Der von mir sehr geschätzte Hakan Turan hat einen Blogtext veröffentlicht, in welchem er sich mit der Debatte über Antisemitismus unter Muslimen im Kontext des Gaza Krieges auseinandersetzt. Er hat den Text in einem ironischen und auch etwas polemischen Stil als Liste von „Tipps“ formuliert, „Wie man sich erfolgreich muslimische Antisemiten heranzieht“ – so auch der Titel seiner Blog-Kolumne, die hier zu finden ist.
Nun bin ich ausweislich meiner früheren Texte in diesem Blog offenkundig nicht in der idealen Position, von Polemik und Überspitzung abzuraten. Aber vielleicht macht mich meine rhetorische Vergangenheit ja auch gerade zum glaubwürdigen Ratgeber, wenn ich empfehle, von Polemik in der Antisemitismusdebatte lieber abzusehen?
Denn was der innermuslimischen Debatte und insbesondere der Debatte um Antisemitismus unter Muslimen fehlt, ist eher größere Sachlichkeit als eine weitere Prise Überspitzung und Polemik. Und weil ich Hakan Turan als eine der sehr wenigen höchst differenzierten und sachlichen Stimmen in den Debatten zu muslimischem Leben in Deutschland wahrnehme, halte ich es für ein wertvolles Potenzial, diese Sachlichkeit und Differenzierung zu stärken und auszubauen.
Deshalb möchte ich in diesem Text auf die Gedanken Hakan Turans reagieren und in der direkten Ansprache den Versuch unternehmen, in einen öffentlichen Gedankenaustausch zu treten. Ich verbinde diesen Versuch mit der Hoffnung, dass unser sachlicher und differenzierter Schriftwechsel dabei helfen kann, die Debatte über Antisemitismus und den Gaza Krieg fruchtbarer für das Zusammenleben in Deutschland zu gestalten – und auch eine aufrichtigere und reflektierte innermuslimische Atmosphäre anzustoßen.
Deshalb, lieber Hakan, will ich auf Deine „Tipps“ nun inhaltlich reagieren, wobei diese Reaktion ausdrücklich als Wertschätzung Deiner Mühe verstanden werden soll. Denn mit Deinem Text in die öffentliche Debatte einzusteigen, ist keine Selbstverständlichkeit. Deshalb bitte ich Dich darum, selbst dort, wo ich widerspreche, diesen Widerspruch nicht als vollständige Ablehnung, sondern als eine Ergänzung Deiner Gedanken zu verstehen.
Ich werde dabei Deine Ausführungen so zusammenfassen, wie ich sie verstanden habe. Sollte es hier meinerseits also ein Missverständnis geben und dieses Missverständnis die Grundlage meiner Gedanken sein, bin ich Dir für entsprechende Hinweise dankbar. Auch das kann ja ein Anlass für eine weitere gedankliche Vertiefung und Versachlichung der öffentlichen Debatte sein. Darüber hinaus sind eine Erwiderung und jede Fortsetzung dieser Meinungsverschiedenheit sehr willkommen!
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In Deinem Text kritisierst Du, dass die gegenwärtige Debatte um Antisemitismus unter Muslimen nicht zielführend ist und im schlimmsten Fall sogar Vorbehalte gegenüber Juden und Israel verstärken kann. Du stellst in fünf Negativ-Beispielen dar, wie man angeblich „erfolgreich“ muslimische Antisemiten heranzieht.
Nun bin ich mir sicher, dass Du nicht das Argument teilst, Antisemitismus sei nur ein „westliches“ Phänomen, das Muslimen fremd sei, dass Muslime den Antisemitismus vom „Westen“ gelernt hätten, dass der eigentlich „westliche“ Antisemitismus aktuell „islamisiert“ werde, um vom eigenen europäischen Antisemitismus abzulenken und Muslime anzufeinden. Wir stimmen vermutlich darin überein, dass es zwar einen Antisemitismus unter Muslimen gibt, der sich der klassischen Narrative des europäischen Antisemitismus bedient und Versatzstücke althergebrachter antisemitischer Erzählungen in das Verhältnis von Muslimen und Juden überträgt. Aber wir sind vermutlich auch einer Meinung, dass es neben diesem Antisemitismus unter Muslimen auch einen originären muslimischen Antisemitismus gibt, der auf historische muslimische Erzählungen über Juden zurückgreift, die sich bis tief in die islamische Entstehungsgeschichte und prophetische Biografie zurückverfolgen lassen. Der Antisemitismus unter Muslimen ist also multidimensional.
