Das Bundesverfassungsgericht hat mit der aktuellen Entscheidung (Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 18. Oktober 2016 – 1 BvR 354/11 – Rn. (1-77)) seine vorherige Rechtsprechung zu der Frage der Zulässigkeit eines „islamischen Kopftuches“ im Schuldienst bekräftigt und nun auch für den Bereich der Kinderbetreuung in Kindertagesstätten konkretisiert.
Die DITIB wurde im Beschwerdeverfahren angehört und hat eine schriftliche Stellungnahme zu den entscheidungserheblichen Fragen abgegeben. Um etwaiger Entrüstung vorzubeugen: Nein, das ist keine Islamisierung des Bundesverfassungsgerichtes. Nein, vermeintlich verlängerte Arme ausländischer Staatsoberhäupter reichen nicht bis in deutsche Gerichtssäle. Es ist schlicht die geltende Rechtslage und eine durch § 27a Bundesverfassungsgerichtsgesetz vorgesehene Möglichkeit der Anhörung sachkundiger Dritter.
Es ist erfreulich, dass das Bundesverfassungsgericht bei einer solchen gewichtigen Fragestellung auch die Rechtsauffassung der größten islamischen Religionsgemeinschaft in Deutschland für relevant hält. Man kann nur hoffen, dass diese Sachlichkeit auch auf anderen Ebenen der Zusammenarbeit mit islamischen Religionsgemeinschaften und des mit ihnen geführten Dialoges wieder Einzug hält.
Ebenso erfreulich ist es, dass das Bundesverfassungsgericht mit seiner aktuellen Entscheidung den wesentlichen Ausführungen der DITIB-Stellungnahme gefolgt ist. Eine kurze Zusammenfassung findet sich bereits unter Randnummer 41 der Entscheidung.
Dort heißt es: „Die Entscheidung sei durch die Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts in der den Schulbereich betreffenden Entscheidung des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 138, 296), die auf den vorliegenden Fall übertragbar seien, weitestgehend vorgegeben. Eine lediglich abstrakte Gefährdung sei als Grundlage für einen prohibitiven Grundrechtseingriff danach auch im Kindergartenbereich nicht ausreichend.“
Auch die weiteren Würdigungen der DITIB werden in der Entscheidungsbegründung bestätigt. So führt das Bundesverfassungsgericht unter Randnummer 65 und 70 der Entscheidungsbegründung aus:
„Der staatliche Einrichtungsträger, der eine mit dem Tragen eines Kopftuchs verbundene religiöse Aussage einer einzelnen Erzieherin hinnimmt, macht diese Aussage nicht schon dadurch zu seiner eigenen und muss sie sich auch nicht als von ihm beabsichtigt zurechnen lassen. […]
Ein „islamisches Kopftuch“ ist in Deutschland nicht unüblich, sondern spiegelt sich im gesellschaftlichen Alltag vielfach wieder. Die bloß visuelle Wahrnehmbarkeit ist in Kindertagesstätten als Folge individueller Grundrechtsausübung ebenso hinzunehmen, wie auch sonst grundsätzlich kein verfassungsrechtlicher Anspruch darauf besteht, von der Wahrnehmung anderer religiöser oder weltanschaulicher Bekenntnisse verschont zu bleiben.“
Die DITIB hatte in ihrer Stellungnahme bereits diese Fragen diskutiert:
„Entscheidend ist, dass das individuelle religiöse Bekenntnis von Staatsbeamten oder Angestellten bei öffentlichen Trägern gerade nicht dem Staat selbst zugerechnet werden kann. Der Staat selbst ist religiös und weltanschaulich neutral. In unserer Verfassungsordnung bedeutet dies nicht, dass der Staat sämtliche religiöse Bekundungen aus der staatlichen Sphäre verbannt, sondern dass er nicht wertend für diese oder jene religiöse oder weltanschauliche Position Partei ergreift.
Die schlichte Tatsache, dass Erzieherinnen durch ihr äußeres Erscheinungsbild erkennbar machen, für welches religiöse Bekenntnis sie sich individuell entschieden haben, ist keine Verletzung oder auch nur Gefährdung der staatlichen Neutralität. Dies wäre nur dann der Fall, wenn der Staat wertend in die Entscheidungsfreiheit der Erzieherinnen eingreifen würde, sie zu bestimmten religiösen Bekundungen verpflichten oder diese verbieten würde bzw. wenn er sein Verhalten im Hinblick auf verschiedene religiöse Bekenntnisse unterschiedlich ausgestalten würde. […]
Dies sind Eindrücke, die Kinder im vorschulischen Zeitraum ohnehin bei jeder gesellschaftlichen Interaktion ausgesetzt sind. Im Bereich der vorschulischen Erziehung tritt somit ein Phänomen auf, das exemplarisch für jedes gesellschaftliche Miteinander steht. Nämlich die Einsicht, dass in einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaftsordnung jeder Mensch, gleich welchen Geschlechts oder Glaubens, gleiche Rechte hat und am gesellschaftlichen Leben gleichberechtigt Teilhabe findet.
