Heute ist der 11.07.2017. Es ist der Gedenktag an das Massaker von Srebrenica, das vor 22 Jahren verübt wurde. Auch dieses Jahr wurden auf dem Friedhof von Potocari, dem Ort der Gedenkstätte an dieses Verbrechen, Opfer beerdigt, deren Identität erst jetzt festgestellt werden konnte. Noch immer werden Opfer offiziell „vermisst“, sind die Identitäten von vielen in Massengräbern entdeckten Opfern ungeklärt.
Facebook und Twitter sind die modernen Gedenkstätten unserer Zeit. Orte der demonstrativen Anteilnahme. Virtuelle Orte. Flüchtige Anteilnahme. Im stetigen Fluss der Timeline wegdriftendes Gedenken. „Never forget!“, „Don’t forget!“, „Remember Srebrenica!“. Appelle, die sich von Jahr zu Jahr, von Gedenktag zu Gedenktag wiederholen. Was passiert in den 364 Tagen dazwischen?
Mir sind die Massen an „Never forget!“-Postings an diesem einen Tag nicht geheuer. Manche setzen auf blutige Effekte. Manchen kann man deutlich anmerken, dass es weniger um eine Erinnerung an die Opfer geht, sondern mehr um den Vorwurf gegenüber dem „Anderen“. Mir wird schlecht, wenn ich merke, dass es manchen nur darum geht, einen irgendwie gearteten, nicht näher identifizierten, Hauptsache nichtmuslimischen Schuldigen zu adressieren. Das ist eine perfide Ausbeutung der Opfer, nicht die Achtung ihres Gedenkens.
Die Schuld der Täter, das Versagen der internationalen Völkergemeinschaft mit samt allen auch militärischen Institutionen gehört ganz gewiss auch zu diesem Thema. Es wäre ein ganzes Jahr lang Zeit, das zu thematisieren. Passiert das irgendwo?
Wir haben es aber auch dieser Völkergemeinschaft zu verdanken, dass das unvorstellbare Unrecht, das in den 90er-Jahren auf dem Balkan begangen wurde, aufgearbeitet und nach den Möglichkeiten eines Rechtsstaates geahndet wird. Das geschieht am Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY). Interessiert sich irgendwer aus der muslimischen Community dafür?
Auf der Webseite des ICTY ist nachzuvollziehen, mit welchem immensen Aufwand die Ereignisse rekonstruiert werden, wie unzähligen Opfern die Möglichkeit gegeben wird, ihre Geschichte zu erzählen, von ihrem Leid zu berichten und damit Anteil daran zu haben, dass die Täter bestraft werden. Wer verstehen will, was die Botschaft dieser Aussagen ist, möge die Seite „Cases“ des ICTY aufrufen, über die man zu den einzelnen verhandelten Fällen des Strafgerichtshofes gelangt.
Dort kann man die Suchmaske „Accused Name“ aktivieren. Es öffnet sich ein Fenster mit den Namen aller Angeklagten vor dem ICTY. Es sind Namen zu finden, die allen Ethnien, allen Religionen des Balkan zugeordnet werden können. Das heißt, niemand war wegen seiner Herkunft oder seines Glaubens davor gefeit, Täter zu werden.
Ja, es ist richtig, dass die überwältigende Zahl der Verbrechen während des Bosnienkrieges von Serben verübt worden sind. Aber folgt man den Spuren der Ereignisse in den unzähligen Seiten juristischer Dokumente des ICTY, wird deutlich, dass es bei dem Gedenken an die Opfer nicht darum gehen kann, Tätern und Opfern ethnische oder religiöse Zugehörigkeiten zuzuordnen. Soll das Gedenken einen Sinn und eine Wirkung für die Zukunft haben, muss es uns gelingen, dieses Gedenken nicht auf bloß religiöse oder ethnische Aspekte zu reduzieren. Denn das war das Motiv und das Vorgehen der Täter. Für sie waren die Opfer nur Angehörige einer anderen Gruppe, nicht mehr die Menschen, unter denen sie geboren, mit denen sie aufgewachsen waren.
