haTikwa

Dieser Text ist kein Erfolg versprechendes Werk. Im Gegenteil trägt in der heutigen Zeit jeder Versuch, sich differenziert zu äußern, das Schicksal des Scheiterns bereits in sich. Denn wir leben in Zeiten des Zorns. Im Zorn ist kein Platz für Empathie, für den Versuch, sein Gegenüber zu verstehen, auch wenn man seine Ansichten nicht teilt, ja ihnen deutlich widersprechen möchte. Im Zorn ist kein Platz für das Zuhören, das Aushalten, das friedliche Ringen der Meinungen.Und wir leben in Zeiten des Spins. Meinungen werden nicht auf ihre Schlüssigkeit hin geprüft. Beweggründe, Motive, Ursachen sind nur unnötiger Ballast, den es über Bord zu werfen gilt, damit die heiße Luft der eigenen Sichtweise das aufgeblähte Ich über den Anderen erhebt. Dass dies häufig nur zum Preis der Ausgrenzung und Abwertung des Anderen zu haben ist, stört mittlerweile niemanden mehr.

Somit wird auch dieser Text wieder eifrig untersucht werden. Seine Zeilen werden als Beleg zitiert werden, dass ihr Verfasser nicht mehr „einer von uns“ ist. Denn das islamische Offenbarungswissen ist längst aufgegeben worden, wo es der bequemen Ignoranz im Wege steht. Dass Allah uns in Stämme und Völker geteilt hat, damit wir voneinander lernen, wird fast schon als göttlicher Irrtum ignoriert. Die treuesten Vertreter des reinen „Wir“ haben bereits faktisch festgeschrieben, dass wir in Stämme und Völker geteilt sind, um alle anderen zu verachten und zu hassen und das eigene „Wir“ in jeder Facette seiner Wirklichkeit zu überhöhen und absolut zu setzen.

Dieser Drang zur Ausgrenzung richtet sich gegen alles und jeden, der diese Selbstüberhöhung in Frage stellt und anzuzweifeln wagt. Grundlegendste Ideale haben keine Geltung mehr. Wir haben nahezu vollständig verlernt, zu argumentieren, ohne zu streiten. Zu streiten, ohne zu verdächtigen. Zu verdächtigen, ohne zu verleumden.

Gleichwohl oder gerade deshalb muss dieser Text geschrieben werden. Denn was sonst könnte dem herausgeschrienen Hass entgegengestellt werden als das geschriebene Wort? Dies ist eben die einzige Hoffnung: Dass das Geschriene verhallt und das Geschriebene bleibt. Und vielleicht wirkt.

Schwierigkeiten des muslimisch-jüdischen Verhältnisses

Wieder und wieder habe ich angesetzt und um die richtigen Worte gerungen. Wieder und wieder habe ich Geschriebenes gelöscht und umformuliert. Dieses Hadern ist der Tatsache geschuldet, dass die hier formulierten Worte in unterschiedlichen Welten wahrgenommen werden. Sich in diese hineinzuversetzen, die Wirkung der gewählten Worte zu prüfen und sich zu vergewissern, dass sie auch in der Weise ankommen, in der sie gedacht und festgeschrieben werden, ist eine große Herausforderung. Es mag sein, dass diese Herausforderung an der einen oder anderen Stelle sich als zu groß erweist. Aber der Versuch soll mit diesem Text unternommen werden.

Es wird in weiten Zügen ein fragmentarischer Text bleiben. Die lange Vorrede ist bereits Indiz dafür, dass es sich um einen Steinbruch der Gedanken handelt, aus dem der eine oder andere Aspekt mühsam herausgelöst und für sich allein sichtbar und verstehbar gemacht werden soll. Diese Bruchstückhaftigkeit ist auch Ausdruck der unterschiedlichen, vielleicht auch widersprüchlichen Gedanken, die angesichts der Nachrichten der letzten Tage aufflackern und wieder von anderen Gedanken und Gefühlen überlagert werden. Vielleicht ist es auch ein erster wichtiger Schritt, zu erkennen, dass wir uns thematisch in einem Bereich bewegen, in dem es häufig genug um Widersprüche und Unvereinbarkeiten geht.

