Die Reformreform – oder warum sich die muslimischen Reformer reformieren müssen

Der Begriff der Reform oder historisch noch spezifischer der Reformation prägt seit geraumer Zeit die Islam-Debatten in Deutschland. Einen Höhepunkt dieser Entwicklung markieren die aktuellen Berichterstattungen zur weiteren staatlichen Förderung der universitären islamischen Theologie. Darin finden sich vielfach entlarvende Formulierungen über die universitäre Lehre als vermeintliche „Reformtheologie“. Diese Signale werden im akademischen Feld und in der skurrilen Szene der „Islamexperten“ sehr wohl verstanden und dort auch mehr oder weniger feingeistig in die Tat umgesetzt.

 

So scheint mittlerweile jede akademische Beschäftigung mit dem Islam nur dann gerechtfertigt zu sein und kann sie sich der weiteren finanziellen und politischen Förderung nur dann gewiss sein, wenn sie sich den Lack der Reformtheologie überpinselt.

Ebenso wissen die „Islamexperten“ ihre Auftragsbücher gefüllt und das nächste Honorar überwiesen, je deftiger sie die vermeintliche Reformbedürftigkeit des Islam propagieren.

 

Dabei ist die thematische Seichtigkeit der öffentlichen Debatte einer Gesellschaft, die sich als aufgeklärt begreift, derart unwürdig und die Substanz der Reformproklamationen unhinterfragt derart flüchtig, dass man sich fragt, wann die Unwürdigkeit dieser Debattenkultur und die groteske Widersprüchlichkeit ihres Anspruchs, Verinnerlichung einer vermeintlichen Leitkultur zu sein, denn endlich erkannt werden.

Bereits der soziologisch nachvollziehbare Prozess des Wandels vom Selbstverständnis als Provisorium in einem „Gastarbeitermilieu“ hin zur Verwurzelung in einer sich als originär der deutschen Gesellschaft zugehörig begreifenden muslimischen Teilkultur wird fälschlicherweise als Reform, gar theologische Reform, missverstanden.

Aufforderungen zur Emanzipation, zur Mündigkeit, das Verständnis von vermeintlicher Heteronomie oder Autonomie zeugen von einer defizitären Selbstwahrnehmung, die wie eine Übernahme von Rückständigkeitszuschreibungen wirkt. Hier werden kulturhierarchische Denkmuster und ausgrenzende Gesellschaftsmechanismen bereitwillig übernommen und reproduziert, in dem man sie auf die Religion als vermeintlich fremdbestimmender Faktor projiziert.

Dazu gehört es dann im nächsten Schritt, dass die Relativierung eigener Glaubensüberzeugungen als notwendige Integrationsleistung verstanden wird.

 

Vor diesem Hintergrund wirkt es zunehmend lächerlich, wie jeder noch so simple Ausdruck von Heimisch-Werdung muslimischer Gemeindepraxis oder individueller muslimischer Lebensgestaltung zu einer “Reformbewegung” stilisiert wird.

 

Um die Banalität dieser Phänomene zu kaschieren und die oben beschriebene Projektionsleistung zu konkretisieren, wird ein vermeintlich gefährlicher Gegner konstruiert, der Grund allen Übels und Provokateur der Islamfeindlichkeit sein soll – der traditionelle Muslim und seine Organisationen. Somit sind Muslime selbst verantwortlich für ihre gesellschaftliche Negativmarkierung, da sie sich der “Reform” verweigern. Die muslimischen Organisationen potenzieren dann in dieser Denklogik die geradezu als gesellschaftsunverträglich markierte Verweigerung – ja, sie werden gar als zu bekämpfender Gegner der geforderten muslimischen Reformation skizziert.

 

Die muslimischen Reformatoren, die sich an diesen Narrativen beteiligen, merken nicht, wie sehr sie eine paternalistische Kulturdebatte stützen und wie sie sich gleichzeitig an der Infantilisierung ihrer Religion und ihrer Glaubensangehörigen beteiligen.

In dieser Ausprägung ist die Reformbegeisterung nichts anderes als der Ausdruck eines bemerkenswert wirkmächtigen Minderwertigkeitskomplexes.

