deutschlandsolidarisch

Vier Tage nach dem Tag der Deutschen Einheit jährt sich das Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023. Diese beiden Tage geben Anlass, darüber nachzudenken, wie geeint oder wie geteilt unser Land tatsächlich ist. Ich hatte zu keinem Zeitpunkt meiner zurückliegenden über 50 Lebensjahre so sehr das Gefühl, dass die gesellschaftlichen Fliehkräfte, die uns auseinandertreiben, zukünftig die Bedingungen unseres Zusammenlebens dominieren werden.

Selbst nach Mölln und Solingen, selbst nach dem NSU-Komplex hatte ich das Gefühl, dass diese Erfahrungen schmerzende Wunden in eine Gesellschaft schlagen, die sich in der Auseinandersetzung mit der eigenen Vielfalt selbst verletzt, aber letztlich auch diese Wunden durch gemeinsame Anstrengungen, durch Widerstreit, Aufklärung, eine gemeinsame Erinnerung heilen lassen kann. Und dass wir aus den Narben unseres Zusammenlebens eine gemeinsame Hoffnung auf das zukünftige Gelingen dieses Zusammenlebens schöpfen können.

Schwindende Hoffnung

Aktuell bedarf es großer Anstrengungen, diese Hoffnung nicht vollends zu verlieren. Die gegenwärtigen Zustände seit dem 7. Oktober 2023 und der Umgang mit diesem Massaker und seinen Folgen lassen mich eine tiefe Spaltung unserer Gesellschaft wahrnehmen, in der sich die historischen Abgründe unseres Landes mit der höchsteigenen Zerrüttung und Verrohung meiner muslimischen Gemeinschaften verbinden. Diese Spaltung wird sich nicht aufhalten oder umkehren lassen, wenn wir uns nicht kritischer mit den Bedingungen unseres Zusammenlebens auseinandersetzen.

Dieser Text soll den Versuch einer aufrichtigen Beschreibung dieser Bedingungen darstellen, wobei ich meinen Blick auf die Zustände in meinen muslimischen Gemeinschaften fokussiere.

Das Schweigen zu Gaza

„Du schweigst zum Genozid in Gaza!“ ist der häufigste und durch sein impliziertes moralisches Unwerturteil schwerste Vorwurf, dem ich in den letzten zwei Jahren ausgesetzt bin. Aber angesichts der Lautstärke und der inneren Zustände der palästinasolidarischen Szene ist für mich das „Schweigen zum Genozid“ die einzige moralisch vertretbare Haltung. Ich will das gleich näher ausführen.

Mitgefühl mit den Kriegsopfern in Gaza ist ein Gebot der Menschlichkeit. Ihr Leiden und Sterben möge ein Ende finden und ein Leben in Frieden und Freiheit möge Wirklichkeit werden. Das ist mein aufrichtiger Wunsch für die Menschen in Gaza. Der Krieg möge enden. Nichts anderes darf man sich wünschen, denn Krieg ist immer eine maximale Verrohung, gleich aus welchen Gründen er geführt wird.

Kapitalisierung der Solidarität

Aber die Stimmen und Positionen der palästinasolidarischen Szene empfinde ich nicht als Ausdruck maximaler Empathie. Nicht als Ausdruck des Wunsches nach einem Ende des Krieges. Ich bin mir sicher, dass viele Menschen sich der palästinasolidarischen Szene anschließen, weil sie es furchtbar finden, dass so viele Zivilisten, so viele Kinder in Gaza durch diesen Krieg sterben. Aber ich kann nicht ignorieren, welche Konsequenzen diese Solidarität hat und welche Entwicklungen sie fördert.