Eines ist jedoch sicher: Das muslimisch-jüdische Verhältnis wird uns in Zukunft immer intensiver beschäftigen. Deshalb sollen in diesem Text einige grundlegende Gedanken zu diesem Verhältnis formuliert werden. Sie mögen vielleicht dazu beitragen, eine Annäherung von gegensätzlichen Positionen zu fördern.

Bei meinen Beobachtungen will, kann und muss ich mich intensiver mit der muslimischen Perspektive und den dortigen Problemen beschäftigen, als mit der jüdischen. Denn das ist meine Haustür. Das ist meine Gemeinschaft. Ich kann mir nicht anmaßen, über die jüdische Perspektive zu urteilen. Ich kann sie aber meinem Verständnis nach problematisieren und dieses Verständnis zur Diskussion stellen. Auch das soll in diesem Text geschehen.

Vor der Haustür

Beginnen wir mit der Situation in Deutschland. In unserer deutschen Gesellschaft ist Meinungsfreiheit ein hohes Gut. Sie ist geradezu konstituierend für eine Gesellschaft, die sich als demokratisch und pluralistisch versteht. Sie hat – rein rechtlich betrachtet – ihre Grenzen zum Beispiel im Widerstreit mit den Persönlichkeitsrechten Dritter oder im Verhältnis zum Gedanken des Kinder- und Jugendschutzes. Aber auch moralisch-sittlich gibt es Grenzen, die in einer Gesellschaft aus unterschiedlichen Motiven bestehen.

In Deutschland darf es keinen Judenhass geben. In Deutschland dürfen keine jüdischen Symbole, auch solche des Staates Israel nicht, zerstört oder beschädigt werden. Das Verbrennen israelischer Fahnen ist ein Verstoß gegen die Grundprinzipien des Anstandes in Deutschland. Wer das nicht versteht, ist und bleibt fremd in diesem Land.

Wer am Brandenburger Tor Judenhass propagiert und weiße Laken mit blauen Davidsternen verbrennt, muss wissen, was das an diesem Ort bedeutet. Durch das Brandenburger Tor sind jene in Fackelzügen marschiert, die wenige Jahre später ihre jüdischen Nachbarn in Deportationszüge und damit millionenfach in die Flammen der KZ-Krematorien getrieben haben.

Unweit des Brandenburger Tores sind Worte und Gedanken verbrannt worden, nur weil jüdische Autoren sie geschrieben haben. Wer in Berlin gegen israelische Regierungspolitik oder amerikanische Alleingänge demonstrieren will, sollte zunächst am Bebelplatz innehalten und in den leeren Raum blicken, der sich einem wie ein stummer Schrei auftut und daran erinnert, dass sich das Feuer des Hasses zunächst gegen Symbole richtet, bevor es Menschenleben verzehrt.

Wer am Brandenburger Tor mit guten Gründen und zu Recht gegen israelische Siedlungspolitik demonstrieren will, sollte zunächst an jedem einzelnen der 2711 Betonstelen des Holocaust-Mahnmals entlanggehen, die daran erinnern, dass in diesem Land für Millionen von jüdischen Menschen nur ein Grab in den Wolken vorgesehen war. Vielleicht fällt ihm dann auf, was es bedeutet, wenn man Mitten in Berlin jüdische Symbole verbrennt.