Die polemisch überspitzte Formulierung, mit der deutschen Antisemitismusdebatte würden wir uns muslimische Antisemiten heranziehen, halte ich vor diesem Hintergrund für problematisch. Mir ist klar, dass Du damit auf die negative Wirkung der aktuellen Debatten hinweisen und diesen Hinweis in Gestalt einer kompakten These komprimieren willst. Ich sehe in Deiner Formulierung aber auch die Gefahr, Entlastungstendenzen innerhalb der muslimischen Gemeinschaften zu festigen, wo vielfach behauptet wird, dass problematische Phänomene unter Muslimen stets das Ergebnis einer zielgerichteten, von außen geführten und gesteuerten muslimfeindlichen Strategie seien. Diese Tendenzen fördern eine Selbstidealisierung, wonach Muslime ethisch-moralisch höherwertig seien und zweifelhafte und negative Entwicklungen stets auf eine äußere nichtmuslimische und feindselige Beeinflussung und Manipulation zurückzuführen sind. Das sind innermuslimische Tendenzen, die Überlegenheitserzählungen fördern und gleichzeitig die Anfälligkeit für Verschwörungserzählungen erhöhen.
Es braucht nicht viel, um in den innermuslimischen Sozialräumen die Thematisierung des Antisemitismus unter Muslimen mittels dieser „Argumentation“ zu einem Instrument einer „jüdischen Steuerung“ werden zu lassen und auch Muslime, die das Problem des Antisemitismus unter Muslimen benennen und kritisieren, zu „zionistischen Agenten“, zu Kollaborateuren von Muslimfeinden und zu „Hausmuslimen“ zu machen, ihr Muslim-Sein anzuzweifeln und sie damit letztlich als Feinde aller frommen Muslime zu markieren. Das ist ein gedankliches und rhetorisches Muster, das leider tief in die muslimische Mitte hineinreicht und praktische Anwendung selbst in Führungspositionen innerhalb muslimischer Organisationen, in der muslimischen Zivilgesellschaft und sogar in der akademischen Landschaft und in Personalstrukturen universitärer Einrichtungen findet.
Ich bin mir sicher, dass Deine Formulierung keine solche Wirkung intendiert. Ich möchte Dich aber nur für diese mögliche und leider nicht fern liegende Gefahr einer solchen Wirkung nochmals sensibilisieren. Wir beide wissen, dass die Antisemiten in unseren muslimischen Gemeinschaften leider schon da sind – da muss niemand von außen und durch die Antisemitismusdebatte erst noch zum Antisemiten gemacht werden. Aber ich stimme Dir zu, dass die Debatte diese negativen Zustände verstärken kann und mit den von Dir genannten diskursiven Beispielen will ich mich im Folgenden genauer befassen:
Das „Die-Kinder-von-Gaza“-Argument zur fiesen Täter-Opfer-Umkehr erklären
Du kritisierst, dass das Leid der palästinensischen Kinder im Gazastreifen in der deutschen Öffentlichkeit oft ignoriert oder als Hamas-Propaganda abgetan wird. Du argumentierst, dass das Ignorieren dieser Bilder und die pauschale Schuldzuweisung an die Palästinenser dazu führen können, dass Muslime sich auch gegenüber dem Leid von Israelis und Juden verschließen.
Ich stimme Dir zu, dass es in Teilen der öffentlichen Debatte eine Gleichgültigkeit und Erbarmungslosigkeit gibt, mit der selbst Kinder nicht mehr als notleidende Opfer von Krieg und Zerstörung wahrgenommen werden, sondern als zukünftige Feinde entmenschlicht werden. Das ist eine furchtbare Entwicklung. Warum fällt sie uns in den muslimischen Gemeinschaften nur auf, wenn muslimische Kinder davon betroffen sind?
Jede Rakete auf israelisches Gebiet, die seit zwei Jahren zigfach abgeschossen wurden und als Akte des Widerstandes gefeiert werden, fliegt zumindest mit dem bedingten Vorsatz auf israelische Städte, dort auch Kinder umzubringen. Der Terror des 7. Oktober hat nicht zwischen Kombattanten und Kindern unterschieden. Er hat unterschiedslos massakriert. Und er hat dieses Massaker als Heldentat gefeiert. Und in unseren muslimischen Sozialräumen hier in Deutschland ist dieser Terror als „legitimer Widerstand“ verstanden und teilweise auch begrüßt worden. Er ist im Namen einer „Kontextualisierung“ des Konflikts verharmlost worden.