Ich kann mich nicht einer Solidarität anschließen, die ganz offensichtlich das Leid in Gaza instrumentalisiert. Spendenaufrufe, die zur Finanzierung von Luxusuhren und Sportwagen missbraucht werden, mögen noch betrügerische kriminelle Randerscheinungen dieser Solidarität sein. Aber was ist mit der offenen Kapitalisierung der Palästina-Symbolik mittels Merchandising Artikeln? Oder einer Hilfsflottille ohne Hilfsgüter? Diese seetüchtige Empathie-Performance für soziales und teilweise auch ökonomisches Kapital, die nur deshalb so selbstbewusst und mit bauchtanzender Gelassenheit einem vermeintlichen „Genozid“ entgegensegeln kann, weil sie darauf vertraut, dass israelische Sicherheitskräfte sie schon rechtzeitig abfangen werden, bevor sie sich der Realität eines von der Hamas dominierten Gazastreifens aussetzen muss? Und die aus diesem Gratismut eine eigene Heldengeschichte für die „Kämpfer des Widerstands“ daheim strickt? Das sind keine aufrichtigen Beispiele der Solidarität mit leidenden Menschen, denen ich mich anschließen möchte.

Fehlende Aufrichtigkeit

Reden wir etwas detaillierter über Aufrichtigkeit. Die palästinasolidarische Szene fordert eine Zwei-Staaten-Lösung. Welchen Einsatz, welche Solidarität hat diese Szene in den letzten zwei Jahren hier bei uns in Deutschland an den Tag gelegt, dem wir auch nur ansatzweise entnehmen könnten, wie eine solche Lösung funktionieren soll? Die Vielfalt unserer deutschen Gesellschaft hätte doch ein Beispiel sein können, wie zwei Bevölkerungsgruppen – eine muslimisch, eine jüdisch geprägt – in friedlicher Nachbarschaft zusammenleben können.

Welchen Einsatz hat meine muslimische Community in den zurückliegenden zwei Jahren für das Vorbild einer friedlichen Nachbarschaft mit Juden gezeigt? Wir Muslime haben mehrheitlich die Narrative, die Symbole, die Slogans und Trennlinien des Nahostkonflikts und des Gaza Krieges hier nach Deutschland übertragen. Wir tragen diesen Konflikt immer intensiver und immer eskalierender in die Lebenswirklichkeit unserer hiesigen Nachbarschaft zu Juden, statt durch eine positive Praxis des Friedens diesem Konflikt seine von den Extremisten behauptete Schicksalhaftigkeit und Alternativlosigkeit zu nehmen.

Es wird eine Zwei-Staaten-Lösung gefordert und im gleichen Atemzug die Existenzberechtigung eines israelischen Staates bestritten. Im gleichen Atemzug werden Terroristenführer, deren einziges Ziel die Zerstörung Israels war und ist, als Helden verehrt. Die palästinasolidarische Szene fordert ein Ende des Krieges – und gleichzeitig schweigt sie zum Aufruf eines „Heiligen Krieges“ durch die größte religiöse Organisation, der die meisten Moscheegemeinden hier in Deutschland faktisch und ideell angeschlossen sind.

„Genozid“ als Gewaltlegitimation

Wie kann ich nicht zu einem behaupteten „Genozid“ schweigen, wenn ich weiß, welchem Ziel diese Rhetorik dient? Der Vorwurf des „Genozids“ hat eine dreifache Funktion: Er soll die extreme Enthemmung der Palästinenser am 7. Oktober 2023 verblassen lassen. Er soll nachträglich die furchtbare Entmenschlichung der jüdischen Opfer des 7. Oktober als legitimen Widerstand gegen ein vermeintlich unmenschliches, weil „genozidales“ Volk adeln. Und er dient dazu, Muslime weltweit zur Wiederholung dieser äußersten Gewalt des 7. Oktober zu mobilisieren. Denn wenn der Vorwurf des „Genozids“ gegen Israel nur laut genug erhoben wird, kann ihm die Forderung nach einem bewaffneten Kampf gegen alle Juden weltweit als vermeintliche Notwehrhandlung folgen.