Der Unterschied zwischen Protest und Hass

Natürlich kann und muss man die israelische Regierung für ihre Siedlungspolitik kritisieren. Man kann und muss auf die unmenschlichen Auswirkungen der jahrelangen Besatzungspolitik hinweisen und darf dagegen natürlich auch demonstrieren. Die Legitimität eines solchen Protestes geht aber in dem Augenblick verloren, in welchem er sich gegen „den Juden“ als Feindbild und Stellvertreter der gesamten jüdischen Glaubensgemeinschaft richtet. Berechtigte Kritik wird zur illegitimen Menschenverachtung, wenn sie sich nicht gegen das konkrete Handeln politisch Mächtiger richtet, sondern gegen vermeintlich kollektive Eigenschaften einer ganzen Glaubensgemeinschaft.

Werden wir konkreter: Der Slogan „Kindermörder Israel“ ist keine legitime Kritik an der Inkaufnahme hoher ziviler Opfer bei israelischen Militärschlägen. Er perpetuiert vielmehr jahrhundertealte Vorstellungen von jüdischen Ritualmorden an den Kindern nichtjüdischer Gemeinschaften. Ein solcher Slogan dockt an die europäischen Exzesse und Vernichtungswellen gegen Juden an und dient dazu, das Bild „des Juden“ zu entwerfen, der kollektiv von Mitleid, Mitgefühl und Menschlichkeit befreit ist und damit als nichtmenschlich ausgegrenztes Etwas zum Wohl der Allgemeinheit ausgemerzt werden muss.

Gibt es Juden, die bei Militärschlägen gegen palästinensische Stadtviertel jubeln und sich an dem Leid der Opfer ergötzen? Ja, leider gibt es sie. Ebenso wie es Juden gibt, die ein solches Verhalten verurteilen. Beides geschieht jedoch nicht, weil es sich um Juden handelt. Es ist ein Verhalten von Menschen, das nicht religiös vorgegeben ist.

In dem Moment, in dem die menschliche Verrohung in einer jahrelangen Atmosphäre der Gewalt und der Zerstörung nicht als gesellschaftliches Problem, sondern als „jüdische Eigenschaft“ markiert wird, verliert der Protest dagegen seine Legitimität und auch seine Glaubwürdigkeit. Denn sie praktiziert in dieser Generalisierung und kollektiv-religiösen Aufladung des Problems die gleiche Entmenschlichung, die sie eigentlich kritisieren will.

Offener Judenhass

Ähnliches gilt mit Blick auf die Parolen, die am Brandenburger Tor skandiert wurden. „Chaibar, Chaibar, ya yahud, dschaisch Mohammed saya‘ud!“ ist kein israelkritischer Slogan. Er ist in allen seinen Dimensionen, historischen Bezügen und aktuellen Implikationen ein Schlachtruf zur militanten Mobilisierung gegen Juden allgemein. Und das Mitten in Deutschland.

Dieser Schlachtruf bezieht sich auf den Feldzug Mohammeds (s.a.s.) gegen die von Juden besiedelte Oase Chaibar. In seiner wörtlichen Bedeutung „Chaibar, Chaibar, oh ihr Juden! Mohammeds Heer kommt bald wieder!“ unterstreicht er die Absicht zur kriegerischen Auseinandersetzung. Die Hisbollah benannte eine Rakete, mit der sie israelische Städte beschoss, „Chaibar-1“. Amrozi bin Nurhasyim war einer der Attentäter, die 2002 einen Anschlag auf der Insel Bali verübten und bei dem 202 Menschen ermordet und über 200 zum Teil schwer verletzt wurden. Er soll im Strafverfahren gegen ihn den Gerichtssaal mit eben diesem Schlachtruf betreten haben.

Aus all dem wird deutlich, dass eine solche Parole kein Ausdruck legitimen Protestes oder kritischer Meinungsäußerung ist. Wenn sie am Brandenburger Tor skandiert wird, ist sie mindestens als Bedrohung und Einschüchterung aller Juden Berlins gemeint und auch so zu verstehen. Das ist inakzeptabel. Das ist die Erklärung, nicht zum friedlichen Zusammenleben in einer religiös vielfältigen Gesellschaft bereit zu sein. Das ist eine Kampfansage gegen die pluralistischen Grundpfeiler unseres Landes. Und das ist gleichzeitig Ausdruck der Nichtachtung des Gedenkens an die Opfer der Shoa. Niemand von uns, gleich welchen Glaubens oder Nichtglaubens, sollte dieser Entwicklung gegenüber gleichgültig bleiben.

