„Der Panzer verdeckt die Wunde“ – Teil 1

Die Muslime in Deutschland stehen vor großen Herausforderungen, welche ihre zukünftigen Lebensbedingungen nachhaltig beeinflussen werden. Die aktuelle Nachrichtenlage ist der Hintergrund, vor dem die unterschiedlichen Ausprägungen muslimischen Lebens in Deutschland ihre teils scharfkantigen Schatten werfen. Bevor in anderen Beiträgen zu konkreteren Fragen Stellung genommen wird, soll in einem zweiteiligen Beitrag der gegenwärtige Zustand muslimischer Existenz und die Beschaffenheit ihrer gesellschaftlichen Manifestation eingehender erörtert werden – auch um die Bedingungen zu beschreiben, unter denen alle anderen Detailfragen verhandelt werden.

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Theodor Wiesengrund Adorno war kein Muslim. Das dürfte gesichert sein. Ebenso sicher hat er sich zeitlebens wohl nicht mit muslimischen Gesellschaften oder gar der Selbstorganisation von Muslimen in mehrheitlich nichtmuslimischen Gesellschaften beschäftigt. Gleichwohl kann vieles, was er im Laufe seines Lebens zu den unterschiedlichsten Sachverhalten und Betrachtungsgegenständen gesagt hat, als eine treffende Beschreibung des gegenwärtigen Zustandes der muslimischen Community herangezogen werden. Ohne ihren ursprünglichen historischen Kontext charakterisieren diese Zitate, als abstraktere Sentenzen verstanden, innermuslimische Verhältnisse unserer Zeit in einer erstaunlichen Präzision.

Denn in ihnen verdichten sich die Fehlentwicklungen der innermuslimischen Debatten in entlarvender Deutlichkeit. Unter solchen Zitat-Überschriften werden im Folgenden diese Fehlentwicklungen näher beleuchtet und auch so hart angestrahlt, dass die problematischen Konturen sichtbar werden. Das Resultat soll der Versuch einer Analyse, einer Sezierung des muslimischen Ist-Zustandes sein, mit der die wahre Natur unserer gravierenden Probleme vielleicht freigelegt werden kann.

 

„Das Publikum hat ein Recht darauf nicht angeschmiert zu werden, auch wenn es darauf besteht, angeschmiert zu werden.“

Wir gehen von falschen Tatsachen aus. Das ist eine fundamentale und in ihrer Rigorosität wichtige Feststellung. Sie ist zugleich ein Eingeständnis des Scheiterns. Sie ist aber auch Ausdruck einer unerfüllten Hoffnung, einer ungestillten Sehnsucht.

Schlüsselbegriff dieser Sehnsucht ist das Ideal der muslimischen Einheit. Sie wird verstanden als ein zu erstrebendes Ziel, als eine kollektive Harmonie, in der jeder den anderen versteht und unterstützt. In dieser Einheit gibt es keinen Streit, keine Auseinandersetzungen und damit denklogisch keine Kritik – jedenfalls keine öffentliche. Diese muslimische Einheit wird als greifbar nahe Lösung aller Probleme begriffen, die letztlich wiedermal nur am Unvermögen oder am bösen Willen Einzelner kurz vor ihrer Erfüllung scheitert.

Gleichzeitig und damit widersprüchlich wird dieses Verständnis von Einheit fast schon mystifizierend überhöht als eine Art geistig-seelischer Verfassung weniger Distinguierter, die sich mit ihrer noblen Erkenntnis abheben von den gewöhnlichen, zerstrittenen Kleingeistern der Zwietracht und der individuellen Geltungssucht unter Muslimen.

Damit dient die „Einheit“ als sich selbst enttäuschende Prophezeiung auf bessere Zeiten und als ewig gültige Erklärung für alle Probleme und Niederlagen – an denen natürlich „die anderen“ schuld sind.

