Ramadan kein alter deutscher Brauch – und Demokratie?

Ein Auszug aus meinem letzten Blogbeitrag: „Erst kürzlich schrieb mein Freund Eren Güvercin im Feuilleton des Deutschlandfunk Kultur über Ramadan „als alten deutschen Brauch“ – natürlich eine bewusst überspitzte Formulierung. Die Reaktionen darauf waren vorhersehbar und sind exemplarisch. Die große Entrüstung über diese Formulierung kommt von jenen, für die Muslime mit ihren Bräuchen nie wirklich „Deutsche“ sein oder werden können. Sie waren es in der Vergangenheit nicht und sie sollen es auch in der Zukunft nicht sein können.

Der Ramadan ist heute (auch) ein deutscher Brauch – weil er von vielen deutschen Muslimen gelebt wird. Er wird in den nächsten Generationen ein alter deutscher Brauch sein. Aber es gibt Menschen unter uns, die stellen sich zwar nicht mit Erdoğan zum Trikotfoto auf und empfinden solche Posen als Widerspruch zu „unseren Werten“, dennoch spalten sie unsere Gesellschaft auf ihre Weise. Sie demonstrieren, dass für sie der Islam niemals zur Normalität in Deutschland werden darf. Entsprechend darf die Existenz, die Teilhabe, das Alltagsleben von Muslimen nie zu einem Brauch in Deutschland werden, dürfen Menschen, die anders glauben als wir das gut finden, niemals „Deutsche“ sein oder werden. Sollen das „unsere Werte“ sein?“

Monopol auf deutsche Bräuche

Die Reaktionen auf den Beitrag Eren Güvercins offenbaren in ihrer breiten Streuung und inhaltlichen Substanz, wie es um die demokratische Reife unserer Gesellschaft bestellt ist. Es gilt, genau hinzusehen und die Reaktionen inhaltlich deutlich sichtbar zu machen. Denn genau hier und jetzt entscheidet sich, in was für einem Deutschland wir tatsächlich leben wollen.

Die Empörung über die „Dreistigkeit“, einem islamischen Brauch historische Wurzeln in Deutschland zuzuschreiben, hatte internationale Dimensionen. Von den Breitbart-Fundamentalisten aus den USA bis hin zu polnischen Muslimhassern sah man sich dazu berufen, deutlich herauszuarbeiten, wie falsch diese Äußerung doch ist – als ob die historische Absenz muslimischen Brauchtums ein Argument für die Delegitimierung ihrer gegenwärtigen Präsenz sei. Was nicht war, was nicht zum historischen Bestand der deutschen Selbstbeschreibung gehört, soll auch zukünftig nicht sein dürfen.

Man muss den historischen Zeitschieber nur lange genug bewegen, um die Absurdität einer solchen Haltung sichtbar zu machen. Dann kommt man irgendwann auch zum empörten germanischen Ahnen Widukind, der noch heute im Niedersachsenlied besungen wird („Heil Herzog Widukinds Stamm!“) und der seinen Wahlkampf zum sächsischen Herzog im Jahr 777 bekanntlich mit dem Satz „Das Christentum gehört nicht zu Deutschland!“ bestritten hat. (Vielen Dank an Tobias Grosse-Brockhoff für diesen augenzwinkernden historischen Hinweis!)

So sind die Geister, die für ihren Hass eine Alternative für Demokratie suchen, auch reihenweise in die Falle getappt, die Eren Güvercin – hier natürlich wieder als Stereotyp des hinterlistigen, täuschenden Muslim entlarvt – mit seiner Formulierung „ein alter deutscher Brauch“ gestellt hat:

Der eine schreibt: „Der Autor spricht in der „Wir“-Form. Dies empfinde ich als übergriffig. Insbesondere im Hinblick darauf, da Deutschland sich als säkularer Staat empfindet.“

Das übergriffige „Wir“

Und zu dem „Wir“ des sich in einer ganz bestimmten Weise fühlenden Deutschlands darf sich eben nicht jeder dahergelaufene Muslim zählen. Wer Deutscher ist, das bestimmen immer noch „Wir“. Für eine solche Selbstverortung ist also nicht das Individuum verantwortlich, sondern das Kollektiv, das nach eigenen religösen Kriterien entscheidet, wer zu diesem „Wir“ gehören soll. Mit einem säkularen Staatsverständnis hat das natürlich rein gar nichts zu tun – aber die verfassungsrechtlichen Selbstverständlichkeiten sind uns in der anhaltend verzerrenden Islamdebatte der letzten 15 Jahre ohnehin abhandengekommen.