Ein Konflikt in der Sackgasse

Diese Eskalation ist gleichzeitig ein Hinweis auf das Grundproblem der gesamten Thematik. Es gibt im Nahostkonflikt, konkret bei der Frage israelisch-palästinensischer Koexistenz, einen auf beiden Seiten in mehr oder weniger deutlicher Ausprägung vorzufindenden Absolutheitsanspruch, der einer Verständigung oder auch nur zaghaften Annäherung kategorisch entgegensteht.

Seit der Staatsgründung Israels ist die muslimische Seite dieses Konflikts (und damit sind nicht nur die unmittelbar betroffenen Palästinenser, sondern Muslime weltweit gemeint) gefangen in einer höchst destruktiven Realitätsverleugnung. Eine, die sich bereits an der faktischen Existenz des Staates Israel stößt. Die Bevölkerung Israels hat ihren Willen zur Selbstbehauptung seit der Staatsgründung 1948 mehrfach unter Beweis gestellt.

Die muslimische Seite dieses Konflikts hat nahezu ausnahmslos stets unter Verdrängung und Leugnung dieses Selbstbehauptungswillens agiert. Ihr Handeln war demnach auch nie getragen von der Vorstellung eines Zusammenlebens, sondern stets getrieben von der Vernichtungsphantasie gegenüber einem Volk, das es vollständig ins Meer zu treiben galt.

So schwer das Unrecht der Vertreibung und Entrechtung der angestammten muslimischen Bevölkerung auf dem heutigen Staatsgebiet Israels auch wiegt, so unzumutbar die rechtlichen und menschlichen Folgen der Besatzung palästinensischer Gebiete auch sind, muss die muslimische Seite dieses Konflikts wahrnehmen, dass diese Umstände auch die Folge mehrfacher Vernichtungsfeldzüge der arabischen Nachbarn gegen die israelische Bevölkerung gewesen sind.

Stets folgten diese kriegerischen Auseinandersetzungen nicht einem strategischen Ziel der ausgewogenen Gebietsverteilung oder der Perspektive eines dauerhaften Zusammenlebens, sondern der absoluten Vernichtung der gesamten jüdischen Bevölkerung. Der letzte dieser absoluten Vernichtungsfeldzüge fand am höchsten jüdischen Feiertag statt – und gleichzeitig im Ramadan. Die heutige Situation Jerusalems ist auch die Folge der historischen panarabischen Doktrin, keinen Frieden mit Israel zu schließen und diesen Staat nicht anzuerkennen.

Bis heute hat sich diese Realitätsverleugnung auf muslimischer Seite erhalten. Auf Protestplakaten ist häufig die Zeichnung eines palästinensischen Staates zu finden, wobei das gesamte Territorium in den Farben der palästinensischen Fahne dargestellt ist – einen Platz für Israel gibt es in dieser Zukunft nicht.

Die palästinensische Nationalhymne lobt die Todesbereitschaft der Fedajin, der sich Opfernden, und das Feuer der Rache. Palästina ist dort das Land des Widerstandes, „Palästina ist meine Rache“. Eine Rache also, die die Antwort auf Vertreibung nicht in der Versöhnung und im Ausgleich zu suchen bereit ist, sondern nur die Möglichkeit der vollständigen Vernichtung des Gegners als einzige Handlungsmaxime proklamiert.

Die Staatsgründung Israels, die Erfüllung über 2000-jähriger jüdischer Hoffnung auf ein eigenes, freies Land im Land der historischen Vorväter – Besungen in der nach dieser Hoffnung benannten Nationalhymne haTikwa -, ist gleichzeitig die palästinensische Katastrophe der Entwurzelung und Vertreibung aus der Heimat der muslimischen Großväter.