Es gehört zu einer festen Überzeugung der islamistischen Szene, dass Terror gegen alle israelischen Zivilisten, gleich welchen Alters, legitim sei, weil alle israelischen Bürger letztlich zum Wehrdienst verpflichtet und somit als Soldaten zu betrachten seien. Wo war da unsere muslimische Sensibilität für die Entmenschlichung von Kindern und die Empathielosigkeit einer solchen Denkweise?
Und das ist jetzt keineswegs Whataboutism. Es ist die Frage nach unserer innermuslimischen Kultur der Empathie angesichts der Instrumentalisierung von Kindern für gewaltbereite ideologische Verzerrungen. Wo ist eigentlich unsere innermuslimische Empathie für Kinder, wenn sie zu Hass erzogen werden? Wenn sie in Militäruniformen gesteckt und mit Spielzeugwaffen ausgestattet werden? Das geschieht unabhängig vom Nahostkonflikt zum Beispiel auch im türkischen Kontext beim Gedenken an den türkischen Unabhängigkeitskrieg oder an die Schlacht an den Dardanellen während des Ersten Weltkrieges – und zwar hier in Moscheegemeinden. Dass Kinder die Soldaten von morgen sind, hat einen Platz innerhalb unserer militaristisch aufgeladenen, nationalistischen Identitätsverständnisse. Die Frage nach Empathie, die in propalästinensischen Kommentaren in den sozialen Medien immer wieder auftaucht, muss auch hier ansetzen, wenn sie universell gemeint ist und nicht lediglich das antisemitische Bild des kindermordenden Juden bedienen soll.
Wenn wir – zu Recht – Empathie mit den toten und leidenden Kindern in Gaza einfordern, muss uns klar sein, dass diese Empathie nicht von sich aus entsteht, solange wir gegenläufige Phänomene nicht eindeutig zurückweisen. Der Tod der Bibas-Kinder hat keine Welle des Schocks oder der Empathie ausgelöst. Es gab keine entsetzten Reaktionen der musmischen Gemeinschaften in Deutschland, als ihre Särge für eine triumphale Inszenierung missbraucht wurden. Solange wir als muslimische Gemeinschaften den Triumph über tote jüdische Kinder nicht deutlich als Abscheulichkeit zurückweisen, wird unsere Frage nach Empathie mit muslimischen Kindern ungehört verhallen. Das ist kein Feilschen um Empathie. Das ist eine Frage der Selbstwirksamkeit und Glaubwürdigkeit der moralischen Ansprüche innerhalb der muslimischen Gemeinschaften – die Chance, diese gesellschaftliche Glaubwürdigkeit zu demonstrieren, haben unsere muslimischen Gemeinschaften nach dem 7. Oktober verspielt. Die Gefühlskälte, die wir jetzt beklagen, ist das Spiegelbild unserer gemeinschaftlichen Unfähigkeit, nach dem 7. Oktober gemeinsam mit Juden in Deutschland zu trauern.
Die Palästinenser samt ihren Kindern als Kollektiv dämonisieren
Du bemängelst, dass Palästinenser oft als radikal-islamistisches Kollektiv von Hamas-Terroristen dargestellt werden, ohne zwischen Zivilisten und Extremisten zu unterscheiden. Eine solche Dämonisierung führe zu einer maximalen Solidarisierung von Muslimen mit den Palästinensern, die auf Kosten der Empathie mit Israelis gehen könne.
Mir ist klar, dass es den Menschen im Gazastreifen kaum möglich ist, ihre Ablehnung der Hamas öffentlich kundzutun, ohne um das eigene Leben fürchten zu müssen. Wie will man deutlich machen, dass man nicht der Hamas angehört und sie nicht unterstützt, wenn das den eigenen Tod bedeuten kann? Ein deutliches Zeichen, eine eindeutige Unterscheidung zwischen Zivilisten und Extremisten ist im Gazastreifen offensichtlich nicht ohne Lebensgefahr möglich. Aber sie ist in Berlin möglich. Sie ist überall in Deutschland möglich. Sie sollte in jeder Moschee in Deutschland möglich sein. Sie sollte zum Beispiel an der Humboldt Universität möglich sein.
Bei den beiden letztgenannten Orten – Moscheen und Universität – bin ich mir nicht sicher, ob das möglich ist, ohne soziale Ächtung oder gar Gewalt befürchten zu müssen. Hier bei uns in Deutschland liegt das Problem und die mangelnde Differenzierung zwischen berechtigten muslimischen Interessen und dem Extremismus der Hamas oder ihr ähnlicher Terrororganisationen. Diese Differenzierung hätten wir hier in den muslimischen Gemeinschaften vorleben müssen. Sie hätte ein Vorbild für die Differenzierung sein können, die Du zu Recht einforderst. Sie hätte ein Gegenmittel gegen die von Dir beschriebene Dämonisierung der Zivilisten in Gaza sein können.