Über den Atlantik schallt uns dieses Ergebnis der angelesenen und durch diverse Talkshows zementierten islamkritischen Expertise dann auch in seiner ganzen sachlichen Präzision entgegen (Schreibweise unverändert im Original): „We are accustomed to Muslim Lies. It’s called taquiah.  They invented everything but still they are backwards. Swedish balls are Turkish and now this? These people must have some kind of pathological brain disease. @erenguevercin Allah is not our god! Don’t speak the same language”

Täuschungen und Lügen sind muslimische Eigenschaften. Positive Beeinflussung „westlicher Kultur“ durch Muslime ist unvorstellbar, selbst wenn es sich nur um kulinarische Bereicherung handelt. Muslimische Glaubensüberzeugungen beschreiben einen pathologischen Zustand. Allah ist ein falscher Gott. Und der letzte Satz „Don’t speak the same language“ kann in zwei Richtungen gedeutet werden. Entweder die Überzeugung, dass der christliche Gott seine Bergpredigt schon im Original in englischer Sprache hielt oder dass Muslimen verboten werden sollte, die gleiche Sprache zu sprechen wie „Wir“. Dieser Gedanke der sprachlichen „Internierung“ im Fremden, ist nicht verwunderlich. Die identitären Demokratiegegner aller Couleur eint die Vorstellung getrennter Gesellschaften, sozial undurchlässiger Strukturen und der rechtlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Isolation – zum Schutz des „Wir“ vor negativen Einflüssen und Veränderung.

„Wir“ und die Barbaren

Deutlich macht das auch eine andere Reaktion auf Güvercins Formulierung, die mit dem „Argument“ der zivilisatorischen Rückständigkeit arbeitet (Fehler im Original): „Denn der Ramadan ist ungefähr genauso deutsch, wie die in islamisch geprägten Ländern beliebten „Bräuche“, Frauen zu steinigen und Deliquenten Hände und Köpfe abzuschneiden.“ Der Ramadan gilt diesem Rezensenten als „barbarische Gepflogenheit“, bei der Kinder durch ihre Eltern zum Fasten gezwungen werden – notfalls bis zum Umfallen. Die Evidenz solcher Annahmen ergibt sich natürlich aus dem globalen Kontext. Wer steinigt und köpft, der lässt auch verhungern. Ein Abgleich mit der muslimischen Realität im Nachbarhaus ist gar nicht mehr erforderlich.

Bei dieser Argumentation ist die Sorge um das Kindeswohl vielleicht die janusköpfigste Variante des antimuslimischen Ressentiments. Denn in der Debatte um Rettungsmaßnahmen im Mittelmeer oder bei der Zusammenführung von Flüchtlingsfamilien oder im Zusammenhang mit Brandanschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte begegnen wir diesem Argument so gut wie nie.

Worum es bei all diesen Verrenkungen wirklich geht, bringt dieser Kommentator auf den Punkt, wenn er den Ramadan als „alten deutschen Brauch“ ablehnt (Fehler im Original): „Die meisten Eingeborenen fremdeln gehörig. Sie können sich über Ramadan-Kalender für die Kleinen in deutschen Supermärkten ebenso wenig freuen, wie über die stetig steigende Rücksichtnahme auf islamische Speiseregeln in deutschen Kantinen. Viele wollen gar, wie ihre Vorfahren, unbeschwert von den Vorschriften Allahs und seines Propheten, im Fastenmonat essen und trinken, wann und was sie wollen.“

Man muss ihm danken für so viel Klarheit. Die Empörung richtet sich also weniger auf eine historisch unzutreffende Behauptung, sondern vielmehr auf die Möglichkeit, dass angesichts millionenfacher Praxis in Europa, der Ramadan sich auch als deutscher Brauch etabliert und in einigen Generationen eben dann auch zu einem alten deutschen Brauch entwickelt. Dabei geht es nicht um die Angst, dass ihn dann alle Deutschen pflegen, sondern dass er zur Normalität in Deutschland wird. Gepflegt von Muslimen aber gekannt, vielleicht seiner Geselligkeit und seiner einladenden Tafeln wegen sogar gemocht und geschätzt auch von vielen nichtmuslimischen Deutschen.