Also ist jedes Problem innerhalb der muslimischen Strukturen zwangsläufig die unmittelbare Folge einer fehlenden Einheit unter Muslimen. Gleichzeitig ist die beschworene Einheit das Allheilmittel für alle Herausforderungen und Unzulänglichkeiten der Gegenwart.

In diesem Verständnis ist „Einheit“ ein fast schon masochistisches Vergnügen, weil es zwar die Qualen des unerreichten Erreichbaren verursacht aber gleichzeitig die Erkenntnis vorgaukelt, die Lösung aller Probleme schon zu kennen. „Einheit“ ist das, was man selbst immer erstrebt und an dessen Scheitern natürlich immer die anderen schuld sind, sei es aus Unkenntnis, Unwillen oder vorsätzlicher Sabotage dieser Einheit. Was uns zum nächsten Abschnitt bringt.

 

„Erster und einziger Grundsatz der innermuslimischen Debatte: der Ankläger hat immer Unrecht.“

Was Adorno über die Sexualethik gesagt hat, kann – mit einem ironischen Augenzwinkern – auf die schizophrene Natur der gegenwärtigen innermuslimischen Debatte übertragen werden. Da die Lösung aller Probleme bekannt ist (siehe „Einheit“) und jeder für sich natürlich dieser simplen Einsicht nicht zuwider handelt, müssen folglich alle kritischen Positionen, die von außen das eigene Handeln hinterfragen, als sachfremder Versuch einer Verhinderung dieser Einheit begriffen werden.

Innermuslimische Kritik ist somit nie eine Anregung zum Disput in der Sache. Schon gar nicht, wenn sie öffentlich formuliert wird. Auch Kritik am öffentlichen Handeln darf nicht öffentlich formuliert werden, sondern muss in der Sphäre des Persönlichen bleiben. Kritik – selbst in Bezug auf öffentliches Wirken – darf nicht nach außen dringen und eine gesellschaftliche Debatte anregen, sondern muss Gegenstand privater Unterredungen und damit unverbindlich bleiben.

In diesem Verständnis kann Kritik nie Korrektiv mittels Skepsis sein. Nein, sie muss immer Ausdruck von Undankbarkeit, von Neid, von Eifersucht, von Böswilligkeit, also von mutwilliger Zerstörung von Einheit sein. Das ist eine sehr bequeme Art, Kritik abzuwehren. Eine inhaltliche Auseinandersetzung um Argumente, eine Disputation, die zumindest von der Annahme lebt, das Gegenüber könnte mit seinen Argumenten Recht haben, muss so nie geführt werden.

Dieser reflexartige Umgang mit Kritik macht einen scheinbar unangreifbar, weil nie das eigene Handeln hinterfragt werden muss, sondern jede Kritik auf die Ebene des Emotionalen verwiesen wird. So ist der Kritisierte stets empört über die Oberflächlichkeit, die Hetze, die Unfairness, die Ungerechtigkeit, ja die Undankbarkeit die ihm widerfährt und sind die tatsächlichen Argumente gar nicht würdig, widerlegt oder auch nur ansatzweise inhaltlich diskutiert zu werden. Im äußersten Fall – der regelmäßig schon in der ersten, sicher aber in der zweiten Reaktion auf Kritik eintritt – wird dem Kritiker unislamisches Verhalten vorgeworfen oder seine muslimische Identität in Zweifel gezogen.

Das selbständige Denken und Argumentieren, das Streiten in der Sache, das Ringen mit abweichenden Meinungen werden in solchen Fällen gern ersetzt durch Zitate aus dem Koran oder Hadithen-Sammlungen. Somit wird Allah selbst oder zumindest ein Prophetenwort zum Leumundszeugen des Kritisierten, der sich in dieser Folgerichtigkeit auch gar nicht bemüßigt sehen muss, inhaltlich Stellung zu beziehen.