Diese Differenzierung, dieses menschliche Antlitz der Hilflosigkeit von Zivilisten, die als Spielbälle extremistischer Machthaber missbraucht werden, hätte ausgehend von unseren muslimischen Gemeinschaften hier in Deutschland eine stellvertretende Stimme der Zivilsten in Gaza sein und in der öffentlichen Debatte hier in Deutschland wirken können. Stattdessen hat die Militanz der Hamas die Straßen in Gaza verlassen und ihren Weg auf die Straßen unserer Städte und in die Gemeinden unserer Moscheen hier in Deutschland gefunden. Statt ein glaubhaftes Beispiel des friedlichen Zusammenlebens von Deutschland nach Gaza zu senden, haben wir uns in unseren muslimischen Sozialräumen und in der propalästinensischen Unterstützerszene dafür entschieden, die Intifada zu globalisieren.
Bis heute – fast zwei Jahre nach dem 7. Oktober – können die großen muslimischen Organisationen in Deutschland die Hamas nicht als Terrororganisation bezeichnen. Sie wollen sie lieber als Glaubensbrüder verstehen und als Freiheitskämpfer unterstützen. Aus muslimischer Perspektive machen wir damit den ideologischen Terror der Hamas zum Gottesdienst aller Muslime. Wir selbst islamisieren damit den Terror.
Diese moralische Verklärung und Umwandlung von extremistischem Terror funktioniert auch in der säkularen propalästinensischen Unterstützerszene. Dort nicht unter religiösen Vorzeichen einer Glaubensgemeinschaft, sondern in der moralischen Umdeutung des Hamas-Terrors zu einem antikolonialen Befreiungskampf. Wenn jetzt alle Menschen in Gaza – ohne Unterschied zwischen Hamas und Zivilisten – in diesem Verständnis entweder als Glaubensbrüder und/oder Freiheitskämpfer unsere Solidarität verdienen, wie soll dann einer Dämonisierung entgegengewirkt werden, die nicht mehr zwischen Hamas-Terroristen und unschuldigen Zivilisten unterscheidet? Die Gleichsetzung zwischen Extremisten und Zivilisten, die wir als Dämonisierung beklagen, praktizieren wir doch selbst. Wir nennen sie Solidarität mit dem Widerstand.
Immer rechtzeitig „Ja, aber die Hamas…“ sagen
Du kritisierst den inflationären Gebrauch des Hamas-Arguments, um jede Kritik an Israel zu unterbinden oder zu relativieren. Dies führe dazu, dass Muslime die Hamas nicht mehr als echten Teil des Problems wahrnehmen, da das Argument überstrapaziert und als Ablenkung wahrgenommen werde.
Habe ich das mit meinen obigen Ausführungen jetzt auch getan? Zur klaren Kritik an Israel komme ich im nächsten Punkt. And dieser Stelle soll der Fokus auf dem „Hamas-Argument“ liegen. Ich bin der Meinung, dass es keinen inflationären Gebrauch dieses Argumentes gibt. Ich glaube vielmehr, dass wir es noch zu wenig verwenden. Oder präziser ausgedrückt, nicht deutlich genug und nicht klar genug verwenden.
Im überwiegenden – insbesondere gemeinschaftlich organisierten Tei – der muslimischen Landschaft wurde und wird die Hamas nicht als „echter Teil des Problems“ wahrgenommen. Sie wird gar nicht als Problem wahrgenommen. Sie gilt als Lösung des Problems. Und das Problem heißt „Israel“. Die öffentliche Debatte um Antisemitismus und den Nahostkonflikt findet nicht im ideologischen Vakuum statt. Sie hat einen Rahmen, einen historischen und religiösen Hintergrund, vor dem sie stattfindet. Und deshalb muss in dieser Debatte jede Kritik an israelischer Regierungspolitik stets mit dem „Ja, aber die Hamas“-Argument gedacht und formuliert werden.
Was meine ich damit? Der Nahostkonflikt ist nicht der Streit zweier Staaten um eine von beiden Seiten beanspruchte Grenzregion wie etwa in Kaschmir. Die Geschichte des Konflikts beginnt mit dem Wunsch nach einem israelischen Staat und der Weigerung der arabischen Nachbarn, die Existenz dieses Staates zu akzeptieren. Die Erweiterung des israelischen Territoriums war die Folge von arabischen Niederlagen in mehreren Vernichtungskriegen gegen Israel. Das Ende der staatlichen Existenz Israels ist bis heute die Handlungsmaxime der Hamas. Und sie hat sich fortgesetzt und hat Wurzeln geschlagen in weiten Teilen der muslimischen Gemeinschaften.
