Die Zukunft ist eine Salatschüssel

In einem Beitrag auf der Internetseite domradio.de mit dem Titel „In meinem Dienstzimmer hängt ein Kreuz“ wird über eine Fachtagung berichtet, zu der das Bundesinnenministerium anlässlich des Reformationsjubiläums Experten verschiedener Disziplinen nach Berlin einlud. Der Hausherr, Bundesinnenminister Thomas de Maizière, wird im domradio-Beitrag mit Auszügen aus seiner Eröffnungsrede zitiert. Im Beitrag heißt es: „In der Debatte um mehr Rechte für muslimische Religionsgemeinschaften in Deutschland kann […] das Ziel nicht Gleichheit sein. Freiheit bedeute, vorhandene Unterschiede zuzulassen. ‚Ich glaube nicht, dass echte Freiheit dann herrscht, wenn vollkommene Gleichheit hergestellt wird.‘, sagte der Minister“.

Die stellvertretende Vorsitzende des ZMD, Nurhan Soykan, hatte an der Fachtagung teilgenommen und formulierte in den Sozialen Medien unter Hinweis auf die domradio-Berichterstattung vorsichtige Kritik an den Worten des Ministers: „Ich habe an der Tagung teilgenommen und hatte auch den Eindruck, dass wir für den Islam Sondergesetze und Sonderverträge vorgesetzt bekommen werden.“, so Soykan.

Noch vor zwei Jahren war es der ZMD-Vorsitzende persönlich, der ein Islamgesetz nach österreichischem Vorbild für Muslime in Deutschland befürwortete. Man muss ihm zugestehen, dass er diese Position mittlerweile aufgegeben zu haben scheint und nur noch „die Integration des Islam in das deutsche Staatswesen“ als Ziel formuliert. Allerdings ist auch diese Auffassung problematisch.

Unabhängig von dieser Entwicklung ist die ZMD-Kritik an den Worten des Innenministers falsch, beruht sie doch auf irrigen Annahmen und Deutungen, denen auch führende CDU-Politiker – im Gegensatz zu ihrem Parteikollegen de Maiziére – erliegen.

Im deutlichen Widerspruch zur ZMD-Kritik muss man vielmehr die Worte des Innenministers unterstreichen und ihm uneingeschränkt Recht geben: Freiheit darf in unserer Rechtsordnung niemals als Gegenleistung für vollkommene Gleichheit verstanden werden.

Es sind die CDU-Parteikollegen des Innenministers, Jens Spahn und Julia Klöckner, die in Verkennung der elementarsten Grundsätze unserer Rechtsordnung den islamischen Religionsgemeinschaften Gleichheit in Sprache und zentralistischer Organisationsstruktur als Bedingung von Freiheitsrechten diktieren und dieses Diktat in Gestalt eines Sondergesetzes festschreiben wollen.

Solche Positionen finden Anklang in weiten Teilen unserer Gesellschaft, die dem österreichischen Vorbild folgend dem Staat die Kompetenz beimessen, zwischen „guten“ und „schlechten“ Religionen unterscheiden und entsprechend einhegend auf religiöse Minderheiten einwirken zu können.

Vielfach liegt dieser Auffassung eine Vorstellung zu Grunde, die immer noch davon ausgeht, der Islam sei etwas derart Fremdes, dass ohne gesetzliche Einhegung und Anpassung ihrer Glaubensangehörigen oder gar der Religion selbst, kein friedliches gesellschaftliches Zusammenleben möglich sei. Deshalb ist auch das ZMD-Narrativ von der „Integration des Islam in das deutsche Staatswesen“ eine den Freiheitsrechten abträgliche Erzählung, legt sie doch nahe, dass eine grundsätzliche Unvereinbarkeit oder zumindest ein Anpassungsbedarf bestünde.

Die Wirkmacht solcher Vorstellungen ist nicht allein Ausdruck aktueller gesellschaftlicher Debatten um einen „deutschen Islam“ oder den vermeintlichen Reformbedarf des Islam. Allen diesen Positionen im gesamten Spektrum der Islam-Debatte ist zu eigen, dass sie von der vermeintlichen Notwendigkeit einer religiösen oder kulturellen Homogenität ausgehen. Und sei es auch nur, indem sie historische Phänomene der „Reformation“ und der „Aufklärung“ als notwendige Erfahrungsprozesse definieren, ohne deren Absolvierung „dem Islam“ und damit allen seinen Glaubensangehörigen der Weg in die gesellschaftliche Mitte versperrt sei.

