Viel ist in den letzten Tagen erzählt, gepostet und getwittert worden. Viel ist berichtet und behauptet worden. Viel zu oft sind Mutmaßungen als Gewissheiten verkauft worden. Und manchmal sind auch Wünsche und Erwartungen zu vermeintlichen Tatsachen geronnen. Bis heute dauern die Bewertungen und Prognosen an. Und auch in den nächsten Tagen, Wochen und Monaten wird vielfach zu hören sein, wer es damals schon besser gewusst hat. Eine Geschichte ist aber noch nicht erzählt worden. Das soll hier an dieser Stelle nachgeholt werden, denn sie ist in mancherlei Hinsicht entlarvender als die vielen Expertisen der vergangenen Tage:
Es waren schlimme, grausame Stunden. Eine wütende Menge von etwa 900 Zivilisten hatte sich über mehrere Stunden vor den Toren der befestigten Garnison versammelt. Darin verschanzt sahen sich die Soldaten einer Situation ausgesetzt, die sie in diesem Ausmaß nicht erwartet hatten. Ein Garnisonskommandant und gut hundert Soldaten unter seinem Befehl, stark bewaffnet, militärisch ausgebildet, mit dem Vorteil der befestigten Stellung gegen 900 Zivilisten, welche die Soldaten immer wieder zur Aufgabe auffordern und verlangen, dass sie die Waffen niederlegen.
Chaos und Geschrei überall. Die Menge immer wütender, die Soldaten immer nervöser. Dann fallen Schüsse. Aus der Garnison wird in die Menge der Zivilisten geschossen. Fast 100 Menschen sterben im anhaltenden Kugelhagel. Aber die Demonstranten geben nicht auf. Die Toten und Verletzten werden weggebracht. Ihr Anblick lässt die Menge immer entschlossener aber auch immer aufgebrachter protestieren. Immer mehr Menschen schließen sich den Demonstranten an. Sie fordern die Wachmannschaften auf, sich endlich zu ergeben.
Der Kommandant muss sich entscheiden, entweder ein noch größeres Blutbad unter der Menge anzurichten oder seinen Soldaten zu befehlen, sich zu ergeben. Er entscheidet sich, aufzugeben. Die Menge stürmt in die Garnison, entwaffnet die Wachmannschaften und zerrt die Soldaten auf die Straße. Der Kommandant soll festgesetzt werden, dann aber überschlagen sich die Ereignisse. Unter dem Eindruck des verheerenden Schießbefehls wenige Stunden zuvor eskaliert die Gewalt. Ein Wachsoldat wird umgebracht. Der Kommandant wird geköpft, ein Beobachter dieser grausigen Vorgänge will ihm zu Hilfe kommen und wird von den tobenden Demonstranten ebenfalls enthauptet. Die Köpfe werden aufgespießt und unter dem tosenden Jubel der hysterischen Menge durch die Straßen getragen.
Hat sich dies am 15. Juli wirklich in Istanbul oder Ankara so zugetragen? Nein. Denn es ist die Beschreibung der Ereignisse vom 14. Juli 1789 in Paris. Der „Sturm auf die Bastille“ war eigentlich keine Erstürmung, denn der Kommandant kam der Forderung nach Übergabe der Bastille und der darin befindlichen Waffen und Munitionslager nach. Gleichwohl wird seitdem der 14. Juli in Frankreich bis heute als Nationalfeiertag begangen. Er wird als symbolischer Beginn der Französischen Revolution und als Gedenktag für alle militärischen Siege Frankreichs in der Vergangenheit betrachtet – auch die der Kolonialzeit. Es erklingt dabei jedes Jahr voller Stolz die französische Nationalhymne mit den martialischen Zeilen „Unreines Blut tränke unsere Furchen!“.
Ich musste an diese historischen Ereignisse und den daraus entwickelten Mythos denken, als ich in den letzten Tagen immer wieder las, der zivile Widerstand in der Türkei sei kein Akt der demokratischen Gesinnung, man dürfe den Aspekt der Demokratie mit Blick auf den zivilen Widerstand gegen einen Militärputsch nicht „überbetonen“.