Die Forderung nach einem Ende Israels, nach einer Vernichtung Israels, nach einer „Befreiung Jerusalems“ von jüdischer Herrschaft wird in muslimischen Gemeinschaften nicht als Ausdruck antisemitischen Hasses betrachtet. Sie gilt in erschreckend weiten Teilen der muslimischen Gemeinschaften nicht als extreme Ideologie, sondern als fromme, glaubensgeschwisterliche Sehnsucht. Sie ist derart verbreitet und verwurzelt innerhalb der muslimischen Gemeinschaften, dass selbst der Terror des 7. Oktober mit einem „Ja, aber Israel“-Argument relativiert wird.
Deshalb kann es keine sinnvolle und gedeihliche Debatte über den Nahostkonflikt geben, solange diese Prädisposition innerhalb der muslimischen Gemeinschaften ausgeblendet wird. Wie soll zum Beispiel die Debatte um eine Zwei-Staaten-Lösung die Ebene des Phrasenhaften verlassen und sich tatsächlich zu einer realistischen Zukunftsperspektive für das israelisch-palästinensische Verhältnis entwickeln können, wenn es keine aufrichtige innermuslimische Diskussion darüber gibt, wie eine positive Haltung zur Existenz Israels innerhalb der muslimischen Gemeinschaften zum Mainstream werden kann?
Die Reaktion auf das Hamas-Argument ist in den muslimischen Gemeinschaften zu einem Hamas-Bekenntnis mutiert, das das wesentliche Selbstverständnis der Hamas-Ideologie – also einer extremistischen Haltung – so sehr verinnerlicht, dass die moralischen Abgründe dieser Entwicklung gar nicht mehr auffallen. Wir sind in diesem innermuslimischen Abgrund gefangen und haben im Zuge der öffentlichen Debatten der zurückliegenden fast zwei Jahre auch noch die säkulare, nichtmuslimische Öffentlichkeit in Deutschland in diesen Abgrund mitgerissen – dabei will ich gar nicht ausblenden, dass diese sich zur Begleitmusik des sekundären und des israelbezogenen Antisemitismus von rechts bis links sehr bereitwillig in diesen Abgrund hat sinken lassen. In ganzer Breite ist in beiden Sphären die Hamas-Ideologie zu einer Grundüberzeugung geronnen, ohne dass sie von allen als solche erkannt wird. Aber in jedem Fall wirkt sie sich auf eine nihilistische, massiv destruktive Weise auf die Menschen in Gaza aus, weil sie ihnen aus der Ferne die moralische Legitimität der Hamas-Ideologie signalisiert.
Kern dieser Hamas-Ideologie ist die Überzeugung, dass ein Leben mit oder gar in Israel ohne kämpferischen, gewaltbereiten Widerstand stets Verrat bedeutet. Wie wir aktuell wieder sehen, ist in dieser Überzeugung selbst die Annahme israelischer Nahrungsmittellieferung in den Gazastreifen „Kollaboration“ mit dem Feind. Denn ein Leben – selbst ein bloßes Überleben – ohne Widerstand ist Verrat. Und ein Widerstand, ohne die Bereitschaft zu töten und zu sterben, ist nutzlos. Deshalb sollen die Menschen in Gaza dem Wunsch der Hamas folgend lieber verhungern als Hilfe von Israel anzunehmen. Deshalb sollen sie sterben, solange dieses Sterben es den Hamas-Kämpfern ermöglicht, in den Tunneln unterhalb der zivilen Gebäude in Gaza Geiseln versteckt zu halten.
In diese ideologische Perspektive ist auch der Vorwurf des Genozids gegenüber Israel einzuordnen. Ich teile diesen Vorwurf ausdrücklich nicht. Im Rahmen der beschriebenen Hamas-Ideologie verfolgt er nämlich einen bestimmten Zweck: Die Kriegsfolgen in Gaza sind in dieser gedanklichen Einbettung eben nicht mehr die vermeidbaren Folgen des Hamas-Terrors, sondern Ausdruck der kollektiven Niedertracht „des Juden“. Sie sind nicht durch Freilassung der Geiseln, durch Kapitulation der Hamas, durch eine realistische Strategie des Friedens mit Israel zu verhindern. Sie sind unabwendbar, solange diese genozidalen Juden „from the river to the sea“ existieren. Diese Ideologie fordert maximale Opferbereitschaft von den Menschen in Gaza, die kein Recht auf eine gewaltfreie Zukunft haben, weil nur der unablässige Kampf gegen die Juden ein Ende des „Genozids“ ermöglicht. Das Sterben und das Töten sind in ihrer Permanenz unverzichtbar. Denn wenn Frieden möglich sein soll, muss er gerecht sein – und Gerechtigkeit und damit ein Ende des Leids sind für die Hamas nur dann möglich, wenn das Rad der Geschichte zurückgedreht wird und Israel nicht länger existiert.