Diese erzieherische Botschaft wird nur dann deutlich, wenn Erziehungspersonal jedweden erkennbaren Glaubens als gleichberechtigt wahrgenommen wird. Diese Botschaft wird indes dort geschwächt, wo Erziehungspersonal im Unterrichtsraum bzw. in der Betreuungseinrichtung gegen seine religiöse Überzeugung vom Staat dazu gezwungen wird, das Kopftuch abzunehmen, außerhalb der Betreuungseinrichtung aber von den gleichen Kindern wiederum das Kopftuch tragend wahrgenommen wird.“
Im Ergebnis muss festgehalten werden, dass es die muslimischen Sachkundigen gewesen sind, die durch ihre Stellungnahmen im vorliegenden Verfahren ein zutreffendes Verständnis unserer Verfassungsordnung an den Tag gelegt haben. Muslime haben sich mit ihren Organisationen und Religionsgemeinschaften damit erneut als verfassungstreu und verfassungsfest erwiesen. Und das Bundesverfassungsgericht hat nicht nur über das Kopftuch geurteilt, sondern über unser pluralistisches Verständnis von Gesellschaft.
Ein Aspekt kommt in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts allerdings zu kurz, bzw. wird gar nicht diskutiert. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass die entsprechende Norm nicht Gegenstand des Verfahrens war, weil sie nicht als grundrechtsverletzend gerügt wurde. So führt das Bundesverfassungsgericht unter Randnummer 50 aus:
„Gegenstand der verfassungsrechtlichen Prüfung ist neben den unmittelbar angegriffenen Entscheidungen der Arbeitsgerichte allein die diesen zugrunde liegende Verbotsvorschrift des § 7 Abs. 6 Satz 1 KiTaG a.F. (jetzt: § 7 Abs. 8 Satz 1 KiTaG), soweit diese religiöse Bekundungen durch das äußere Erscheinungsbild betrifft. Die Prüfung ist hingegen nicht auf § 7 Abs. 6 Satz 3 KiTaG a.F. (jetzt: § 7 Abs. 8 Satz 3 KiTaG) zu erstrecken, weil die Beschwerdeführerin die Verletzung des Grundgesetzes durch diese Vorschrift mit der Verfassungsbeschwerde nicht rügt.“
In dem zitierten Satz 3 geht es um die Differenzierung zwischen „Darstellung“ und „Bekundung“ und die durch diese Differenzierung konstruierte Privilegierung christlicher Darstellungen. Der Wortlaut dieser Norm findet sich unter Randnummer 2 der Entscheidung:
„Die Wahrnehmung des Auftrags nach Artikel 12 Abs. 1 der Verfassung des Landes Baden-Württemberg zur Erziehung der Jugend im Geiste der christlichen Nächstenliebe und zur Brüderlichkeit aller Menschen und die entsprechende Darstellung derartiger Traditionen widerspricht nicht dem Verhaltensgebot nach Satz 1.“
Hierbei handelt es sich nicht nur um einen verfassungsrechtlich bedeutsamen Aspekt, sondern auch um die Folgen einer seit Jahren immer schriller geführten Islam-Debatte, mit der immer breiteren Teilen unserer Gesellschaft ein akkurates Verständnis unserer Verfassungs- und Gesellschaftsordnung abhandenkommt. Allein aus diesem Grund wäre eine verfassungsgerichtliche Besprechung dieser Privilegierungsnorm sinnvoll gewesen.
Dazu hatte die DITIB in ihrer Stellungnahme ausgeführt:
„Wenn die Instanzgerichte darauf hinweisen, dass im schulischen Bereich und in den vorschulischen Betreuungseinrichtungen eine vom Staat geschaffene Lage anzunehmen sei, in der ein Einzelner dem Einfluss und den Symbolen eines bestimmten Glaubens ausgesetzt wird und daraus die Schlussfolgerung zieht, islamische Symbole verbieten zu müssen, wird deutlich, dass hier keine verfassungsrechtliche Neutralität gewahrt wird, sondern die außerverfassungsmäßige Deutungshoheit darüber, was „richtig“ und was “falsch“ sein soll.
Denn umgekehrt wird nirgends problematisiert, dass es auch muslimischen Eltern zugemutet wird, ihre Kinder im Rahmen der hier angefochtenen Norm gegen ihr elterliches Erziehungsrecht einem Erziehungseinfluss auszusetzen, der christliche Symbole privilegiert.
