Es ist sonst nicht meine Art, mich zu wiederholen. Aber in den letzten Tagen der allseits gepflegten deutsch-türkischen Irrationalität scheint es angebracht, an einen früheren Blogbeitrag zu erinnern. Am 22.11.2016 schrieb ich in Anlehnung an einen Text Tucholskys:
„Ich bin in Lübeck geboren und aufgewachsen. An der Ostsee. Vielleicht berührt mich dieser Text Kurt Tucholskys deshalb auf eine ganz besondere Weise. Ich habe noch keinen Text gefunden, der besser und aktueller beschreibt, warum und wie ich mich – als Mensch, türkischer Herkunft und islamischen Glaubens – auch deutsch fühle. Und er lässt vielleicht all jene, auch die, „auf deren Namen das Land grundbuchlich eingetragen ist“ ansatzweise erahnen, welch immensen Reichtum ich mein Eigen nenne, mich mit all diesen Empfindungen, all diesen Gedanken und all diesen auf unterschiedliche Art und Weise angeschlagenen Saiten meines Inneren nicht nur mit einem, sondern mit zwei Ländern verbunden zu fühlen.
Es ist auch die Türkei, zu der ich nicht „Sie“ sagen kann. Wo mein Herz auch spricht. Und zwar nicht einfach in einer anderen Sprache, sondern in der meiner Mutter. Auch dort höre ich ein heimatliches Herz klopfen. Aus tausend Gründen liebe ich diese türkische Heimat. Mit einem Gefühl, jenseits aller Politik.
Es sind Erinnerungen und Erlebnisse, die sich über die Jahre zu einem Teil meiner Persönlichkeit verfestigt haben. Personen, Stimmen, Lieder, Gerüche, Klänge, Eindrücke, die ganz fest mit dem Herzen und den Gedanken verwoben sind. Meine Großmutter beim Gebet. Die Säure unreifer Trauben, die an jahrzehntealten Reben hängen und in deren Schatten wir, die gesamte Familie, drei Generationen, zum Essen zusammenkommen. Der Duft von Jasmin-Sträuchern. Die rauen, zerfurchten Hände meines Großonkels, „Parlak“ Mustafa, geboren 1333, Schuhmachermeister. Der Klang des Ezan am frühen Morgen, im Wechsel mit dem Gurren der Tauben. Der Duft frischen Brotes aus dem Steinofen. Streunende Katzen, die über einen Pinienbaum in den Innenhof klettern, wenn der Tisch gedeckt wird. Der Geschmack von „Çamlıca“. Das Salz auf den Lippen am Strand der Ilıca Bucht. Der Rhythmus des Zeybek, die stolze Einsamkeit seines Tänzers.
„İzmir‘in kavakları, dökülür yaprakları …“
Das Klappern des Pferdewagens, auf dessen Ladefläche ich als kleiner Junge ein Schaf festhalte. Und bei dessen Schlachtung zum Opferfest ich zwei Tage später helfe. Nie habe ich mit größerer Demut und Dankbarkeit Fleisch gegessen. Mein Großvater, der mir geduldig beibringt, Domino zu spielen. Mit Steinen, die der Schwager meiner Großmutter aus dem Korea-Krieg mitgebracht hat und die heute bei mir im Regal stehen. Das Horn der Bosporus-Fähren.
„İstanbul’u dinliyorum, gözlerim kapalı …“
Unzählige Erinnerungen, das Sich-zu-Hause-Fühlen in zwei Sprachen, in zwei Landschaften, manchmal sehr ähnlich, dann wieder grundverschieden. Zwei Heimatlieben, frei von Eifersucht, ohne den Vorwurf der Untreue.
Es ist ein unfassbares Geschenk, in zwei Ländern, für zwei Länder, mit und in zwei Sprachen so empfinden zu können.
Unverständlich, all die „Diener nur eines Herren“, all die „entweder, oder“ Loyalitätsforderungen, all die „Leitkultur“-Deutschen, die glauben, „über allem“ zu stehen. Meine Erfahrungen – gerade in dieser deutsch-türkischen Vielfalt – sind aber so reich, so übervoll an kulturellen Schätzen, dass eine Hierarchisierung doch nur eine „Leidkultur“ hervorbrächte.
Unverständlich auch, all die leichtfertigen Fahnenschwenker, all die Symbolpatrioten, all die „wiedergeborenen Türken“. Bis gestern nicht in der Lage, zwei Sätze akzentfrei Türkisch zu sprechen, heute im Poltern und Pöbeln versunken, ohne Vorstellung von der lyrischen Pracht der türkischen Sprache, mit einem historischen Bewusstsein, das sich ausschließlich aus fiktionalen Fernsehsendungen speist. Die bis zu ihrem Erweckungserlebnis gänzlich unbefangen, heute das Religiöse mit dem Nationalen so amalgamiert haben, dass es keine aufrechteren Verteidiger ihres unbedingt einzigen Heimatlandes und ihres wahren Glaubens geben kann, als sie, die überzeugt sind, „über allem“ zu stehen. Eine Existenz, die sich aber permanent in Ort und Zeit als entfremdet begreift, kann doch nichts hervorbringen, das andere von der Glaubwürdigkeit des Eigenen überzeugt.