Diese Strategie kann die Hamas für muslimische Adressaten mit den religiösen Motiven des Märtyrertodes kodifizieren. Für ihr globales, säkulares Publikum kodiert sie es mit dem Vorwurf des „Genozids“: Der „Widerstand“ der Hamas darf in seiner Grausamkeit ultimativ sein, da er sich vermeintlich gegen die ultimative Schuld eines Genozids richtet. Dieser Ideologie verweigere ich mich. Nun bin ich mir sicher, dass nicht jeder, der öffentlich diese Rhetorik verwendet, auch diese Ideologie der Hamas unterstützen will. Ich unterstelle, dass diese Rhetorik auch dann verwendet wird, wenn Menschen angesichts der schrecklichen Bilder von den grausamen Folgen des Krieges überwältigt sind. Aber ich sehe mich in der Pflicht, auf diese Hamas-Ideologie hinzuweisen und das Hamas-Argument nicht zurückzuweisen.
Gewiss gibt es Politiker – auch in der israelischen Regierung – die eine vollständige Vernichtung aller Menschen in Gaza oder jedenfalls ihre vollständige Vertreibung befürworten. Gewiss gibt es in der israelischen Gesellschaft antiarabischen Rassismus, der auch eine vollständige Vernichtung der Menschen in Gaza zu akzeptieren bereit ist. Wir sollten gleichzeitig nicht aus den Augen verlieren, dass es die Hamas selbst ist, die den aktuellen Zustand des Sterbens und Leidens in Gaza – auch und gerade das Leid der Kinder – wiederholt als hilfreich für ihr ideologisches Ziel einer vollständigen Vernichtung Israels beschrieben hat. Vor diesem Hintergrund ist das Argument „Ja, aber die Hamas“ keine Ablenkung von dem Leid der Menschen in Gaza, sondern ein Hinweis auf die Ursachen dieses Leids. Umso unerklärlicher ist mir die Weigerung in Teilen der hiesigen öffentlichen Debatte, in diesem Hinweis gleichzeitig auch den Hinweis auf eine mögliche Beendigung dieses Leids zu erkennen.
Sich so verhalten, als ob es eine jüdische Weltverschwörung gibt, die alles kontrolliert
Du bemängelst, dass eine krampfhafte Vermeidung von klarer Kritik an Israels Politik in der Öffentlichkeit den Eindruck erweckt, eine unsichtbare Hand (diffus als „die Juden“ angedeutet) kontrolliere den Diskurs. Dies könne bei Muslimen, die europäische antisemitische Narrative nicht kennen, den Eindruck verstärken, dass Juden über unendliche Macht verfügen.
Wir können uns nicht in einer Weise verhalten, die Antisemiten davon überzeugt, dass ihre antisemitischen Überzeugungen falsch sind. Dem Antisemitismus wohnt gerade die Fähigkeit inne, jedes Verhalten als Ausdruck jüdischer Macht und Niedertracht zu deuten. Für Antisemiten leistet die Hamas mit dem Terror des 7. Oktober legitimen Widerstand – für den sie aber gleichzeitig von „den Juden“ finanziert worden sein soll. Die Massaker des 7. Oktober sind also ein Triumph über die jüdische Unterdrückung und gleichzeitig ein hinterhältiges Instrument zur Diskreditierung von Muslimen als barbarische Terroristen. Also muslimische Heldentat gegen Juden und zugleich Verrat an Muslimen zu Gunsten von Juden. Und irgendwie haben das alles wieder „die Juden“ organisiert und bezahlt. Eine solche Überzeugung kann kaum durch Argumente widerlegt werden. Es können nur diese Mechanismen und Denkmuster des Antisemitismus sichtbar gemacht und diskutiert werden, damit antisemitische Haltungen introspektiv hinterfragt und abgebaut werden.
Mir erschließt sich vor diesem Hintergrund nicht, wann und wo jemals eine deutliche Kritik an der israelischen Regierungspolitik krampfhaft vermieden worden wäre. Seit den Morgenstunden des 7. Oktober gibt es doch zahlreiche muslimische und nichtmuslimische Stimmen weltweit, die selbst diesen Hamas-Terror der israelischen Regierung angelastet haben. Die Kriegsführung Israels in Gaza wird mit den schwerwiegendsten Vorwürfen, die moralisch und rechtlich überhaupt möglich sind, angeprangert. Zu der Problematik dieser Rhetorik habe ich mich oben im Kontext der Hamas-Ideologie ausführlich geäußert.
