Bangen nach jedem Anschlag

(Anm.: Der folgende Text ist als Essay in der SPIEGEL CHRONIK 2024 und online veröffentlicht worden.)

Ich kann mich noch sehr präzise an den Moment erinnern, an dem mein Bewusstsein für die muslimische Facette meiner Persönlichkeit, meine öffentliche Wirkung als Muslim und auch mein Verhältnis zu meinem nicht muslimischen sozialen Umfeld sich schlagartig verändert haben: Es war der 11. September 2001, kurz vor 15 Uhr.

Ich sah die Nachrichten im Fernsehen, sah den Rauch aus einem der Türme des World Trade Center in
New York aufsteigen. Ein Flugzeug sei mit dem Nordturm kollidiert. Als ich noch entsetzt war über diesen schrecklichen Unfall, wurde ich gleichzeitig mit der ganzen Welt Zeuge, wie ein zweites Flugzeug offensichtlich gezielt in den Südturm gesteuert wurde. In diesem Moment wurde mir klar, dass das kein Unfall war, sondern ein Anschlag sein musste.

Wer macht so etwas? Das war mein erster Gedanke.

Als dann binnen einer Stunde weitere Nachrichten von einem Flugzeuganschlag auf das Pentagon und einem Flugzeugabsturz in Pennsylvania folgten, wusste ich, dass dies Anschläge waren, die eine Zäsur
markierten. Das hier war etwas Großes, etwas Historisches, das vieles verändern würde.

Wer macht so etwas? Das war eine Frage, die ich mir bei Terroranschlägen in den Jahren danach nie wieder gestellt habe. An ihre Stelle trat immer mehr ein verzweifeltes Bangen: »Lass es bitte kein Muslim gewesen sein!« Ein Bangen, oft vergebens, wie zuletzt beim Anschlag im Mai in Mannheim, bei dem ein Polizist starb; beim Anschlag im August in Solingen, bei dem drei Menschen starben und
acht teils schwer verletzt wurden; beim Angriff auf das israelische Generalkonsulat im September in München.

Dieses Bangen hatte seinen Ursprung in dem Widerspruch zwischen meinem Glaubensverständnis und den religiös verbrämten Motiven und Rechtfertigungen der Täter, die sie bei ihren grausamen Anschlägen oft wie einen Schlachtruf der Selbstbestätigung und Überlegenheit in die Welt hinausschrien.

Mein Glaube bedeutete für mich stets Geborgenheit, Trost, Hoffnung. In der Rhetorik und der Gedankenwelt der Täter aber war und ist der Islam, mein Glaube, gleichzeitig Motivation und Rechtfertigung ihrer schrecklichen Taten. Ich habe das lange Zeit nur als Missbrauch meiner Religion empfunden. Als eine Verirrung, als fatalen Irrtum oder auch bewusste Verfälschung. Ich glaube, dass damals wie heute viele Musliminnen und Muslime das ebenso empfinden wie ich. Und ich vermute, dass deshalb die wesentliche Reaktion vieler muslimischer Stimmen darin lag, immer und immer wieder zu erklären, dass diese Täter keine wahren Muslime seien und die Taten nichts mit dem Islam zu tun hätten. Diese Vehemenz war und ist von dem Wunsch getragen, der nicht muslimischen Gesellschaft glaubhaft zu machen, dass der Islam etwas Gutes ist und damit auch die Muslime eine Gemeinschaft des Guten sind, getragen von guten Menschen.

Aber ich musste mir eingestehen: Das war eine sehr schlichte Haltung, eine von einer fast schon infantilen Wunschvorstellung getragene Verdrängung, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Und sie
war zum Scheitern verurteilt. Denn mit jeder weiteren Tat seit dem 11. September 2001 hat die nicht muslimische Öffentlichkeit immer neue Täter erlebt, die stets die islamische Grundlage und Rechtfertigung ihrer Taten betont haben.

Mit jedem kämpferischen »Allahu Akbar!«, mit jedem wehenden Prophetenbanner, mit jedem empor-
gestreckten Zeigefinger wurde deutlicher, dass die Täter sich als fromme, glaubensstarke Muslime verstehen und ihre Taten ausdrücklich als islamisch begründete und gerechtfertigte Handlungen begehen.

Vor dem Hintergrund der explodierenden Züge und Busse in Spanien und London, der ermordeten Satiriker, Lehrer, Passanten, Café- und Konzertbesucher in Frankreich, der überfahrenen Weihnachtsmarktbesucher in Berlin, der Opfer der Terroranschläge weltweit mussten diese muslimische Verdrängung, dieses apathische Kopfschütteln muslimischer Vertreter und ihre immer phrasenhafter wirkenden Verurteilungen irgendwann unglaubwürdig wirken.