Das ist praktisch. Das ist aber auch Selbstbetrug. Denn es führt zu einer fortwährenden gedanklichen Trägheit, die jeder Position, so dumm sie auch sei, eine scheinbare Berechtigung im Diskurs verleiht.

Banaler Unsinn wird zum wertvollen Beitrag, weil er sich nicht an der kritischen Nachfrage messen und bewähren muss. So sind auch aus kontraproduktiven Äußerungen, gute Leistungen für uns Muslime geworden. So ist die aberwitzige Forderung nach einem Islamgesetz durch einen muslimischen Verbandsvertreter keine kritische Diskussion wert. So wird das Sekundieren für populistische Wahlkampfrhetorik zur vorbildlichen medialen Präsenz der Muslime. So wird aus der bauchtänzerischen Verrenkung um eine aus der Politik finanzierte Bühnenshow ein gelungener Auftritt für uns Muslime.

So wird die beschämende Posse um die Frage, wer die Rechnung so einer Inszenierung trägt, zu einer guten Aktion, die mal wieder neidisch zerredet wird.

So wird dieses Debakel, für das alle Muslime die metaphorische Rechnung mit ihrer kollektiven Glaubwürdigkeit bezahlen, als erfolgreiche PR für Muslime begriffen, ohne dass der dieser verqueren Logik innewohnende Wahnsinn bemerkt oder auch nur ansatzweise kritisch hinterfragt wird.

Jede Intervention, jede Missbilligung von Handlungen oder Positionen im öffentlichen Raum wird lieber als die Verhinderung von Einheit und damit als unislamisch abgetan.

 

„Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“

Einem ähnlichen Selbstbetrug geben sich Politik und Medien hin, die gierend nach einfachen Antworten auf komplexe Fragen sich lieber von der Begrifflichkeit „zentral“ navigieren lassen, als sich mit der komplexen Realität zu befassen. So landen sie ein ums andere Mal in der muslimischen Sackgasse und glauben dort die Befindlichkeit der Muslime zu betrachten, obwohl sie nur das grotesk verzerrte Trugbild ihrer Wunschvorstellungen über die Muslime anstarren.

Vom Wunsch nach einem zentralen Ansprechpartner beseelt, werden seit Jahren die tatsächlichen Verhältnisse geleugnet und die Einheitssehnsucht der Muslime schon in aberwitziger Weise um den Preis inhaltlicher Kohärenz und Konsistenz befeuert.

Am Ende steuern wir eine Einheit im inhaltlichen Vakuum an, ohne dass diese Leere noch irgendwem auffällt. Wie soll so bitte ein belastbares Verhältnis zwischen muslimischer Selbstvertretung und staatlichen Institutionen entstehen? Welchen Wert hat eine Einheit im Nichts, in der Beliebigkeit, in der Bereitwilligkeit, alles mitzumachen?

Wie macht man einer muslimischen Galatea klar, dass die Existenz als Projektionsfläche für politische Erwartungen, das Erstarren in der politischen Pose, keinen Mehrwert oder irgendwie gearteten Nutzen für die Muslime hat? Und wie bringt man dem politischen und medialen Pygmalion bei, dass ein in Nachahmungsreflexen versteinertes Trugbild keine relevante Substanz für das gesellschaftliche Zusammenleben hervorbringen kann?

Dieser Zustand ist spirituell so verheerend, dass uns immer weniger auffällt, dass wir vor lauter falschverstandener Einheitsbesoffenheit gerade dabei sind, die Basis jeglicher tatsächlich möglichen Einheit preiszugeben, um politische Erwartungen zu befriedigen. Wir sind dabei, eine Sphäre der Einheit zu erreichen, die sich nur noch das fast schon obszön knappe Gewand des Religiösen umwirft, das Religiöse aber soweit in medialer und politischer Währung kapitalisiert, dass die Forderung nach einer gesellschaftsverträglichen religiösen Identität zunehmend in der Sakralisierung des Säkularen erfüllt wird. Was uns zum nächsten Abschnitt bringt.