 

Die gesellschaftliche Relevanz solcher Bewegungen bleibt indes eine Bedeutungsbehauptung, deren Hybris sich darin offenbart, dass sie sich als alternativlose Entwicklung begreifen. Derweil stimmen die Muslime mit den Füßen ab. Und das scheint so unerträglich zu sein, dass zunehmend verfassungswidrige Positionen zu hören sind -gerade aus Richtung der Bewegungen, die den Applaus einer islamskeptischen Gesellschaft als Selbstbestätigung wahrnehmen, in der muslimischen Basis jedoch überhaupt keine Anschlussfähigkeit nachweisen können.

 

Zurück zur mangelnden Substanz: Die Begeisterung für und der Wille zur Reform bleibt inhaltlich genauso unpräzise und substanzlos, wie die zur Rechtfertigung der Reformforderung konstruierte Verachtung muslimischer Selbstorganisation.

 

Schon begrifflich handelt es sich um eine Mogelpackung. Die Reform bzw. die Reformation ist erkennbar dem Wortsinn nach bereits eine re-, also zurückkehrende, formatio, Gestaltung, Herstellung. Begrifflich wird also eine Wiederherstellung, eine Rückkehr zum Ursprünglichen beschrieben, obwohl den muslimischen wie nichtmuslimischen Reformatoren eher der Sinn nach kategorischer Erneuerung und fundamentaler Neukonstruktion steht, also eher nach einer revolutio im Sinne einer Umdrehung, Umwälzung der bestehenden Ordnung und die Neuordnung von Machtverhältnissen. In diesem grundsätzlichen Sinn sind die Apologeten einer muslimischen Reformation und die literalistischen Rückbesinnungsfetischisten des Antiislamischen Staates letztlich Geschwister im reformatorischen Geist.

 

Die Anlehnung dieser muslimischen Reformbegeisterung an die lutherische Reformation, mit samt ihren selbsternannten zeitgenössischen „Luther-Figuren“, ist nicht rein zufällig und erschöpft sich auch nicht in bloßer begrifflicher Analogie.

Frappierend sind auch die inhaltlichen Parallelen, bei deren näherer Betrachtung man den Eindruck gewinnen kann, die selbstermächtigten muslimischen Reformatoren würden nicht aus einer islamischen Binnenperspektive heraus denken und schlussfolgern, sondern bedienten sich der Einfachheit halber gleich aus dem Werkzeugkasten eines christlichen Verständnisses des Islam, das originär aus dem Vergleich des Islam mit dem Christentum resultiert und entsprechend die Begrifflichkeiten der christlichen Theologie benutzt.

 

So findet sich in den populären Werken und Postulaten der „liberalen“ Islamexperten-Szene der wiederkehrende Appell einer Mündigwerdung, einer Emanzipation der Muslime. Dies geht einher mit der Infragestellung des traditionellen islamischen Gottesverständnisses. Bekannt sind die Forderungen nach einem humanistischen Gott, die Ablehnung eines vermeintlich despotischen Gottes. Propagandistisch wird diese Reform des Gottesverständnisses als Abkehr von einer Herr-Knecht-Beziehung verkündet. Gleichzeitig wird das Bild eines suchenden, nach der Liebe des Menschen suchenden Gottes entworfen und damit eine persönliche Beziehung zu Gott proklamiert.

 

Aus diesem persönlichen Beziehungsverständnis/-verhältnis ergibt sich letztlich eine individuelle Gestaltung von Frömmigkeit, wo es nicht mehr auf Rituale, Traditionen, überlieferte Religionspraxis ankommt, sondern nur noch auf ein Religionsempfinden, ein Gefühl des individuellen Angenommen-Seins bei Gott.

 

Diese Gedankengänge sind nichts anderes als der pseudomuslimische Entwurf einer „devotio moderna“ – einer neuen, modernen Frömmigkeit – mit Blick auf die individuelle Beziehung des Menschen zu Gott als eine die historisch europäische Reformationsbewegung stark beeinflussende Vorstellung. Ein Verständnis, das eher mystisch-spirituelle „Beziehungspflege“ in den Vordergrund rückt und den ritualisierten Gottesdienst zurückstellt.