Es ist Lessing, der in seinem Werk „Nathan der Weise“ Rachel fragen lässt: „Und wie weiß man denn, für welchen Erdkloß man geboren, wenn man’s für den nicht ist, auf welchem man geboren?“
Wenn wir als Muslime das Hineingeworfen-Sein in diese Welt nicht bloß als Zufall betrachten – und das können wir nicht, wenn wir unseren Glauben ernst nehmen – müssen wir, hier in Deutschland, erkennen und begreifen: „Ein Teil von ihm sind wir.“ Und dieser Teil ist gerade auch deshalb so reich und fruchtbar und wertvoll, weil er ganz besondere Schönheiten mitbringt.
Wer sich dieser Schönheiten bewusst ist, sie kennt und bewahrt, kann sich – „unerschütterlich, ohne Fahne, ohne Leierkasten, ohne Sentimentalität und ohne gezücktes Schwert“ – an dem Reichtum erfreuen, zwei Heimaten zu lieben.“
Und was ist der aktuelle deutsch-türkische Realzustand? Überhebliche Geringschätzung auf der einen, bornierte Feindseligkeit auf der anderen Seite. Beides vergiftet derzeit zunehmend unser Zusammenleben. Und beides ignoriert, dass Deutschland und die Türkei zwar keine gemeinsame Grenze, aber mehr als 3 Millionen gemeinsame Menschen haben.
Deutschland verlangt von diesen Menschen eine ausschließliche, exklusive, exkludierende Zugehörigkeit, ein Sich-Loslösen von der Türkei, ohne je auch nur ansatzweise ein offensives, ein appellatives Angebot einer emotionalen Beheimatung angeboten zu haben – und wundert sich, warum die Menschen sich zunehmend in einer konstruierten geistig-ausländischen Enklave einrichten.
Bei aller Kritik an den politischen Zuständen in der Türkei: Man wird den Eindruck nicht los, dass in Vehemenz und Ton der Kommentare mitunter eine kulturhierarchische Voreingenommenheit mitschwingt. Dabei ist nicht wirklich klar, ob hier nicht auch stellvertretend Spannungen abgebaut werden, die aus den gesellschaftlichen Teilhabeforderungen und Ressourcenkämpfen einer vom Rand in die Mitte der Gesellschaft drängenden türkischstämmigen Bevölkerung in Deutschland entstehen. Ob also die Reizfigur „Erdoğan“ nicht auch als Platzhalter für „den Türken“ in Deutschland steht. Gerade dieses von beiden Seiten bediente Identifikationspotential würde die emotionale Betroffenheit vieler türkischstämmiger Menschen in Deutschland erklären.
Die Türkei wiederum verlangt eine realitätsverleugnende, anachronistische, ebenso exkludierende Zugehörigkeit, eine Nibelungentreue, ohne auch nur ansatzweise begriffen zu haben, in welcher Lebenswirklichkeit sich die türkischstämmigen Menschen in Deutschland befinden, welche Verbundenheit sich mit dieser neuen Heimat entwickelt – und verortet jedes Zögern, jede Skepsis, jede Ambivalenz zu der eingeforderten uneingeschränkten Loyalität als Hochverrat.
Bei aller Kritik an struktureller Benachteiligung von Muslimen oder türkischstämmigen Menschen in Deutschland: Nazi-Vergleiche demonstrieren doch lediglich, wie wenig Wissen zu den Lebensumständen in Deutschland, zu historischen Zusammenhängen und zu dem Phänomen der Holocaust-Relativierung in der Türkei präsent ist. Die Erwartung, sich dauerhaft und vollständig in einer feindlichen Fremde zu begreifen, hat eine immense destruktive Wirkung auf die Bereitschaft zum positiven Engagement für die deutsche Gesellschaft. Aber in einer Gesellschaft, die einem nicht am Herzen liegt, für die man sich nicht einsetzen und einbringen will, kann man nicht erfolgreich sein. Und es ist nicht zuletzt dieses Scheitern, das wiederum die Wahrnehmung der Ausgrenzung fördert.
Die Tatsache, dass sich all jene, die sich in dieser Auseinandersetzung eindeutig für eine Seite des Konflikts entscheiden, in Extremen verlieren, die jeweils andere Seite dämonisieren und einer sachlichen und differenzierten Diskussion nicht mehr zugänglich sind, muss uns doch vor Augen führen, wie schädlich und emotional brüchig dieses Verhalten ist.
Gerade jene, die sich der Forderung verweigern, für eine Seite Partei zu ergreifen, die versuchen zu vermitteln und zu differenzieren, verkörpern den Weg der Mitte und des Ausgleichs. Es überrascht nicht, dass sie in einer Atmosphäre der unbedingten Eindeutigkeit von beiden Seiten am heftigsten angefeindet werden.
Für den Weg der Mitte muss es eine neue Form des Ausdrucks geben. Wir müssen zwischen all den schrillen Aussagen eine neue Sprache finden. Eine Sprache, die Brücken baut, statt Mauern zu errichten. Wir brauchen Worte der Versöhnung, Worte der Vermittlung.
Wir brauchen Worte der Schönheit.