 

„Nur am Widerspruch zwischen dem, was etwas zu sein beansprucht, und dem, was es wirklich ist, lässt sich das Wesen einer Sache erkennen.“

Exemplarisch für die irrationale Einheitsdiskussion innerhalb der muslimischen Binnenstrukturen ist die Wahrnehmung, Funktion und Überhöhung organisatorischer Zentralisierungsabsichten. In solchen Zentralisierungsabsichten kulminiert die muslimische Einheitssehnsucht in ihrer missverständlichsten Gestalt. Eine so heterogene Basis, eine vielschichtige Gemeinderealität und nicht zuletzt eine im Wesentlichen nicht klerikal systematisierte Glaubenswelt nur verbunden mit der Sehnsucht nach einer nicht näher definierten Einheit, die dann auch noch zentralisierte Strukturen entwickeln soll – das konnte und kann so nicht funktionieren.

Die Wirksamkeit solcher Strukturen kann nur beschränkt sein auf eine mehr oder wenige inhaltsleere Mimikry von Bedeutung. In ihnen kann Einheit nur dadurch erzielt werden, indem die Verständigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner so durchexerziert wird, bis ein Grad der Unverbindlichkeit erreicht ist, der mit Wohlwollen als praktisch bezeichnet, mit Sicherheit aber nicht dem Anspruch auf Ernsthaftigkeit einer Religionsgemeinschaft gerecht werden kann.

Man muss innermuslimisch auch den Mut dazu finden, solche in der Nähe zu staatlichen Erwartungen konstruierte Gebilde in ihrer Untauglichkeit zu erkennen und sich darüber Gedanken machen, wie diese ersten Aufschläge zu organisatorischer Einheit sinnvoll weiterentwickelt werden können.

Momentan manifestiert sich innermuslimisch die rudimentärste Form von Einheit, nämlich das Nebeneinanderher von organisatorischer Bemühung. Das ist mühsam und ineffektiv. Es muss um mehr gehen, als nur darum zu repräsentieren.

Es muss einen intensiveren Austausch der Religionsgemeinschaften mit ihren unmittelbaren gemeindlichen Strukturen geben, eine lebendige Diskussion um muslimische Positionen, ein Austausch mit muslimischen Akademikern, muslimischen Politikern, muslimischen Künstlern, der muslimischen Jugend, kurz auch mit Muslimen, die nicht in den Verbänden organisiert sind.

Jedenfalls können in einem solchen breit angelegten gesellschaftlichen Austausch mehr Muslime mit ihren Ideen, ihren Talenten und ihrem Einsatz Gehör finden, als es in den gegenwärtigen Strukturen der bloßen Repräsentanz der Fall ist.

Es stellt sich damit die Frage, ob der gegenwärtige „koordinierte“ Zustand das Beste ist, was der Wunsch nach muslimischer Einheit hervor zu bringen in der Lage ist.

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Bemerkenswert ist, dass auch die selbsternannte muslimische Avantgarde – die liberalen Humanisten oder sind es doch eher humanistische Liberale? – ohne Mühe unter diese Zitat-Überschrift subsummiert hätten werden können.

Zu diesem Phänomen der innermuslimischen Entwicklungen soll aber in einem zweiten Teil ausführlicher eingegangen werden. Es folgen bald die Zitat-Überschriften:

 „Fortschritt ist ambivalent. Er entwickelt zugleich das Potential der Freiheit und die Wirklichkeit der Unterdrückung.“

 „Die rastlose Selbstzerstörung der Aufklärung zwingt das Denken dazu, sich auch die letzte Arglosigkeit gegenüber den Gewohnheiten und Richtungen des Zeitgeistes zu verbieten.“

 „Ein Deutscher (Muslim), ist ein Mensch, der keine Lüge aussprechen kann, ohne sie selbst zu glauben.“