 

Es sind solche „liberalen“ und „reformatorischen“ Bestrebungen innerhalb der muslimischen Community und der islamisch-theologischen Universitätslandschaft, die in der muslimischen Gemeinde lediglich eine gedachte Wohlfühlgemeinschaft erblicken wollen, bei der es nur noch darauf ankommt, von welcher Absicht der Glaube getragen ist und bei der das aus der islamischen Tradition – ja genauer noch der Prophetentradition – überlieferte Vorbild der konkreten Religionspraxis nur noch als wurmstichige Antiquität begriffen wird. Ein Islam nur im Kontext historisch-kritischer Hermeneutik ohne Prophetentradition oder islamische Geistesgeschichte. Wenn man so will, eine Art islamisches sola scriptura-Prinzip.

 

In dem Maße, in dem der traditionelle gemeindliche und damit kollektiv-rituelle Aspekt der Frömmigkeit entwertet wird, wird die Komponente des Persönlichen in der Beziehung zu Gott überhöht. Letztlich ist auch den muslimischen Reformatoren klar, dass damit nicht mehr Gott im Zentrum der Religion steht, sondern der Mensch. Dort, wo der Glaubende eine egozentrische Perspektive einnimmt, bezieht sich der Mensch nicht mehr auf Gott, sondern bezieht der Mensch Gott auf sich.

 

Diese Perspektive mündet in einer zunehmend anthropomorphistischen, also vermenschlichenden, Beziehung zu Gott. In dieser Haltung wird jeder Aspekt Gottes, der den Menschen in seine – eben menschliche – Unvollkommenheit und Begrenztheit verweist, als „Beziehungsstörung“, als Bevormundung, als Despotie verstanden.

 

Die Ergebenheit in den Willen eines als allmächtig verstandenen Gottes, die sich auch noch in der Bereitschaft manifestiert, sich fünfmal am Tag vor diesem Gott niederzuwerfen, wird in einem solchen Verständnis zwangsläufig als Unmündigkeit empfunden werden müssen. Wie soll aber eine Emanzipation, eine Mündigwerdung vor Gott begriffen werden, ohne Gott auf die Ebene des Menschen herunter zu brechen? Hier entsteht die Nähe zu einem menschlichen Gottesverständnis, die Muslime nicht mitgehen können, wollen sie nicht den Kernbestand ihrer Glaubensüberzeugung aufgeben.

 

Selbst wenn diese Konsequenz durch die muslimischen Reformatoren zurückgewiesen werden sollte, reduziert dieses Verständnis dennoch Gott zu einer durch den Menschen vollständig verstehbaren, empfindbaren, partnerschaftlich erlebbaren Instanz. Jedes Bewusstsein für die Beschränktheit der eigenen Einsichtsfähigkeit und das Aushalten-Müssen eines in letzter Konsequenz unvorstellbaren, unergründbaren Gottes schwindet.

 

Bei einem solchen Beziehungsverständnis erodiert jede Notwendigkeit der Demut und der Dankbarkeit. In diesem Verständnis wird der Gottesdienst zur kulturellen Folklore, deren Äußerlichkeit entbehrlich wird und deren Inhalt dem beliebigen Gestaltungsbedürfnis des Einzelnen ausgeliefert bleibt.

 

Was die muslimischen Reformatoren hierbei verkennen, ist die besondere Wirkung der dialektischen islamischen Religionspraxis, die stets die Perspektiven des Individuellen und des Kollektiven in sich vereint. Um es herausfordernd zu formulieren: Der von den muslimischen Reformatoren verachtete „konservative“ Islam steht für die Überwindung der Einsamkeit des Menschen.

 

Die Einsamkeit des Armen, der an seiner Ohnmacht verzweifelt.

Die Einsamkeit des Reichen, der seine Verlustangst im Hedonismus betäubt.

Die Einsamkeit des Ausgebeuteten, des Machtlosen, der sich seiner reduzierten, entsubjektivierten Bedeutung nur als Produktionsfaktor bewusst ist.

Die Einsamkeit des Gescheiterten, der in seiner Existenz nur noch einen destruktiven Sinn erkennt.

Die Einsamkeit des Erfolgreichen, der den Sinn seiner Existenz nur noch in der Steigerung erfährt.

