„Statt uns damit zu beschäftigen, wie sich andere verhalten oder gar wie fromm sie sind, müssen wir uns damit beschäftigen, inwieweit wir selbst gute Menschen, gute Gläubige sind.“
„Es ist zutreffend, dass wir als Gesellschaft auseinanderdriften, dass wir Zorn für einander empfinden. Für den Anspruch einer sozialen Einheit und Gemeinschaft sind das Alarmsignale. Die Gesellschaften im Nahen Osten sind Pulverfässer. Den Zorn, den sie für einander empfinden, drücken sie durch konfessionelle Abgrenzung, durch religiöse Empfindlichkeit oder durch die Ausgrenzung des „Anderen“ aus; über solche Unterschiede werden Identitäten gestaltet. Ein Teil der islamischen Welt, zum Beispiel der schiitische Teil, lädt sich seit 13 Jahrhunderten mit dieser Art von Zorn auf. Dieser Zorn fügt dann aber auch ihnen selbst Schaden zu. Und auch im sunnitischen Teil erleben wir ständig die Ausgrenzung „Anderer“ und den Zorn. Wenn das so weitergeht, wird dieses Feuer auch unser Heim erfassen und uns zerreißen.“
Auf die Frage, warum der IS Anschläge verübt und Menschen ermordet, obwohl der Koran doch die Schönheit, die Vergebung, den Anstand und die Aufrichtigkeit vorschreibt:
„Wir haben uns vom Koran entfernt. Wir sind taub geworden für die Ratschläge, die uns der Koran erteilt und wir sind dabei, unsere eigenen Verfehlungen, durch eigene Fatwas zu kaschieren.“
„Denn bei der Schaffung religiösen Wissens haben wir keine Methodik mehr. Wir sind in Bezug auf Fatwas immer mehr von einer Logik der freien Marktwirtschaft umgeben, in der Fatwas nach den Kriterien der Kundenzufriedenheit erteilt werden. Islamische Gelehrte haben keine Bindungen mehr zu den Realitäten, mit denen sie leben und zu der Welt, in der sie leben. Wir können nicht annehmen, den Menschen Religion zu vermitteln, indem wir nur das Wissen wiedergeben, das in Büchern des 3., des 5. Jahrhunderts niedergeschrieben ist. Es gibt über 50 islamische Länder und alle sind völlig zertrümmert. Wir sagen, der Islam ist die Religion des Friedens, aber niemanden können wir davon überzeugen, weil in vielen Teilen der Welt es Muslime sind, die einander an den Hals springen. Ihnen gefällt nicht mehr, wie andere ihr Muslim-Sein ausleben und sie sind damit beschäftigt, durch Anschuldigungen und Ausgrenzungen ständig einander aus dem Fenster zu stoßen. […] Sie entscheiden sich für die Gewalt und suchen sich dann aus dem Koran oder aus der Tradition Passagen heraus, die zu dieser Gewaltbereitschaft passen. Es ist diese Art des Denkens, die zur Ermordung des vierten Nachfolgers des Propheten, Ali, geführt hat, weil man selbst seine Art der muslimischen Religiosität nicht mehr tolerieren wollte. Hier haben die religiösen Gelehrten eine große Aufgabe vor sich.“
Auf die Frage, ob sich diese Zustände denn bessern, wenn die Religion besser erklärt und vermittelt wird:
„Natürlich nicht. In einer Gesellschaft, in der alles von den Füßen auf den Kopf gestellt ist, in der es keine Chancengleichheit gibt, in der durch Okkupationen die Hoffnung versiegt, in der es keine politische Teilhabe gibt, kann man die Menschen nur durch die Vermittlung der Religion nicht glücklich machen. Die islamische Welt braucht dringendst eine gedankliche Klarheit und einen Fortschritt in den fundamentalen Bereichen des Wissens, der Arbeit, der Produktivität, der Sauberkeit, des sozialen Friedens, der sozialen Gerechtigkeit, der Menschenrechte, der Frauenrechte, der Umweltfragen, der persönlichen Freiheiten, der Minderheitenrechte. Der Gottesdienst im Islam besteht nicht nur im Verrichten des Ritualgebets. Jedes Verhalten, dass der Menschheit, der Menschlichkeit, der konstruktiven Gestaltung der Welt, der Friedfertigkeit, dem Frieden dient, ist ein Gottesdienst.“
