Montag, der 27.01.2025, war der Internationale Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust. Er wurde vor 20 Jahren eingeführt. In diesem Jahr erinnert er an den 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau.
Keiner der großen muslimischen Verbände in Deutschland hat sich an diesem Gedenken beteiligt. Auf keiner ihrer offiziellen Webseiten ist eine Pressemitteilung oder ein Beitrag zu der Bedeutung dieses Tages zu finden. Bei der DITIB nicht. Nicht bei der IGMG. Nicht beim sogenannten ZMD. Beim VIKZ nicht. Und auch der KRM koordiniert an diesem Tag nur das Schweigen der muslimischen Verbände.
Das ist ein weiterer Stein, den diese Verbände der Mauer hinzufügen, die sie zwischen sich und die deutsche Gesellschaft errichtet haben. Ein weiterer Tag, an dem sie ihre gewollte und überzeugt empfundene Distanz zu diesem Land und seiner Bevölkerung um einen weiteren Schritt vergrößern.
Das Versäumnis, sich an dem Gedenken an die Opfer des Holocaust zu beteiligen, ist keines. Es ist ein bewusstes Unterlassen. Ich habe über 10 Jahre ehrenamtlich und 4 Jahre hauptamtlich in den Verbandsstrukturen gearbeitet. In diesen Strukturen ist die Verdrängung oder gar Leugnung des Holocaust keine Seltenheit. Von einer „jüdischen Erfindung“ bis hin zu „sachlichen Zweifeln“ an der Dimension der Menschenvernichtung reicht das Repertoire der bekannten Erzählungen, warum es die millionenfache Ermordung von Juden nie gegeben habe. Und auch das gibt es: Die Enttäuschung darüber, dass Hitler nicht genug Juden habe ermorden lassen.
Der verdrängte Antisemitismus
Ich weiß nicht, ob die Mehrzahl der Verbandsvertreter und ihrer Mitglieder so denkt. Aber ich bin mir sicher, dass kaum jemand widerspricht, wenn in diesen Kreisen solche Gedanken laut ausgesprochen werden. Und schon gar nicht gibt es öffentliche Veranstaltungen, Positionspapiere oder auch nur ein Problembewusstsein zu diesem Thema.
Das Schweigen am Holocaust-Gendenktag kann also zwei Gründe haben: Vor 80 Jahren ist nichts passiert, an das man sich erinnern müsste. Es ist nichts passiert, das an der eigenen Basis ein Gefühl des Bedauerns, des Mitleids und des Entsetzens verursacht.
Den aktuellen Grund vermute ich in der Befürchtung der Verbände, dass das Gedenken an jüdische Opfer des Nationalsozialismus vor dem Hintergrund der Nachrichten über die hohe Zahl der Opfer des Gaza-Krieges an der muslimischen Basis für Proteste sorgen könnte.
Die Verbände haben bereits kurze Zeit nach dem Terror des 7.10. die Erfahrung gemacht, dass ihre Basis kein Verständnis mit dem selbst zögerlich vorgetragenen Mitgefühl mit den Opfern der Hamas-Massaker hatte. Es gab am 8.10. und danach keine überzeugende, öffentlich ausgedrückte Empathie, keine gemeinsame Trauer mit den Jüdinnen und Juden in Deutschland.
Damit dokumentieren die muslimischen Verbände die wahre Dimension ihres Antisemitismus-Problems. Sie fordern unablässig ein, über die israelische Regierungspolitik und den Nahostkonflikt reden zu dürfen, ohne dem Vorwurf des Antisemitismus ausgesetzt zu sein. Gleichzeitig sind sie aber nicht in der Lage, zwischen dieser Politik und dem Leid jüdischer Terroropfern zu unterscheiden. Sie sind nicht in der Lage, zwischen dem Entsetzen und der Trauer deutscher Juden nach dem 7.10. und ihrer eigenen Kritik an dem Staat Israel zu unterscheiden. Sie sind nicht mal in der Lage, zwischen vor 80 Jahren ermordeten Juden und dem heutigen Staat Israel zu unterscheiden. Für sie sind Juden identisch mit dem Staat Israel. Selbst die Erinnerung an die Ermordung europäischer Juden von vor 80 Jahren weckt in ihnen das Unbehagen, mit diesem Gedenken könnte ihre Abneigung gegen den Staat Israel relativiert werden oder ihre Basis könnte einen solchen Eindruck gewinnen.
Diese Grundeinstellung ist das Fundament, auf dem das Reden über Juden in muslimischen Communities funktioniert. Von ihren Spitzenvertretern bis in die gemeindliche Basis gelingt es nahezu niemals, kritisch über den Nahostkonflikt zu reden, ohne spätestens im dritten Satz bei antisemitischen Denkmustern zu landen. Deshalb ist dort auch kein überzeugtes Gedenken an die Opfer des Antisemitismus möglich.