 

In dieser Einsamkeit bietet der als konservativ verachtete Islam dem Menschen nicht einen nach ihm suchenden Partner-Gott an. Er mutet dem Menschen zu, dass Gott nicht unmittelbar zur Erfüllung seiner Erwartungen zur Verfügung steht. Er mutet dem Menschen eine Entfremdung, eine Mittelbarkeit zu.

Er macht aber gleichzeitig die schöpfungsbedingte Entfremdung von Gott, die in der islamischen Offenbarung über Adam deutlich wird, überwindbar und bettet diese Überwindbarkeit in das Erlebnis von gerade auch kollektiver Ergebenheit in den Willen Gottes ein.

 

Er verlangt nicht die Vermenschlichung Gottes, um ihn als auf den Menschen angewiesenen Partner erfahren zu können. Er verweist auf das Mitgeschöpf und seine ebenso erlebte Hineingeworfenheit in diese Welt. Dort ist der Partner für den Menschen. Seinesgleichen, mit dem er sich trotz aller Fremdheit, trotz aller individuellen Suche nach Gott, vereint sieht im gleichen Streben, Ringen, Hadern, Verzweifeln. Und dann in seiner Hoffnung, in seiner Sehnsucht, in seiner Zuversicht, in seinem Vertrauen auf Gott. Und vereint in den gleichen Geboten, in den gleichen Riten, in der gleichen Anrufung Gottes, in der eben gleichen Ergebenheit.

Der als konservativ diskreditierte Islam will eben nicht nur, dass der Mensch Gottes Nähe erfährt. Er will, dass der Mensch mit dieser Erfahrung zurückkehrt und sich seinem Mitmenschen zuwendet. Dem, der da gerade neben ihm, vor ihm, hinter ihm betet.

 

Die muslimischen Reformatoren blenden diese Aspekte des als konservativ verrufenen Islam aus und individualisieren Gott zur exklusiven Verfügungsmasse des Einzelnen. Wie trostlos muss so eine Partnerschaft sein, die sich selbst genügt?

 

Die Antwort auf diese Frage findet man in dem, was dieser reformatorische Ansatz tatsächlich an magerer Substanz hervorbringt.

Die Position gegenüber den als konservativ markierten islamischen Religionsgemeinschaften erschöpft sich in der anhaltenden Diskreditierung mit Behauptungen der Rückständigkeit oder Gesellschaftsschädlichkeit, bar jeden Beweises oder auch nur plausibler Argumentation. In einer gesellschaftlichen Atmosphäre, in der man orthodoxen Muslimen jedes Übel zutraut, genügt heutzutage die bloße Diffamierung als Nachweis der „Islam-Expertise“.

 

Gleichzeitig ist zu beobachten, wie muslimische Reformatoren versuchen, gesellschaftliche Relevanz zu simulieren, um damit zutiefst verfassungswidrige Positionen und Forderungen zu legitimieren.

Und selbst in diesem Detail gibt es eine Parallele zum historischen Vorbild. In einer seiner reformatorischen Hauptschriften „An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung“ fordert Luther die weltliche Obrigkeit dazu auf, in die Kirchenstruktur einzugreifen und mit staatlicher Hand Religion zu gestalten.

Mit ähnlicher Vehemenz fordern „liberale“ Universitätsprofessoren und „zentrale“ Verbandsvertreter ein Islamgesetz nach Österreichischem Vorbild und „liberale“ Muslime die staatliche Kontrolle über das, was in Moscheegemeinden gelehrt wird und wer dort lehren darf.

 

Die eigene Legitimation dieser muslimischen Reformatoren wird wiederum in nahezu pathologischer Ignoranz gegenüber den gesellschaftlichen Wirklichkeiten in dem simplen Postulat konstruiert, die Stimme einer schweigenden Mehrheit zu sein.

Das ist die gleiche Behauptung, die gegenwärtig Donald Trump im amerikanischen Wahlkampf um die republikanische Präsidentschaftskandidatur sich aufs Wahlplakat hat pinseln lassen: „The silent majority stands with Trump!“. Die muslimischen Reformatoren befinden sich da in einer Gesellschaft, die sie sich (un)redlich verdient haben.

 

Wenn aber eine solche Haltung heute im öffentlichen Diskurs als „liberal“ verstanden wird, muss man als Muslim mit einem Restfunken an Selbstachtung nüchtern feststellen: „Dann lieber konservativ!“

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