Vielfalt als Verlust von Privilegien

Es ist die Angst vor Veränderung. Es ist die Sorge, zu kurz zu kommen, beschwert zu sein, wenn andere ihren Glauben unbeschwert und sichtbar in der Mitte unserer Gesellschaft leben können. Die nichtmuslimischen „Eingeborenen“ fremdeln vielleicht auch deshalb, weil ihnen ihre eigene Tradition, ihr eigener Brauch des Fastens immer weniger bekannt ist.

Jedenfalls wird darin eine Geisteshaltung deutlich, die sich entschieden gegen das Prinzip einer pluralistischen Gesellschaftsordnung und damit gegen das Gesellschaftsbild unseres Grundgesetzes wendet. Das ist deshalb so kurios, weil es ja gerade das Grundgesetz ist, das von den gleichen Kreisen wie eine Monstranz hochgehalten wird, wenn es gilt, religiöse Schriften ins zweite Glied zu verweisen.

Wir haben es mit einer Haltung zu tun, die es als Beschwer empfindet, im Supermarkt eine Vielfalt vorzufinden, die nicht ihrem Bedürfnis entspricht. Dass damit die Bedürfnisse anderer gestillt werden, wird als eigener Verlust empfunden. Das ist die gleiche Angst, die aus Kantinen plötzlich „deutsche Kantinen“ macht, in der Spaghetti alla Carbonara, Ratatouille und Paella zu einheimischen Gerichten werden, die Beachtung islamischer Speiseregeln aber als unzumutbare Überfremdung und Einschränkung der eigenen Lebenswelt gilt. Vielfalt ist nicht mehr ein Zugewinn an Auswahl, sondern ein Verlust an Privilegien.

Ein „Wir“ zur Tarnung des „Ichs“

Es sind die selbsternannten Verteidiger des christlichen Abendlandes, die noch weit vor der Nächstenliebe bereits schon Rücksichtnahme und Achtsamkeit vor den Bedürfnissen anderer als Einschränkung ihrer eigenen Freiheit verstehen. Eine derartige christliche Prägung kann aber nur substanzlose  Selbstbehauptung bleiben. Eine behauptete religiöse Werteverortung, die nicht vorgelebt, die nicht praktiziert, sondern nur als Instrument des politischen Kampfes gegen Muslime ins Feld geführt wird. In Wirklichkeit existiert hier gar kein religiös geprägtes „Wir“, das verteidigt werden soll, sondern nur der Egoismus und der Hass des „Ichs“, das sich in einem Kollektiv versteckt, um legitim zu erscheinen.

Wer Rücksichtnahme und Gleichberechtigung als Beschwer empfindet, hat auch ein Heimatverständnis, in dem es nicht um das gedeihliche Zusammenleben aller geht, nicht um die freie Entfaltung eines jeden, nicht um die gleichberechtigte Teilhabe an den Möglichkeiten unserer Gesellschaft. Solchen Leuten geht es um die Vorstellung von Heimatschutz, in der die Ostsee enger wird, nur weil auch Muslime darin baden, für die der Rhein plötzlich spärlicher fließt, nur weil sich auch Muslime an ihm erfreuen und die sich mit Steuerpflicht im Ausland über den Beitrag von deutschen Muslimen an „unserem“ Wohlstand Gedanken machen, ohne rot zu werden.

Eines wird immer deutlicher: Die muslimische Präsenz in Deutschland und die Frage der Normalität, deutscher Muslim zu sein, werden die Bewährungsprüfung für unser Land und unsere Gesellschaft – ob wir unser Grundgesetz als Fundament unserer demokratischen und freiheitlichen Gesellschaftsordnung verinnerlicht haben oder ob wir daran scheitern, aus den in ihm niedergelegten Prinzipien Lebenswirklichkeit für alle Bürger werden zu lassen, egal ob und woran sie glauben. Demokratische Bildung ist jedenfalls keine Selbstverständlichkeit, kein alter deutscher Brauch, den Neuankömmlinge und gesellschaftliche Minderheiten erst noch erlernen müssen – die gesamte Gesellschaft ist ihre Zielgruppe. Heute wieder mehr denn je.