Ich kann nicht ignorieren, dass diese Rhetorik auf einen emotionalen Boden fällt, auf dem schon seit Jahren die Sehnsucht nach der Zerstörung Israels und der „Befreiung“ des Tempelberges in Jerusalem gedeiht. In dieser Logik dient der Vorwurf des „Genozids“ – als ultimativer Vorwurf des Bösen – zur Rechtfertigung, warum dieses Böse nun mit allen Mitteln und damit auch mit allen Mitteln der Gewalt zerstört werden muss. Die Propagandisten dieser Gewalt sind sich bewusst, dass diese Rhetorik die Gewalt gegen alle Juden weltweit fördert. Und sie weisen die Verantwortung für diese Gewalt gegen Juden mit den Mitteln des klassischen Antisemitismus erneut den Juden zu: Bereits jetzt kursieren die Narrative, wonach es wieder die „Zionisten“ seien, die hinter den Anschlägen gegen jüdische Einrichtungen wie zuletzt der Synagoge in Manchester stecken, um mit der Anstiftung zur Ermordung von Juden weltweit von ihrem „Genozid“ in Gaza abzulenken. Wer einen „Genozid“ verübt, ist zu allem fähig und muss deshalb mit allen Mitteln bekämpft und vernichtet werden. Das ist die Botschaft.

In Kenntnis dieser Zustände innerhalb meiner muslimischen Gemeinschaften und im Wissen um diese Funktion des „Genozid“-Vorwurfs muss ich mich dieser Dynamik entschieden verweigern. Die Forderung nach einem Ausdruck der Empathie kann nicht mit der Reproduktion dieses „Genozid“-Vorwurfs beantwortet werden. Sie muss vielmehr zu der Frage führen, wie emphatisch wir hier im unmittelbaren Zusammenleben in Deutschland sind. Wie solidarisch sind wir miteinander hier vor Ort?

Unser demokratisches Zusammenleben folgt einer eigenen Ein-Staaten-Lösung: Wir leben hier in einem gemeinsamen Deutschland, in einer gemeinsamen Gesellschaft und sind alle gemeinsam für das Gelingen dieses Zusammenlebens verantwortlich. Und gegenwärtig verzweifle ich an der Verantwortungslosigkeit meiner muslimischen Gemeinschaften für dieses Zusammenleben.

Das Verhalten der muslimischen Gemeinschaften

Seit zwei Jahren sind unsere muslimischen Gemeinschaften und unser öffentlicher Umgang mit dem Gaza Krieg die Quelle für die wachsende Bedrohungslage, in der sich Juden in Deutschland wiederfinden: Wir demonstrieren an den höchsten jüdischen Feiertagen vor Synagogen – um Juden einzuschüchtern. Wir skandieren Parolen, die im Nahostkonflikt von jenen verwendet werden, die Juden ermorden und den Staat Israel zerstören wollen. Wir feiern Terroristen. Und weil wir wissen, dass wir das tun, erklären wir sie kurzerhand zu Widerstandshelden und zu Glaubenskämpfern. Wir vergleichen die Hamas mit der muslimischen Urgemeinde in Medina – und regen uns über andere auf, wenn sie unseren Propheten als gewalttätigen Mörder karikieren. Wir schweigen zu Predigten, die zum bewaffneten Kampf gegen Juden aufrufen und einen weltweiten Dschihad gegen Juden fordern. Dabei nennen wir Juden „Zionisten“ und bilden uns ein, dass das einen Unterschied macht. Wir fordern Freiheit für Palästina – und lassen unausgesprochen, dass wir damit häufig genug das Ende Israels und die Vertreibung oder Entrechtung von israelischen Juden meinen.

In zwei Jahren ist es unserem geistlichen Personal, unseren Imamen hier in Deutschland nicht ein einziges Mal gelungen, ohne Wenn und Aber geschlossen für die Freilassung der israelischen Geiseln in Gaza zu beten. Nicht ein einziges Mal ist es uns gelungen, zu den vielen deutschen und türkischen Flaggen an unseren Moscheen auch die palästinensische und israelische Flagge zu hissen, um dem vielfach geäußerten Wunsch nach einer friedlichen Zwei-Staaten-Lösung zumindest einen Hauch symbolischer Glaubwürdigkeit zu verleihen.