„Never forget Srebrenica!“. Wie wirksam ist ein solcher Appell, wenn wir die Ereignisse in Zvornik, in Prijedor, in Foca oder Visegrad längst vergessen haben? Wir werden dem Andenken der Opfer erst dann gerecht, wenn wir uns nicht nur symbolisch daran erinnern, dass Muslime ermordet worden sind. Wir müssen uns daran erinnern, wozu jeder Mensch fähig ist, der sich in Hass verliert.
Wer den Dimensionen dieses Hasses nachspüren will, kann sich durch die Anklageschrift in den Fällen Radovan Karadzic und Ratko Mladic arbeiten.
Wessen Herz und Verstand es aushält, kann sich die Urteile und die darin protokollierten Zeugenaussagen in den Fällen gegen Dragoljub Kunarac, Radomir Kovac, Zoran Vukovic und gegen Milan Lukic, Sredoje Lukic durchlesen. Es sind unfassbare Verbrechen, zu denen Menschen an Menschen fähig waren, mit denen sie jahrelang als Nachbarn im gleichen Heimatort gelebt haben. Was Menschen anderen Menschen antun können, wenn sie nur tief genug hassen, davon berichten diese Fälle.
Mit keinem dieser Details beschäftigen wir uns. Nichts davon ist uns zur Mahnung präsent. Wir teilen an jedem 11.07. nur eifrig die Bilder von Grabsteinen, gehäkelten Blüten und martialische Gedichte. Aber von der zerstörerischen Wirkung des nationalistisch, des ethnisch oder religiös begründeten Hasses wenden wir uns beständig ab. Obwohl wir wahrnehmen können, dass dieser gleiche Hass manchmal auch in unserer Community, ja in unserer gesamten Gesellschaft kleine Funken schlägt.
Kann es sein, dass uns manchmal eine Ahnung von der eigenen Anfälligkeit für Ausgrenzung und Hass überkommt und diese Ahnung – vielleicht nur unterschwellig, vielleicht nicht einmal bewusst wahrgenommen – einen Riss in die Firnis unserer vermeintlich stets edlen Gesinnung schlägt? Kann das der Grund sein, warum wir uns mit dem Teilen von Erinnerungsbildchen begnügen? „Never forget!“. Gefällt mir. Und morgen gefällt mir was anderes.
Ist der türkischsprachigen Community bekannt, dass Mehmet Güney, türkischer Jurist und Diplomat, von 2001 bis 2015 Richter an der Berufungskammer des ICTY war? Hat sich irgendwer dafür interessiert, was seine Erlebnisse, seine Eindrücke und Erfahrungen gewesen sind?
Wolfgang Schomburg ist ein deutscher Jurist und war von 2001 bis 2008 der erste deutsche Richter am ICTY. Christoph Flügge ist ein deutscher Jurist und seit 2008 ständiger Richter am ICTY. War irgendjemand neugierig, zu erfahren, was diese Menschen über die Ereignisse im Bosnienkrieg, über ihre Eindrücke von Zeugen und Angeklagten zu berichten haben?
Oder noch näher an unserem Alltag: Sasa Stanisic ist ein deutschsprachiger Schriftsteller. Er ist als Sohn einer Bosniakin und eines Serben in Visegrad geboren worden. Als Kind floh er vor dem Bosnienkrieg zusammen mit seiner Familie nach Deutschland. Er hat seine Erlebnisse literarisch verarbeitet. Er lebt in Hamburg. Kennt irgendjemand seine Werke? Hatte irgendwer aus unserer Community Interesse an einem Austausch, an einer Veranstaltung mit solchen Menschen, die mit ihrer Biografie und den daraus resultierenden Prägungen einen Zugang zu dem bereithalten, was wir niemals vergessen wollen?
Wie würde „Never forget!“ eigentlich funktionieren, wenn es keine Facebook-Bildchen gäbe?