Das ist der bisher unauflösliche Widerspruch, der diesen Konflikt prägt. Anwar as-Sadat, der frühere Staatspräsident Ägyptens, musste seine Bereitschaft, die Realität der israelischen Existenz anzuerkennen und einen Weg der friedlichen Koexistenz zu suchen, mit seinem Leben bezahlen. Muslime bringen Muslime um, die sich Frieden mit Israel vorstellen können und vorstellen wollen. So unversöhnlich ist dieser Konflikt aufgeladen. Und ohne die selbstzerstörerische Destruktivität dieser emotionalen Aufladung zu erkennen, wird es nicht gelingen, diesen Konflikt zu befrieden.

Rache wird nicht zum Frieden führen

Dabei ist die Vorstellung, das historische Unrecht der Vertreibung nur mit der Rache der erneuten nun umgekehrten absoluten Vertreibung und Vernichtung sühnen zu können, das Grundübel dieses Konflikts. Und diese Vorstellung muss mehrfach kritisch hinterfragt werden.

Würden wir diese Denkweise an alle historischen Erfahrungen von Heimatverlust und Vertreibung anlegen, unsere Welt würde in einem einzigen Blutrausch der Rache und Vergeltung versinken. Ich will gar nicht auf die unzähligen historischen Beispiele eingehen. Allein der Hinweis auf unser türkisches Nationalbewusstsein soll genügen.

Soll es das Ziel eines türkischen Geschichtsverständnisses sein, die Territorien des ehemaligen Osmanischen Reiches zurückzuerobern? Wollen wir die dort ansässigen Völker vertreiben oder umsiedeln, weil einst unsere Vorfahren dort gelebt haben? Oder prägnanter noch: Unsere türkische Heimat war kein unbesiedeltes Vakuum, in welches zentralasiatische Stämme eingewandert sind. Bevor Anatolien zu unserer türkischen Heimat wurde, war es die Heimat anderer Völker. Wir rühmen uns damit, gesellschaftlich ein Mosaik dieser vielfältigen Kulturen und Stämme zu sein. Aber letztlich gründet unser Nationalbewusstsein auch auf der Idee einer Ausschließlichkeit und Eindeutigkeit.

Leidtragende waren all jene, die aus religiösen oder kulturellen Gründen nicht in diese Vorstellung der Eindeutigkeit passten. Sie sind vertrieben worden und pflegen in ihrer neuen Heimat die Sehnsucht nach der alten Heimat.

Zuweilen bricht sich dieser alte Konflikt auch heute noch Bahn. Etwa bei griechisch-türkischen Sportveranstaltungen wo die griechischen Fans ihrer absurden Phantasie der Rückeroberung und Rechristianisierung Istanbuls freien Lauf lassen und türkische Fans in einer Mischung aus Selbstvergewisserung und irritierenden Verlustängsten daran erinnern, dass Istanbul „Since 1453“ andere Herrscher hat.

Diese Irritationen werden auch daran deutlich, dass nationalistische Kreise in der Türkei und deren willige Vollstrecker hier in Deutschland nicht müde werden, zu fordern, die Hagia Sophia solle wieder für muslimische Ritualgebete geöffnet werden. Welch merkwürdiges Zeichen wäre das an die internationale Völkergemeinschaft? Wie sollte ein solches Zeichen als Aufforderung zu multireligiöser Koexistenz verstanden werden? Wie könnte damit eine gelassene Erfahrung vielfältigen Zusammenlebens in einem Mosaik der Religionen signalisiert werden?

Oder würde sie nur als andauernde Unsicherheit und als ein seltsames Bedürfnis nach Wiederinbesitznahme verstanden werden? Wozu sollte eine solche Geste denn dienen?