An unseren Universitäten setzen sich führende Akademiker dafür ein, dass propalästinensischen Studierenden „sichere Räume“ angeboten werden, in denen sie jeden Gedanken, jedes Gefühl artikulieren können. Selbst antisemitische Überzeugungen sollen in diesen Räumen geäußert werden dürfen. Das gehöre zu einer diskriminierungssensiblen Debatte dazu. Mir erschießt sich bis heute nicht, wie die Artikulation antisemitischer Überzeugungen – bis hin zur Befürwortung und Ausübung von Gewalt – diskriminierungssensibel sein kann.
Wir sind an einem Punkt angelangt, an welchem selbst islamistische Radikalisierung als nachvollziehbare Reaktion auf eine Frustration durch die hiesigen Debatten erklärt wird. Eine Frustration, die dadurch entstehen soll, dass man nicht alles über Israel sagen kann. Ich frage mich, was noch fehlt. Was muss denn noch über Israel und Juden gesagt werden dürfen, was noch nicht gesagt worden ist? Und wie soll das den Antisemitismus in Deutschland eindämmen?
Wenn ein „sicherer Diskursraum“, mit der Möglichkeit alles über Israel sagen zu dürfen, eine sinnvolle Strategie sein soll, um Antisemitismus vorzubeugen, dann müssten unsere muslimischen Gemeinschaften doch praktisch frei von jeglichem Antisemitismus sein. Ich habe nicht den Eindruck, dass das der Fall ist.
Ich rate deshalb davon ab, diese Strategie des „unverkrampften Redens über Israel“ in den öffentlichen Raum unserer gesamtgesellschaftlichen Debatten auszuweiten. Ich halte es eher für sinnvoll, bei der Frage nach antisemitischen Denkmustern eine deutlich kritischere Haltung in die muslimischen Gemeinschaften zu übertragen – und auch die gesamte öffentliche Debatte im Hinblick auf die erodierende Sensibilität gegenüber antisemitischer Rhetorik kritisch zu hinterfragen.
Wir sollten nicht vergessen, dass Antisemitismus nicht bloß ein spezielles Detail einer übergeordneten Rassismusdebatte ist. Antisemitismus ist nicht lediglich eine Art antijüdischer Rassismus. Ich halte es vor diesem Hintergrund übrigens auch nicht für zielführend einzufordern, über Antisemitismus dürfe nur dann gesprochen werden, wenn zeitgleich auch antimuslimischer Rassismus thematisiert wird. Wir dürfen nicht unterschätzen, dass es über rassismuskritische Perspektiven hinausgehende kulturelle bzw. religionssoziologische Bezüge antisemitischer Überzeugungen gibt. Aus christlicher Perspektive hat die zentrale Figur der eigenen Glaubenswelt eine jüdische Vergangenheit. Über die dadurch begründete Entstehung antisemitischer Erzählungen ist im Rahmen der christlichen Theologien ausgiebig diskutiert worden.
Was aus muslimischer Perspektive bislang – jedenfalls in der gemeindlichen Basis – völlig fehlt, ist eine fruchtbare Diskussion über die Frage, welche prägenden Einflüsse die jüdische Religion und Tradition auf die islamischen Bräuche, Rituale und auf das Verständnis islamischer Quellen hatten – und ob dieses in der Volksfrömmigkeit weitestgehend ignorierte Näheverhältnis die Entstehung und Aufrechterhaltung antisemitischer Vorstellungen begünstigt.
Israels Politik mit Zionismus, und Kritik am Zionismus mit Antisemitismus gleichsetzen
Du kritisierst, dass oft nicht zwischen verschiedenen Formen des Zionismus unterschieden wird. Die pauschale Gleichsetzung von Zionismus mit der Politik der aktuellen israelischen Regierung und die Behauptung, jede Kritik am Zionismus sei antisemitisch, erschwere Muslimen den Aufbau von Empathie mit Israelis und Zionisten.