In den Anfangsstunden der Ereignisse in der Türkei konnte man quasi live miterleben, aus welchem Holz die demokratische Gesinnung vieler Berichterstatter und auch teilweise sehr renommierter Politiker hierzulande geschnitzt ist. Eine zarte Freude über einen „demokratischeren Morgen“ für die Türkei konnte man da herauslesen. Es ist die Geisteshaltung der kulturhierarchischen Arroganz und Ignoranz, anderen Menschen die Existenz unter einer Militärdiktatur zuzumuten, wenn nur im Gegenzug bloß die Erfüllung eigener wirtschaftlicher Interessen und politischer Präferenzen gewährleistet ist. Diese Zukunft für die Menschen auch noch als Gewinn an Demokratie zu beschreiben, ist nicht mehr nur degoutant sondern schon obszön.
Gewiss gibt es Herausforderungen und Gefahren auch in der aktuellen Lage und in den zukünftigen politischen Entwicklungen in der Türkei. Diese werden bald in einem Folgetext auf diesem Blog ebenfalls thematisiert werden.
Aber ein Militärregime ist mehr als nur die spannende Schlagzeile über geringentwickelte Länder in der Sonntagszeitung. Ich war 7 Jahre alt, als der letzte Militärputsch in der Türkei stattfand. Jedes Jahr in den Sommerferien konnte ich immer bewusster die Entwicklungen in der Türkei miterleben. Jahre später, als die Menschen sich trauten, immer offener zu reden, hörte man die Geschichten über Foltergefängnisse und Verhörkeller und das Grauen, das sie dort erleiden mussten. Auch ganz banale, weniger existenzielle Nöte haben wir miterlebt. Nächtliche Stromausfälle, Versorgungsengpässe, die Freude der Verwandtschaft über mitgebrachte Geschenke, im Grunde banalste Dinge aber für viele Menschen schlicht Unerreichbares wie Feuchtigkeitscreme oder Instantkaffee.
Die Haltung weiter Teile der hiesigen Presselandschaft und Politik über die aktuellen Entwicklungen in der Türkei nehmen deshalb viele Menschen, die diese Erfahrungen gemacht haben oder die diese Erfahrungen aus den Erzählungen ihrer Eltern kennen, nicht mehr nur als kühle politische Analyse wahr.
Sie können nicht nachvollziehen, warum die historische Leistung der türkischen Bevölkerung, sich einem erneuten Militärputsch buchstäblich in den Weg gestellt zu haben, wenn überhaupt nur als Randnotiz Erwähnung findet, bevor es dann weitergeht mit einem „Ja, aber“ und der unterschwellig besorgten Andeutung, die jetzige Lage sei viel schlimmer als jede Militärdiktatur. Das ist mehr als bloß fehlende Empathie. Das hat was von verächtlicher Geringschätzung. Des einen heroischer Nationalfeiertag, des anderen „inszenierter“ Putschwiderstand.
Im Ergebnis eilen die deutsch-türkischen Beziehungen und damit auch die Stimmung innerhalb der türkischen Community hier in Deutschland so von einer Belastungsprobe zur nächsten. Auffällig ist, dass ein breites Spektrum der hiesigen Politik offenbar jede kommunikative Beziehung, jedes Verstehen-Wollen, jeden noch so kleinen Versuch der Empathie mit weiten Teilen der türkischen Community über Bord geworfen hat – stattdessen scheint diese vielmehr als politischer Ersatzgegner wahrgenommen zu werden.
Das ist gesellschaftspolitisch nichts anderes als das Eingeständnis, eine breite Bevölkerungsgruppe jahrelang vollständig ignoriert zu haben. Und irgendwie wirkt es so, als ob man auch zukünftig keinerlei Wert darauf legt, diese Bevölkerungsgruppe für die deutsche Politik zu gewinnen. Das ist eine parteiübergreifende einwanderungspolitische Bankrotterklärung. Und dafür ist niemand anderes verantwortlich, als unsere hiesigen Politiker. Das Traurige dabei ist, dass keiner das sonderlich zu bedauern scheint.
Fortsetzung folgt