In unmittelbarer Nachbarschaft zur Sultan-Ahmet-Moschee. In einer Stadt der unzähligen Moscheen der Versuch, eine ehemalige Kirche erneut umzuwidmen und durch eigenen religiösen Ritus als „Eigenes“ zu markieren. Nach über 500 Jahren noch der Drang zur Wiederholung von Eroberungsgesten, statt sich Gedanken darüber zu machen, wie ein souveränes, selbstsicheres Vorbild für das friedliche Zusammenleben verschiedener Religionen aussehen könnte.

Wer heute noch von solchen zwiespältigen Gefühlen gepeinigt wird, sollte versuchen, sich in die israelisch-palästinensischen Widersprüche hineinzuversetzen. Ein seit 70 Jahren dauernder gewalttätiger Streit um den Anspruch zweier Parteien, wem dieses Land gehört.

Existenzrecht Israels

Aus deutscher Perspektive ist das Existenzrecht Israels nicht verhandelbar. Wir haben als Gesellschaft bewiesen, dass wir zur vollständigen Vernichtung jüdischer Mitmenschen und selbst zur kalkulierten industriellen „Verwertung“ ihrer toten Körper fähig sind. Keine Aufklärung, keine Reformation, keine Errungenschaft unserer Dichter und Denker, keine unserer Eigenschaften als Kulturnation hat uns vor diesem Zivilisationsbruch bewahrt. Wir haben Menschen in Begleitung klassischer Musik zur Ermordung selektiert. Wir sind uns nicht in den Arm gefallen bei der schrittweisen Entmenschlichung und endgültigen Vernichtung unserer Nachbarn. Wir haben uns an ihrem Leid bereichert. Wir haben die Vernichtung unserer jüdischen Mitbürger unter maximaler Entwürdigung ihrer Persönlichkeit betrieben. Und kein Land hat uns daran gehindert.

Vor dem Hintergrund dieser Erfahrung ist Israel das einzige Land, in dem ein Jude nicht als Jude, sondern als Mensch leben kann. Das einzige Land, in dem sich ein Jude nicht fragen muss, ob sein Gegenüber ihn insgeheim als geldgierigen, hinterhältigen Schmarotzer, als manipulativen, die Medien und die Wirtschaft kontrollierenden, die Völker gegeneinander hetzenden Parasiten betrachtet.

Israel ist das Land, in das Moses sein Volk aus der Knechtschaft des Pharao führen wollte. Daran glauben auch wir Muslime. Israel ist das Land der Propheten der jüdischen Offenbarungsgeschichte. Juden haben nach Jahrhunderten der Erfahrung, nirgends willkommen zu sein, das Recht dazu, ihr Land an jenem Ort zu gründen und zu erhalten, an dem David sein Lager aufgeschlagen hat, in welchem Salomo auch für uns Muslime zum Inbegriff der Gerechtigkeit geworden ist.

Antizionismus und Antisemitismus

Das Dilemma liegt darin, dass dieses Recht heute auf das Unrecht der Ausschließlichkeit trifft. Dieser Flecken Erde ist zur Heimat mindestens zweier Völker und mindestens dreier Weltreligionen geworden. Ein israelisches Selbstverständnis, das diese Realität verdrängt, kann nicht zum dauerhaften Frieden führen. Jerusalem ist die Stadt der wichtigsten christlichen Offenbarungserzählungen. Sie ist der zentrale Ort der wichtigsten geistigen Koordinaten des Christentums. Sie ist die Stadt der ersten Kible, der ersten Gebetsrichtung der Muslime. Sie ist die Stadt der Himmelsreise des Propheten Muhammed (s.a.s.).

Mit dieser Bedeutung ist Jerusalem wesentlich mehr als nur die Hauptstadt eines oder zweier Staaten. Sie ist eine Verpflichtung und Verantwortung an jeden, der diese Stadt verwaltet, über die eigenen religiösen Ansprüche hinweg, dem Anspruch mindestens dreier Weltreligionen gerecht zu werden.

