarkierung und Diffamierung konzentrierten Politikverständnis der AKP eine Politik der aufrichtigen Akzeptanz von Vielfalt entgegenhalten. Für eine junge Wählerschaft kann das in Zukunft den Unterschied ausmachen.

Denn noch heute steht in der Küstenstadt Izmir, mit deren Befreiung von griechischer Besatzung der türkische Unabhängigkeitskrieg sein Ende fand, das Denkmal Atatürks. Auf dem Platz der Republik, direkt an der Uferstraße mit Blick aufs Meer streckt er den Finger Richtung Westen und verkörpert damit den Modernisierungsanspruch einer jungen Republik – das Ziel ist der Westen. Nicht als Objekt der Eroberung, sondern als Messlatte der eigenen gesellschaftlichen Entwicklung.

Betrachtet man den Werbefilm der AKP genauer, erkennt man nach dem Militarismus und den zweifelhaften Symbolen eines in Beton gegossenen Modernisierungsverständnisses, worauf Erdoğan tatsächlich hinweist, was er als Zukunft der Türkei anzubieten hat. Seine Geste gen Osten ist pompös inszeniert und kraftvoll ausgeführt. Der Anka-Vogel folgt ihr und legitimiert sie damit. Aber der Zeigefinger, den er da ausstreckt, mit dem er in die Zukunft der Türkei weisen will – er deutet ins Blaue hinein, er zeigt auf … nichts.

Gelebte Freiheit als Antwort auf eine Politik der Parolen

Deshalb liegt der Schlüssel für den richtigen Umgang mit dieser Politik der Parolen darin, der türkischen Jugend – gleich ob in der Türkei oder in Deutschland – das Angebot von Freiheit zu machen. Ihr zuzugestehen, dass sie die politische Sachlage selbst und eigenständig analysieren kann, sich eine Meinung dazu bildet, diese artikuliert und in den politischen Diskurs einbringt. Der dem Prinzip der nationalistischen Indoktrination folgenden AKP-Jugendpolitik können wir eine Haltung der kontroversen und freien Debatte, der freien Meinungsbildung und -äußerung entgegenhalten.

Allein der Kontakt zu einer solchen Möglichkeit, die Sichtbarmachung dieser Freiheitsräume wird bereits Wirkung entfalten. Erleben junge Menschen, dass die ihr angebotene Sicht auf Geschichte und Zukunft nicht zwingend den Narrativen des Konflikts und der Feindschaft folgen müssen, dass es die Möglichkeit zum Widerspruch geben kann, wird allein die Aussicht auf diese Möglichkeit der persönlichen Entfaltung zum unwiderstehlichen Versprechen von Freiheit. Darin liegt die Kraft demokratischer Gesellschaften.

Allerdings dürfen wir nicht glauben, dieser Zustand sei für unsere deutsche Gesellschaft eine Selbstverständlichkeit, der quasi natürliche Aggregatzustand unseres politischen und gesellschaftlichen Bewusstseins. Für eine deutsche Überheblichkeit ist hier überhaupt kein Platz. Denn für die durch Jahrhunderte des Provinzfeudalismus zersplitterte und nur durch die gemeinsame Sprache zusammengehaltene deutsche Seele ist das im europäischen Vergleich zu England oder Frankreich erst spät entwickelte Nationalbewusstsein stets ein Impuls für die Angst, zu spät zu kommen, zu kurz zu kommen, übervorteilt zu werden.

German Angst

Im Wettstreit mit den kolonialen Ambitionen der europäischen Nachbarn gestaltete sich der deutsche Wunsch nach einem „Platz an der Sonne“ letztlich als Enttäuschung und eine Beschränkung auf die Restposten des geopolitischen Ringens. Die Schuldfrage im Ersten Weltkrieg, die „Schmach“ des Versailler „Diktatfriedens“ mündeten in den Benachteiligungsängsten, an die faschistische Narrative vom „Lebensraum im Osten“ erfolgreich andocken und der deutschen Seele vermitteln konnten, endlich nicht den Kürzeren zu ziehen, sich nicht mit dem begnügen zu müssen, was anderen nicht wichtig genug ist, keine Angst mehr haben zu müssen, übervorteilt zu werden.

Es sind diese historischen Fragmente, an denen die heutigen Rassisten und Populisten erfolgreich Anschluss finden, wenn sie die Angst vor einer vermeintlichen Überfremdung, einer „Kapitulation“ vor ausländischen Einflüssen beschwören. Wir schwanken in unserer deutschen Selbstwahrnehmung ständig zwischen dem Anspruch auf Überlegenheit und dem Wahn eines kollektiven Untergangs. Diese Denkweise ähnelt dem türkischen Syndrom der ständigen Bedrohung und Überwältigung durch fremde Mächte. Sie macht anfällig für Ungleichwertigkeitserzählungen, für kulturhierarchische Selbstverherrlichung und die Infragestellung einer pluralistischen Gesellschaftsordnung mit gleichen Rechten für alle Bürger unabhängig von ihrer Herkunft und ihrem Glauben.

Das bedeutet, dass wir uns nicht darauf zurückziehen können, eine demokratische Haltung nur zu beschreiben und einzufordern. Wir müssen sie vorbildlich vorleben, sie zur praktizierten Realität werden lassen. Nur dann ist dieses Angebot überzeugend. Betrachten wir die aktuellen politischen Entwicklungen in unserem Land und in Europa, müssen wir uns bewusst machen, dass wir uns den belastbaren Beweis der demokratischen Standhaftigkeit noch schuldig sind.