Eine solche Wahrnehmung ist eben nicht nur eine aktuelle Reflexion. Sie schlägt ihre Wurzeln bis in die historischen Epochen der deutschen Säkularisierungsgeschichte. Gern – so auch in den sehr hochwertigen Impulsreferaten auf der eingangs erwähnten Fachtagung zum Staatskirchenrecht in Berlin – wird im Augsburger Religionsfrieden von 1555 der Ursprung erster individueller religiöser Freiheitsrechte erkannt.

Im ius reformandi wurde der Grundsatz der obrigkeitlichen Bestimmung der Religion festgeschrieben. Die Landesfürsten innerhalb des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation waren frei darin, zu bestimmen, welcher Konfession sie folgen. Diese Freiheit hatten ihre Untertanen aber nicht. Die religiöse Präferenz der Fürsten war nach dem Grundsatz „cuius regio, eius religio“ bindend für ihre jeweiligen Untertanen. Damit wurde innerhalb der Fürstentümer eine höchstmögliche religiöse Homogenisierung der Bevölkerung angestrebt. Die Parität zwischen den Konfessionen wurde auf die Reichsebene, in die jeweiligen Reichsstände verlagert.

Der aktuelle Wunsch nach religiöser Homogenität, nach einer weitest möglichen Gleichheit innerhalb der Bevölkerung – eben auch was Sprache und Organisationsform der Religionsgemeinschaften anbelangt – scheint immer noch von dieser historischen Erfahrung geprägt zu sein.

Deutlicher wird dieses Phänomen, je genauer die historischen Ereignisse fokussiert werden. Mehr noch als im ius reformandi, wird im ius emigrandi das erste zarte Pflänzchen der individuellen Religionsfreiheit erkannt: § 24 des Reichsabschieds zum Augsburger Religionsfrieden gewährte den Untertanen der jeweiligen Fürstentümer das Recht, das Territorium ihres Landesfürsten zu verlassen und in ein anderes auszuwandern, wenn sie der Religion ihrer Obrigkeit nicht folgen wollten. Die Freiheit, welche die Territorialherren gegenüber dem Reich und dem Kaiser durchgesetzt hatten, war für die Untertanen nur zum Preis der Auswanderung und des vorherigen Freikaufs aus Leibeigenschaft zu haben.

Diese Vorstellung, dass individuelle Religionsfreiheit nur nach Ablösung herrschaftlicher Verbindlichkeiten möglich sein soll, dass Religionsfreiheit also nicht ein Grundrecht, sondern ein erst nach Gegenleistung und Pflichterfüllung gegenüber dem Staat zu beanspruchendes Recht sei, hat sich bis in die aktuellen Forderungen nach einem Islamgesetz erhalten.

Der Staat soll – wenn es nach Spahn und Klöckner geht – seinen religiösen Minderheiten die Pflicht zu einer staatlich bestimmten religiösen Sprache, zu einer staatlich bestimmten Organisationsform, zu einer staatlich bestimmten Registrierung ihrer Glaubensstätten auferlegen dürfen. Erst zum Preis dieser Pflichterfüllung soll der Staat seinen religiösen Minderheiten das Recht auf freie Religionsausübung gewähren. Das Grundgesetz regelt aber kein Synallagma zwischen Staat und Bürger, also kein Gegenseitigkeitsverhältnis, in welchem der Bürger dem schuldrechtlichen Prinzip des „do ut des“ folgend dem Staat etwas gibt, um im Gegenzug etwas vom Staat zu erhalten. Das ist kein Grundrechtsverständnis, das den Herausforderungen einer pluralistischen Gesellschaft gerecht wird. Das ist ein Rückfall in ein Rechtsverständnis des 16. Jahrhunderts.