An dieser Stelle muss ich an einen Satz denken, der vor fast genau einem Jahr fiel. Formuliert hat ihn Volker Beck während eines gemeinsamen Podiumsgesprächs beim Gemeindetag des Zentralrats der Juden in Berlin. Der Satz fiel ziemlich am Ende der Gesprächsrunde, quasi als Schlusswort, so dass mir eine Reaktion darauf nicht möglich war. Ich habe jetzt anlässlich der aktuellen Nachrichten und Proteste wieder an diesen Moment zurückdenken müssen. Er sagte: „Auch Antizionismus ist Antisemitismus.“

Mein damaliger Impuls, ihm zu widersprechen, wirkt auch heute fort. Als Jurist muss ich ihm den Klassiker juristischer Intervention vorhalten: „Es kommt darauf an.“ Ein Zionismus, der als Existenzrecht Israels verstanden wird, als Garantie für eine Heimstätte der Juden im Land ihrer Vorväter, gilt uneingeschränkt. Das habe ich in den obigen Ausführungen unterstrichen. Eine Haltung, die dieses Recht in Frage stellt, öffnet den antijüdischen Vertreibungs- und Vernichtungswünschen Tür und Tor. Ein solcher Antizionismus ist eindeutig Antisemitismus und kann in Deutschland, ja nirgends, geduldet werden.

Aber es gibt auch einen Zionismus, der unter Verdrängung der heutigen multireligiösen Realitäten zwischen Sinai und Golan auf einen Herrschaftsanspruch rekurriert, der einem Ideal aus der Zeit vor dem babylonischen Exil folgend die Uhr der Geschichte mit aller Macht zurückzudrehen bestrebt ist. Ein so verstandener Zionismus muss als Gefährdung des Friedens in der Region kritisiert und abgelehnt werden dürfen. Ein Zionismus, der die territorialen Ansprüche des Staates Israel ausschließlich aus den religiösen Quellen legitimiert und ihn nicht ausdrücklich unter Achtung des Existenzrechts seiner Nachbarn und deren territorialer Integrität einzuschränken bereit ist, wird in der Region und darüber hinaus als latente Quelle des Misstrauens und des Expansionsbestrebens verstanden werden.

Ein Zionismus, den die Sehnsucht nach der Wiedererrichtung eines ausschließlich jüdisch bebauten Tempelberges antreibt, leugnet die Realität insbesondere der muslimischen Prägung der Stadt Jerusalem. Ein solcher Zionismus – wie er durchaus in der politischen Rechten in Israel wirksam ist – hat einen verdrängenden destruktiven Anspruch und unterscheidet sich in letzter Konsequenz nicht von den Vertreibungssehnsüchten der extremistischen Gegner des Staates Israel. Das zu problematisieren, ist kein Ausdruck antisemitischer Gesinnung.

Verantwortung zum friedlichen Zusammenleben

Ich bin davon überzeugt, dass die Völkerwallfahrt zum Zion bereits heute stattfindet. Nirgends sonst beten Juden, Christen und Muslime in einer solchen Nähe zu ihrem gemeinsamen Schöpfer. Auch und gerade ohne die Wiedererrichtung des salomonischen Tempels. So wie der Tempelberg heute ist, zieht von Zion Weisung aus und das Wort des Herrn von Jerusalem – um es mit den Worten des Tanach zu beschreiben. So wie der Tempelberg heute beschaffen ist, hat er das Potential, Recht zu schaffen zwischen den Völkern. Die Schwerter werden zu Pflugscharen, wenn alle Gemeinschaften darauf vertrauen können, dass der Tempelberg in seiner heutigen Weise dem Gottesdienst nicht nur einer, sondern mehrerer Gemeinschaften dient und immer dienen wird.

Der haTikwa, der Hoffnung auf ein eigenes, freies Land muss nun die Hoffnung auf Frieden für alle Menschen in diesem Land folgen. Denn letztlich sind wir alle nur Nießbraucher der Häuser, die wir bewohnen, wie es der Koran beschreibt.