„Der Islam verheißt uns kein automatisches Glück, nur weil wir bestimmte Formen des Gottesdienstes verrichten. Er sagt vielmehr: „Wenn Du das erreichen willst, wenn Du zum Guten gelangen willst, musst Du Verantwortung übernehmen!“ Eine positive Entwicklung ist nur möglich, wenn man sich dafür einsetzt, produktiv ist, sich für Rechte, für die Gerechtigkeit, den Fortschritt einer Gesellschaft, die Bewahrung der Freiheit einsetzt. Der Islam ist als Religion offenbart worden, um im Diesseits gelebt zu werden, nicht im Jenseits. Das heißt, er vermittelt nicht die Botschaft, die Welt zu verlassen, hier sich für nichts einzusetzen, um im Jenseits etwas zu erreichen. Den Muslimen ist das Gleichgewicht zwischen Diesseits und Jenseits abhandengekommen.“
„Die Vorstellung vom Islam ist im gegenwärtigen Jahrhundert leider zu einem Stützpfeiler des Kapitalismus und des freien Marktes mutiert. Die Hauptquellen des Islam vermitteln eigentlich die Botschaft von sozialer Gerechtigkeit und Rechtmäßigkeit. Aber im islamischen Denken ist diese Idee der sozialen Gerechtigkeit, das Ideal der Solidarität mit Armen und Entrechteten verkümmert und zunehmend erstarkt eine religiöse Haltung, die sich an die Seite des Starken, des Reichen stellt. Ich hätte mir von Herzen gewünscht, dass die heutigen Gelehrten einer universellen göttlichen Religion, wie es der Islam ist, sich angesichts einer nur noch gleichgültig hingenommenen weltweiten Ungleichheit, Ausbeutung, Ungerechtigkeit, angesichts der Willkür des Stärkeren sich als Stimme des Rechts diesen Zuständen widersetzt hätten. Ich hätte mir gewünscht, dass die islamischen Gelehrten sich auflehnen gegen jede Art der Ungleichbehandlung, dass sie uns daran erinnern, dass wir alle als Kinder Adams Geschwister sind, dass wir als Menschen einander gleichgestellt und wertvoll sind, dass es jedes Menschen Grundrecht ist, ein menschenwürdiges Leben zu führen. Aber so war es nie und so ist es auch jetzt nicht. Wenn wir einen kritischen Blick auf diese Ereignisse werfen, können wir das ganz klar erkennen.“
„An diesen Missständen tragen viele Schuld, aber eben auch die islamischen Gelehrten. Unsere gegenwärtige islamische Gelehrsamkeit produziert im Hinblick auf die Erfordernisse des Kapitals und der wirtschaftlichen Beziehungen die jeweils passenden religiösen Bewertungen und Urteile. Die islamischen Gelehrten sind sehr kreativ und geschickt, Probleme und Hindernisse zu überwinden, die sich im ökonomischen Bereich stellen. Aber bei grundlegenderen Fragen wie den Menschenrechten, den Frauenrechten, den Minderheitenrechten und den persönlichen Freiheiten, der Geschlechterdiskriminierung, der sozialen Gerechtigkeit sind sie zurückhaltend und nicht willens, sie auf die Tagesordnung zu bringen. Aber mit einer Kultur oder einer Rhetorik des Almosens, des Gnadenbrotes, können wir in diesen Fragen nichts erreichen.“
„Durch blinden Fanatismus verdampfen unsere moralischen Standards. Unterstellungen, Denunziationen gehen mit dieser Entwicklung einher. Einige Muslime beginnen ihre Worte mit Aussagen über „Religion“, „Moral“, „Liebe“, aber zwei Zeilen weiter wird ihre Zunge zu einem Schwert und willkürlich werden Menschen als „Abtrünnige“, als „Modernisten“, als Anhänger dieser oder jener Gruppen etikettiert.“
„Die Religion wird mittlerweile als etwas Melancholisches und zu Tränen Rührendes präsentiert und wahrgenommen. […] Das Leben des Propheten Mohammed wird in einer Art und Weise dargestellt, dass es völlig unmöglich wird, sich ein solches Leben zum Vorbild zu nehmen und nach diesem Vorbild zu leben. Jene, die heutzutage den Islam als etwas Geheimnisvolles präsentieren, jene, die haltlose Heiligkeiten erschaffen, sind nur darauf aus, für die Ware, zu der sie die Religion gemacht haben, passende Käufer zu finden. Und das beschämt mich. […] Denn wir haben diese Menschen mit einem solchen Religionsverständnis gefüttert, wir haben ihnen gesagt: „Die Religion besteht aus Schmerz, Tränen, Melancholie und Anekdoten.“ Wir vergeuden unsere Zeit entweder mit der Sehnsucht nach der Vergangenheit oder im Warten auf einen Erlöser. Wir haben das Individuum und das individuelle Bewusstsein, die individuelle Verantwortung abgeschafft. Und alles, was uns an Unheil wiederfahren ist, haben wir mit dem „Zorn Gottes“ oder mit der „Schlechtigkeit des Anderen“ erklärt. Indem wir gesagt haben: „Sieh Du nur zu, dass Du betest, sieh zu, dass Du die wirksamsten und geheimnisvollsten Gebete zu den wirksamsten und geheimnisvollsten Zeiten sprichst. Dann wirst Du von all diesem Unheil befreit.“, haben wir das Verständnis von einer Art religiöser Lotterie gefördert. Und eine Bevölkerung, die eine solche religiöse Nahrung erhält, fängt an, nach religiösen Gelehrten zu fragen, die zu dieser Haltung passen. […] Wer ein solches Religionsverständnis fördert, weil breite Bevölkerungsgruppen eine solche Religion der Anekdoten und des Aberglaubens nachfragen, unterstützt lediglich die These, dass Religion doch nur Opium für das Volk sei.“