Die Politik, will sie die richtigen Antworten auf die Dynamik einer kulturell und religiös vielfältigen Gesellschaft finden, muss sich von dem Gedanken der landesherrschaftlich eingeforderten Homogenität verabschieden. Das „deutsche Wir“ der Zukunft hat keine homogene Kultur und keine homogene Religion. Die Politik sollte nicht mal darauf hinwirken, eine Gesellschaft des „melting pot“ zu postulieren, in der eine „Leitkultur“ und die Erfahrungen des staatlichen Umgangs mit zwei Großkirchen den religiösen und soziokulturellen Grundgeschmack vorgeben, in dem sich andere Zutaten aufzulösen haben.

Vielmehr müssen wir erkennen, dass unsere gesellschaftliche Wirklichkeit immer mehr einer „salad bowl“ ähnelt, in welcher unterschiedliche Subkulturen und Religionen koexistieren und ihre Eigentümlichkeiten, ihre Konturen und Besonderheiten bewahren. In einer solchen Gesellschaft müssen Mehrfachidentitäten keine Loyalitätskonflikte auslösen, müssen Parallelgesellschaften keine Bedrohung darstellen. In ihr können alle Bürger ihren besonderen Beitrag für die Gesamtgesellschaft leisten und sich als Nation der Vielen verstehen.

Was aber mag das verbindende Element dieser Vielfalt sein?

In der aktuellen Debatte wird deutlich, dass es keine religiöse oder kulturelle Bindung innerhalb dieser Gesellschaft gibt. Es sind ja gerade die Befürworter eines Islamgesetzes, die mit Anspruch auf Ernsthaftigkeit Muslimen damit ein „Integrationsangebot“ machen wollen. Das bedeutet aber nichts anderes, als dass in unserer Gesellschaft – unabhängig von ethnischer Abstammung, von Lebensleistung und kultureller Verwurzelung in Deutschland – allein das islamische Glaubensbekenntnis ausreicht, um gedanklich und sprachlich ausgebürgert und aus kultureller Gemeinschaft herausdefiniert zu werden. Weshalb sonst meint Jens Spahn, deutschen Muslimen ein Integrationsangebot machen zu müssen? Sicher doch nur deswegen, weil es in den Köpfen – bis in oberste politische Sphären hinein – immer noch einen Antagonismus zwischen „Deutscher“ und „Muslim“ gibt.

Unter diesen Bedingungen kann die verbindende Klammer in unserer Gesellschaft nur das Recht sein. Das Freiheitsversprechen unseres Grundgesetzes ist das Fundament unserer Rechtsordnung, in der sich jeder unter dem Schutz des Staates frei entfalten kann. Diese Unterscheidung ist wichtig: Der Staat gewährt seinen Bürgern nicht (Religions-)Freiheit. Er gewährt der (Religions-)Freiheit den Schutz des Staates – und zwar allen Bürgern in gleicher Weise. Die Gleichheit vor dem Recht und der gleiche Schutz unseres Grundgesetzes für die Freiheit aller seiner Bürger – so Ungleich sie im Glauben, Denken und Handeln auch sein mögen – ist das stärkste, einende Versprechen unseres Staates.

Deshalb ist dem Innenminister unbedingt zuzustimmen, wenn er unterstreicht, dass vollkommene Gleichheit der Bürger nicht die Bedingung für ihre Freiheit sein kann. Denn der Schutz der Freiheit durch das Recht darf niemals die Gleichheit voraussetzen.

Deshalb müssen wir uns entschieden und mit deutlichem Widerspruch all den Spahns und Klöckners in den Weg stellen, die mit Sondergesetzen den Bürgern und den zukünftigen Bürgern dieses Landes den gleichen Schutz des Rechts absprechen wollen, indem sie Grundrechten ein Preisschild umhängen, mit dem die Freiheit nicht mehr das Versprechen des Staates an alle seine Bürger bleibt, sondern zum Faustpfand staatlicher Macht verkommt. Eine solche Politik weicht die einende Kraft unserer Rechtsordnung auf und treibt unsere Gesellschaft auseinander.

Im „Lied der Deutschen“ heißt es in der allein gesungenen dritten Strophe – vielleicht nicht ohne schicksalhaften Grund – „Einigkeit und Recht und Freiheit“. Einigkeit, nicht Gleichheit. Danach lässt sich gut streben, brüderlich und mit Herz und Hand, egal welche Religion man hat. Und egal, ob im Dienstzimmer ein Kreuz hängt oder ein Koran steht.