Die Reaktionen auf muslimischer Seite im Zusammenhang mit den aktuellen Entwicklungen werden gerade befeuert durch die Furcht um die Zerstörung dieses Zustandes, durch das Schwinden dieser Hoffnung. Der Besitzanspruch über Jerusalem wird als Auftakt zur endgültigen Vertreibung und Zerstörung jeglichen muslimischen Erbes in der Stadt verstanden.

Viele Muslime sind nicht in der Lage, diese Gedanken und Gefühle sachlich vorzutragen. Sie sind davon geprägt, dass durch mindestens zwei Generationen hinweg Juden stets als Kriegsfeinde der Muslime wahrgenommen wurden. Die wiederholten militärischen Niederlagen gegen den Staat Israel haben nicht dazu geführt, dass der absolute Vernichtungswille gegenüber der jüdischen Bevölkerung in Frage gestellt und revidiert wird. Vielmehr wird eine irrationale Dämonisierung betrieben, die über den konkreten Konflikt hinausreicht und den politischen Konflikt mystifiziert und den Gegner damit zu einem kollektiven Feindbild, „den Juden“, werden lässt.

In der arabischen Sprache gilt „yahudi“, „Jude“, als Schimpfwort. Regt man sich über die Niedertracht oder Wehleidigkeit oder das falsche Verhalten eines Gegners auf, gilt er als „yahudi“ oder „ibn yahudi“, „der Sohn eines Juden“. In der türkischen Sprache ist die Schmähung „yahudi dölü“, „der Samen eines Juden“, Ausdruck äußerster Ausgrenzung und Stigmatisierung als nicht dazugehörig, als verräterisch und hinterhältig.

Gleichzeitig neigen muslimische Vertreter dazu, diese Phänomene nicht als strukturelles Problem wahrzunehmen. Rassismus widerspreche dem Islam, ergo sei Antisemitismus unter Muslimen nicht möglich. Das ist die gleiche Logik, mit der man die Hassprediger der extremistischen Szene lange ignoriert hat. Denn Muslime als Anhänger der Friedensreligion seien ja grundsätzlich immun gegen Mordexzesse.

So finden sich auch in den offiziellen Verlautbarungen muslimischer Kreise wenig überraschend kaum deutliche Verurteilungen der antisemitischen Ausbrüche am Brandenburger Tor. Häufig genug wird dieser unverhohlene Judenhass als überbordender, jugendlicher  Affekt gegen israelische Politik relativiert und verharmlost. Kritik an diesen Zuständen erfolgt oftmals nur als einsilbiger nachgeschobener Tweet zu förmlichen Erklärungen, in denen man sich zu dem Problem gar nicht oder nur formelhaft äußert. Das ist zu wenig. Denn wo der deutliche öffentliche und institutionelle Widerspruch unterbleibt, wird es nie dazu kommen, dass Muslime ernsthaft und nachhaltig darüber diskutieren, warum sie Moses als Prophet Allahs verehren, aber Juden kollektiv so leicht zu hassen bereit sind.

Dabei geht auch die Möglichkeit der Annäherung und des Bündnisses zwischen Gleichgesinnten und Friedliebenden auf beiden Seiten des Konflikts verloren. Eine persönliche Begegnung, die Relativierung eigener Feindbilder, das Aufbrechen vorgegebener Schablonen, das Wahrnehmen der Empfindungen des jeweils anderen, all das bleibt zur Zeit in weiten Teilen noch unmöglich. Denn es gibt kaum intensiven, freundschaftlichen Kontakt, weil im jüdischen Gegenüber hier in Deutschland nicht der abrahamitische Vetter erkannt wird, sondern immer nur der Repräsentant eines feindlichen Kollektivs, immer nur der „yahudi“, dem man alles zutraut, nur nichts Gutes.

Diese Zustände müssen wir Muslime aufbrechen. Wir müssen den ersten Schritt unternehmen. Denn bislang haben Juden keine muslimischen Symbole am Brandenburger Tor verbrannt.