Ich befürchte, dass das eine zutreffende, aber doch sehr akademische Analyse ist. Das sage ich Dir als „“muslimischer“ Zionist“. Ja, so wurde ich vor Kurzem bezeichnet, weil ich mich – aus den oben beschriebenen Gründen – einer kategorischen und bedingungslosen Pro-Palästina-Solidarität verweigere und den Antisemitismus unter Muslimen kritisiere. Damit bin ich – und darauf deuten die doppelten Anführungszeichen bei „muslimisch“ hin – für den Urheber dieser Bezeichnung kein wirklicher Muslim mehr. Diese sehr besondere Form der innermuslimischen Muslimfeindlichkeit sollte möglichst schnell ihren Weg in die Tagesordnung der zahlreichen Projekte gegen Antisemitismus und gegen Muslimfeindlichkeit finden.
Kritik an israelischer Regierungspolitik ist nicht Antisemitismus. Aber es gibt antisemitische „Kritik“ an israelischer Regierungspolitik. Nicht jede Kritik am Zionismus ist Antisemitismus. Aber es gibt antisemitische „Kritik“ am Zionismus. Das dringliche Problem ist meiner Erfahrung nach nicht die mangelnde Fähigkeit, zwischen den unterschiedlichen Ausprägungen des Zionismus zu unterscheiden. Insbesondere in den muslimischen Gemeinschaften ist das Problem viel eher und viel dramatischer die weit verbreitete Unfähigkeit, Kritik am Zionismus ohne Antisemitismus zu formulieren.
Die Bezeichnung „Zionist“ wird vielfach als Chiffre für „die Juden“ verwendet. Der sozialen Erwartung in Deutschland, sich im öffentlichen Raum nicht antisemitisch zu äußern, wird häufig durch eine Rhetorik ausgewichen, in welcher alle antisemitischen Überzeugungen vermeintlich nur auf „die Zionisten“ ausgerichtet seien. Es gibt viele israelische und/oder jüdische Stimmen, die sich sehr kritisch zu den unterschiedlichen Facetten des Zionismus äußern, denen niemand Antisemitismus vorwirft – weil sie eine glaubhafte Distanz zu antisemitischen Überzeugungen aufweisen.
Diese klare Distanz fehlt in weiten Teilen der muslimischen Gemeinschaften. Deshalb ist es so wichtig, eine Tradition der kritischen Diskussion über Antisemitismus unter Muslimen aufzubauen und die innermuslimische Sensibilität und das Problembewusstsein weiter auszubauen. Die Tatsache, dass es in den letzten zwei Jahren kaum Veranstaltungen muslimischer Träger gab, die sich mit dem eigenen, originär innermuslimischen Antisemitismus beschäftigt haben, dass es kaum nachhaltige Programme zur Bekämpfung der antisemitischen Überzeugungen innerhalb der Moscheegemeinden gibt, liegt auch daran, dass der Antisemitismus unter Muslimen viel zu häufig als vermeintlich gut begründete schlechte Meinung über die vermeintlich kollektiven negativen Eigenschaften aller Juden gepflegt wird – dass man auf sie als „Zionisten“ schimpft, macht den Antisemitismus nicht weniger problematisch.
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Du, lieber Hakan, schließt mit der Feststellung, dass die aktuelle, oft undifferenzierte Antisemitismusdebatte in Deutschland gegenüber Muslimen nicht adressatengerecht sei und ihr Ziel verfehle oder den Antisemitismus gar verstärke. Du forderst eine Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus, die die betroffene Gruppe der Muslime nicht systematisch aus dem Diskurs ausschließt und deren eigene Diskriminierungserfahrungen berücksichtigt. Ich schließe mich Deiner Forderung an, muss sie aber um einen Gedanken erweitern:
Wir Muslime und insbesondere unsere großen muslimischen Organisationen, die unser kollektives Image in Deutschland mit ihrem öffentlichen Verhalten und ihrem Nicht-Verhalten entscheidend prägen, dürfen uns nicht bloß als Gegenstand der Antisemitismusdebatte begreifen. Wir müssen uns als Subjekte der Debatte verstehen und darauf verzichten, uns selbst mit der Verleugnung des Antisemitismus unter uns Muslimen aus dem Diskurs auszuschließen. Antisemitismus ist nicht bloß das Problem „der Deutschen“, das auf uns Muslime abgeschoben wird. Unsere Diskriminierungserfahrung ist nicht bloß eine des antimuslimischen Rassismus. Unsere Diskriminierungserfahrung ist auch eine des Diskriminierenden – gegenüber Juden. Mit dieser Erfahrung müssen wir uns endlich glaubwürdiger auseinandersetzen.
Ich danke Dir für den Mut, Deinen Text zu veröffentlichen. Ich hoffe, dass meine Reaktion darauf geeignet ist, Lücken in unseren Gedankengängen und vielleicht auch in der öffentlichen Debatte zu vervollständigen.
In der Hoffnung auf Frieden – überall.
Dein Freund Murat