All diese Signale, diese Botschaften werden in der muslimischen Jugend so verstanden, dass die extremistischen, ideologisch radikalsten Glaubensverständnisse innerhalb unserer muslimischen Gemeinschaften die eigentlich authentische Weise seien, wie man als Muslim zu empfinden und zu handeln habe. So nehmen junge Muslime es wahr. Und so nimmt es zunehmend auch die nicht-muslimische Öffentlichkeit wahr. Und das vergiftet unser zukünftiges Zusammenleben.

Gleichgültigkeit

Der Grund für diese Gleichgültigkeit, für diese fehlende Empathie im Hinblick auf die konkreten Bedingungen unseres Zusammenlebens ist das Fehlen jeglicher Solidarität mit diesem Land und seiner vielfältigen Gesellschaft. Wir haben uns in muslimischen Organisationen versammelt, die den Anspruch erheben, deutsche Religionsgemeinschaften zu sein und die als Körperschaften des deutschen öffentlichen Rechts anerkannt werden wollen – aber wie soll das funktionieren: deutsche Religionsgemeinschaften zu sein, ohne deutsche Muslime sein zu wollen? Deutsche Muslime zu sein, bedeutet nicht, Alkohol zu trinken oder Schweinefleisch zu essen. Deutsche Muslime sind Muslime, die sich um das Zusammenleben mit allen in diesem Land Sorgen machen. Denen das Wohlergehen von allen in diesem Land am Herzen liegt und die sich mit und aus ihrem muslimischen Glauben heraus für dieses Wohlergehen einsetzen.

In den zurückliegenden zwei Jahren haben wir am Beispiel des Gaza Krieges indes vorgelebt, dass wir mehrheitlich und insbesondere in Gestalt unserer religiösen Organisationen keine solchen Prioritäten oder Sensibilitäten haben. Dieses Land und der Zustand unseres Zusammenlebens sind uns weniger wichtig, als die Frage, wem „Palästina“ gehören soll. Dass unsere jüdischen Nachbarn hier in Angst vor uns leben, dass sie ihre religiösen Symbole in der Öffentlichkeit nicht mehr tragen, dass ihre Kinder in der Schule aus Angst verschweigen, dass sie Juden sind, kümmert uns weniger als die Frage, wie komfortabel der Rückflug der Hilfsflottillen-Matrosen gewesen ist. Wir fordern immer mehr „safe spaces“, in denen wir alles sagen dürfen wollen. Gleichzeitig lässt es uns kalt, dass der öffentliche Raum kein safe space mehr für Juden ist.

Wenn ich all das kritisiere, bin ich ein Hausmuslim. Und das ist natürlich abwertend gemeint – obwohl das Haus doch dieses Land ist, in dem wir alle gleichberechtigt und frei und sicher leben wollen. Ich soll das alles nicht mehr sagen, weil es den Applaus der falschen Seite verursacht. Das sagen zumeist jene, die sich nicht daran stören, dass ihre „Free Palestine“-Parolen den Applaus von Kalifatsfanboys und anderen Extremisten ernten.

Wer palästinasolidarisch sein will und darunter versteht, ein friedliches Zusammenleben zwischen Muslimen und Juden in zwei freien und demokratischen Staaten im Nahen Osten zu fordern, der muss zunächst deutschlandsolidarisch sein und demonstrieren, dass er sich für ein friedliches Zusammenleben aller hier in unserer gemeinsamen Gesellschaft einsetzt. In diesem Punkt sind meine muslimischen Gemeinschaften – und mit ihnen zahlreiche muslimische Personen aus allen Bereichen des akademischen, medialen, künstlerischen und des öffentlichen Lebens – seit zwei Jahren ein beschämender Totalausfall.

So. Jetzt habe ich nicht mehr zu Gaza geschwiegen. Macht daraus, was ihr wollt.