Doppelte Distanz
Diese Distanz zu den jüdischen Opfern des Nationalsozialismus wird aktuell mit einer zweiten Distanz verbunden – mit der Distanz einer als kulturelle Identität verstandenen muslimischen Religiosität zu einer deutschen Identität. Das Muslimisch-Sein wird auch von den muslimischen Verbänden als eine kulturelle Fremdheit zum Deutsch-Sein empfunden und tradiert. Der Grad der Orthodoxie, der gelebten praktischen und rituellen Religion ist mittlerweile nebensächlich. Eine solche steigert zwar die Selbstentfremdung von der deutschen Gesellschaft, sie gilt aber nicht als Voraussetzung für diese Distanz. Selbst sogenannten „Kultur-Muslimen“ ohne eigene religiöse Praxis dient eine muslimisch geprägte Biografie mittlerweile als Abgrenzungsmerkmal zum Deutsch-Sein.
Jüngst wurde in einem Spiegel-Beitrag eine aus Syrien stammende junge Frau, die seit 2013 in Deutschland lebt, mit den Worten zitiert: „Ich wehre mich dagegen, dass wir als Araber, wenn wir nach Deutschland kommen, die deutsche Last des Holocaust mitübernehmen müssen. Der Holocaust ist nicht unsere Schuld, nicht unsere Geschichte, nicht unsere Sünde.“
Auch für die muslimischen Verbände ist trotz ihres über 40-jährigen Bestehens „unsere Geschichte“ nicht die deutsche Geschichte. Und sie tradieren auch nicht die deutsche Geschichte als Teil „unserer Geschichte“ von Muslimen in Deutschland.
Die Geschichte der Anderen
Wie kann man aber eine deutsche Religionsgemeinschaft werden wollen, ohne die deutsche Geschichte zum Teil der eigenen werden zu lassen? Die Relativierung der Nazi-Diktatur ist mit dem „Vogelschiss“-Zitat in die Geschichte der deutschen Politik eingegangen. Wenn der Holocaust aber immer nur die „Geschichte der Anderen“ bleibt, zu der man sich als muslimischer Verband auch an Gedenktagen nicht äußern muss, ist das letztlich nichts anderes als eine Relativierung der historischen Bedingungen, unter denen wir in Deutschland zusammenleben. Damit wird das Erinnern an den Holocaust zu einer Nebensächlichkeit, zum bloßen Vogelschiss der muslimischen Geschichte in Deutschland.
Wo bleibt da die gemeinsame Wertegrundlage, die sich die muslimischen Verbände und die politisch Verantwortlichen in Ländern und im Bund immer und immer wieder in Kooperationsvereinbarungen und Staatsverträgen versichern? Von der einen Seite wird sie nicht empfunden und gelebt. Von der anderen Seite wird sie nicht eingefordert.
Judenhass und der Holocaust sind aber nicht bloß die Geschichte der Anderen. Die Opfer und Vertriebenen der Judenverfolgung während der Thrakien-Pogrome 1934 sind Teil der türkischen Geschichte. Die weit über 700 Toten der „Struma“ sind Opfer der türkischen Gleichgültigkeit gegenüber den Gräueln des Holocaust. Für die drei größten türkisch geprägten muslimischen Verbände DITIB, IGMG und VIKZ wären das doch Themen, mit deren Bearbeitung eine gemeinsame Wertegrundlage mit diesem Land und eine Verbundenheit mit seiner historischen Verantwortung nicht nur behauptet, sondern auch tatsächlich gelebt werden könnten. Als Religionsgemeinschaft muss man mehr sein als bloß ein Facility Management für Moscheegebäude oder eine Anhäufung von Immobilienvermögen.
Die Verdrängung der türkischen und arabischen Geschichte des Judenhasses und der Judenvertreibung bildet die Grundlage für die Distanz zur deutschen Geschichte des Antisemitismus. Und das Verständnis der eigenen Religion als identitärer Gegenentwurf zu allem, was als deutsch verstanden wird, bildet die Grundlage für die Distanz gegenüber den neuralgischen Punkten der hiesigen Gesellschaft.
Eigene Sünden
Die Muslime, die sich als Teil dieses Landes und dieser Gesellschaft begreifen, die sich als deutsche oder zumindest als auch-deutsche Muslime verstehen, warten auf muslimische Religionsgemeinschaften, die ausformulieren, was es heißt, Muslim in Deutschland zu sein. Die aktuelle Religionspolitik hat sich dazu entschlossen, so zu tun, als habe sie es schon mit Religionsgemeinschaften zu tun und lässt sich auch von dem durch die muslimischen Verbände offen zur Schau gestellten gegenteiligen Wirklichkeit nicht überzeugen, die eigene Arbeitsgrundlage zu hinterfragen. Das führt dazu, dass Muslime, die sich für eine Veränderung der muslimischen Verbände hin zu wirklichen deutschen Religionsgemeinschaften engagieren, als Störfaktoren wahrgenommen werden.
Die muslimischen Verbände haben in diesem Jahr eine weitere Gelegenheit, ihre behauptete Rolle als Religionsgemeinschaften einzunehmen. Sie haben die Gelegenheit, sich mit einer „eigenen Schuld“, einer „eigenen Geschichte“, mit einer „eigenen Sünde“ zu befassen. Am 24. April 1915 begann die Deportation armenischer Intellektueller aus Istanbul, die den Auftakt zum Völkermord an den Armeniern bildete. Werden Sie einen Weg finden, 110 Jahre später den Opfern zu Gedenken und eine Brücke der Erinnerung und vielleicht auch der Versöhnung zu den armenischen Nachbarn zu schlagen, mit denen sie und wir hier in Deutschland zusammenleben?
Wir warten.