„Ich bin mir nicht sicher, auf welche Reaktionen ein solches Religionsverständnis bei unseren Kindern und Enkeln stoßen wird. Wir nähern uns langsam einem Scheideweg. Unsere Kinder und Enkel stellen infrage, sie sehen, sie wissen. Eine Religionsvermittlung, in der das Individuum nicht vorkommt, in der Grundwerte wie Frauenrechte, Menschenrechte, Umweltbewusstsein, Wissensmehrung, soziale Gerechtigkeit, Recht, Freiheit, Verstand sich nicht entwickeln, in der nur Platz ist für Melancholie, für Anekdoten, für Tränen, für die Ausgrenzung anderer, für Zorn; ein solches Religionsverständnis wird die Islamophobie direkt in unsere unmittelbare Nachbarschaft tragen. Und unsere Kinder, unsere Enkel werden uns gewichtige Fragen stellen.“
„Solange wir das Muslim-Sein bloß als Glauben, Beten, Fasten, Pilgerfahrt, also als die bloße Erfüllung bestimmter Rituale verstehen, wird dieser beschämende Zustand fortdauern. Gott sagt, „Über die Welt werden jene verfügen, die glauben und nützliche Werke verrichten.“ In den funkelnden Epochen des Islam haben wir unter der Verrichtung nützlicher Werke die Entwicklung der Wissenschaften, der Technologie, der Medizin und das Agieren zum Wohle der Menschen verstanden. In Bereichen der Astronomie, der Schifffahrt, der Kartografie, in den Naturwissenschaften waren Muslime führend. Das heißt, wer die Botschaft der Religion versteht, ist zu solchen Leistungen fähig. Aber unser Religionsverständnis ist seicht geworden. Wir haben die Religiosität in eine Enge eingeschlossen. Je vermeintlich religiöser Muslime der äußeren Form nach geworden sind, umso stärker hat die Säkularisierung ihres Religionsverständnisses zugenommen. Der Islam sagt nicht: „Breite deinen Gebetsteppich aus und verbringe dein Leben im rituellen Gottesdienst!“ Das Nachdenken, das Wissen, die nützlichen Taten, die Reinheit, die Solidarität mit dem, der im Recht ist und mit jenen, denen Unrecht getan wird, die Förderung des Guten und die Verhinderung des Schlechten, den Menschen um seines Menschseins willen zu lieben, das alles ist Gottesdienst.“
Das sind Auszüge aus einem aktuellen Interview mit Ali Bardakoğlu. Er war von 2003 bis 2010 Präsident des Amtes für religiöse Angelegenheiten (Diyanet) in der Türkei.
Diese kritische Selbstbetrachtung und die offene, schonungslose Analyse der zurückliegenden Versäumnisse, der gegenwärtigen Probleme und der zukünftigen Entwicklungen ist alternativlos. Ohne eine solche Haltung, ohne die Bereitschaft auch zu schmerzhaften Analysen, wird es keinen Fortschritt in der Lebenswirklichkeit der Muslime geben. Weder in Deutschland, noch weltweit. Diese Stimmen erheben sich aber viel zu selten.
Immer häufiger gewinnt man den Eindruck, muslimische Gelehrte hätten es sich lieber bequem gemacht in der Annahme, mit dem Empfang der islamischen Offenbarung, mit dem Bekenntnis zum Islam sei das Soll erfüllt. In einer solchen Haltung muss dann jede Niederlage, jeder Rückschlag, jede Unzufriedenheit das Werk böser Mächte, das Ergebnis feindlicher Taten sein.
Allein die Eigenschaft, Muslim zu sein, macht aber keine besseren Menschen aus uns. Mit dem Bekenntnis zum Islam beginnt unsere weltliche Prüfung erst. Und momentan sind wir weit davon entfernt, sie zu bestehen.
Anmerkung: Das Interview liegt im Original in türkischer Sprache vor. Bei der Übersetzung der Auszüge habe ich versucht, so eng wie möglich am Wortlaut zu bleiben, aber auch den Ton der Aussagen zu treffen. Verbesserungsvorschläge sind jederzeit willkommen.