Einen Schutzbedarf für muslimische Kinder, sie einem Erziehungspersonal nicht auszusetzen, das kein Kopftuch trägt, wird zu Recht nicht artikuliert. Ebenso gibt es für nichtmuslimische Kinder keinen Schutzbedarf, sie vor Erziehungspersonal zu schützen, das ein Kopftuch trägt. Beide Phänomene sind Spiegelbild unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit und unseres verfassungsrechtlichen Ideals einer pluralistischen, freiheitlich-demokratischen Gesellschaftsordnung.
Es dient dem Wohl der Kinder, sie frühzeitig an diese Verfassungsordnung heranzuführen und ihnen altersgerecht zu verdeutlichen, dass die Neutralität des Staates bedeutet, diese Vielfalt zu schützen und nicht, sie unter Privilegierung einer bestimmten Religion zu verbieten.“
Und an noch einem Punkt laufen die relevanten gesellschaftlichen Akteure Gefahr, im Ausgrenzungsversuch gegenüber dem Islam irreversible Schäden anzurichten. Ein Indiz dafür findet sich in Randnummer 17 der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, an welcher die die Beschwerdeführerin in ihren Grundrechten verletzende Entscheidungsbegründung des Bundesarbeitsgerichts zitiert wird:
„Sie behandle die verschiedenen Religionen nicht unterschiedlich, sondern erfasse jede Art religiöser Bekundung unabhängig von deren Inhalt. Christliche Glaubensbekundungen würden nicht bevorzugt. Dies gelte auch mit Blick auf § 7 Abs. 6 Satz 3 KiTaG a.F. (jetzt: § 7 Abs. 8 Satz 3 KiTaG). Gegenstand dieser Regelung sei allein die Darstellung, nicht die Bekundung christlicher Werte. Diese sei nicht gleichzusetzen mit der Bekundung eines individuellen Bekenntnisses. Außerdem bezeichne der Begriff des „Christlichen“ eine von Glaubensinhalten losgelöste, aus der Tradition der christlich-abendländischen Kultur hervorgegangene Wertewelt, die erkennbar auch dem Grundgesetz zugrunde liege und unabhängig von ihrer religiösen Fundierung Geltung beanspruche. Der Auftrag zur Weitergabe christlicher Bildungs- und Kulturwerte verpflichte und berechtige die Einrichtung deshalb nicht zur Vermittlung bestimmter Glaubensinhalte, sondern betreffe Werte, denen jeder Beschäftigte des öffentlichen Dienstes unabhängig von seiner religiösen Überzeugung vorbehaltlos zustimmen könne.“
Was sich hier – immerhin bereits auf der Ebene des Bundesarbeitsgerichts angekommen – manifestiert, ist die Bereitschaft, christliche Glaubensinhalte zu entkernen, nur um islamische Bekundungen, gar nur die Sichtbarkeit des islamischen Bekenntnisses in Gestalt des Kopftuches, verbieten zu können. Die Fachsprache des Rechts sollte uns hier nicht täuschen: Was hier verfassungsrechtlich als unzulässige „Privilegierung“ bezeichnet wird, ist faktisch nichts anderes als die Abwertung christlicher Symbole und Glaubensinhalte.
Wenn in Bayern nach dem sogenannten „Kruzifix-Urteil“ auf Ebene des Landesgesetzgebers und hier in dem vorliegenden Fall auf Ebene des Bundesarbeitsgerichts die Bereitschaft besteht, Symbole und Begriffe des „Christlichen“ von Glaubensinhalten loszulösen und das „Christliche“ nur noch in Kategorien der Kultur und der Tradition zu denken, ist das eine Selbstentwertung des „Christlichen“, das immer mehr von konkreten Glaubensvorstellungen entkernt wird und letztlich nur noch in der Sphäre einer religiösen Folklore Bestand haben kann.
Dann ist aber nicht die imaginierte „Islamisierung“ unserer Gesellschaft die eigentliche Gefahr, sondern ihre zunehmende „Entchristlichung“. Denn wo dem Christlichen immer mehr der Bezug zu Glaubensinhalten abgesprochen wird und das Christliche nur noch kulturelle Bedeutung entfaltet, relativiert sich auch das Wertegerüst, das sich aus dem Christlichen speist. Die Folge sind Montagsspaziergänger gegen die „Islamisierung des Abendlandes“ in einer praktisch restlos entkirchlichten Region, entfremdet von jeglichem Verständnis von Pluralität, Gleichberechtigung, Religionsfreiheit und letztlich auch zunehmend entfremdet von der Verantwortung für den Bestand einer demokratischen Gesellschaftsordnung.
Für eine muslimische Minderheit in Deutschland, die auf den Schutz unserer Verfassungsordnung vertraut, ja vertrauen muss, ist das eine unbehagliche Entwicklung.