Heute haben wir diesen Punkt erreicht. Der Generalverdacht, dass viele Muslime eine potenzielle Ge-
fahr darstellen, ist längst zu einer Grundüberzeugung in vielen westlichen Gesellschaften geronnen. Und diese Überzeugung droht sich immer mehr zu verfestigen, je häufiger sich die muslimischen Verdrängungsrituale nach terroristischen Taten wiederholen.

Und es wird nicht besser. Im Gegenteil deutet vieles darauf hin, dass sich die Spannungen in der gesellschaftlichen Tektonik weiter aufladen werden. Man kann dies natürlich damit erklären, dass die
deutsche Gesellschaft strukturell rassistisch sei, die schrille Islamkritik der letzten 20 Jahre zu anti-
muslimischen Ressentiments beigetragen habe und die unterkomplexe politische Strategie, jedes Problem mit gefährlichen Migranten zu erklären, diese Spannungen eher befördert, als sie zu lösen.

All dies sind gewiss Faktoren, die nicht ignoriert werden dürfen. Für viele Muslime ist das allerdings eine
sehr bequeme Betrachtungsweise. Die deutsche Gesellschaft ist in diesem Verständnis stets nur etwas, das uns Muslimen widerfährt, eine Zumutung, von der wir immer nur betroffen sind. Dass es diese Haltung gibt, ist nicht nur mein persönliches Bauchgefühl. Es ist eine sehr konkrete, belegbare Entwicklung. Die größte muslimische Organisation in Deutschland, die DITIB, hat erst kürzlich, während ihres Festsymposiums anlässlich ihres 40-jährigen Bestehens, darüber diskutiert, wie viel Deutschland die muslimischen Gemeinden überhaupt ertragen können. Diese Frage war nicht ironisch gemeint oder als rhetorische Zuspitzung formuliert.

Die deutsche Gesellschaft ist für viele Muslime nicht die eigene Gesellschaft, an der man teilnimmt, die man mitgestaltet. In den muslimischen Gemeinschaften, so beobachte ich es, greift immer mehr das Gefühl um sich, durch einen Irrtum des Schicksals in diese Gesellschaft hineingeworfen zu sein: Macht keinen Urlaub! Nutzt die Ferien besser für die Suche nach einem geeigneten Land, in das man auswandern kann! Habt immer einen gepackten Koffer im Schrank! Das sagen nicht etwa Muslime, die gesellschaftlich und ökonomisch abgehängt sind, keine durch Diskriminierung und Benachteiligung zerrütteten Zukurzgekommenen. Nein, das sind öffentliche Statements von privilegierten Muslimen, die in dieser Gesellschaft und ihren Institutionen den Aufstieg geschafft haben, die Einfluss haben und  Impulse setzen in der Debatte. Und die aber der eigenen muslimischen Basis gleichzeitig signalisieren, dass diese Gesellschaft sie nicht will – und dass sie deshalb als Muslime diese Gesellschaft auch nicht wollen sollen.

Das ist eine Entwicklung der Selbstentfremdung und Selbstausgrenzung. Mit dieser Entwicklung wird sich das real existierende Problem der Muslimfeindlichkeit nicht bekämpfen lassen. Man wird diese Gesellschaft nicht zum Besseren verändern können, wenn man sie verachtet und die Flucht aus ihr bewirbt.

Es gibt aber eine Wirksamkeit, eine eigene muslimische Verantwortung. Sie wird aktuell nicht nur sträflich vernachlässigt. Sie wird überdies durch innermuslimische Entwicklungen gehemmt und behindert.

Wir müssen mit unseren muslimischen Verdrängungsritualen aufhören. Terroristen missbrauchen unsere Religion nicht. Sie gebrauchen sie. Sie bedienen sich eines Potenzials, das in unseren religiösen Quellen angelegt ist. Unsere Religion hat auch ein Gewaltpotenzial. Dass wir mehrheitlich das Friedenspotenzial unserer Religion in unserem Leben verankert haben und aktivieren, ändert nichts daran, dass die islamistischen Täter sich darauf berufen, im Namen und mit Rechtfertigung unserer Religion zu handeln. Wir müssen Methoden und Argumente entwickeln, diese Legitimation, diese religiöse Rückbindung der Gewalt als Gemeinschaft zurückzuweisen. Denn die Glorifizierung des Todes als heiligem Martyrium beglaubigt nicht die übergeordneten Ideale unserer Religion. Sie macht sie unglaubwürdig.

Wir müssen aufhören, Scheindebatten zu führen. Die Verwendung der Begriffe »Islamismus« und »islamistisch« ist nicht das Problem. Dass diese Begriffe mittlerweile von vielen als Synonyme für »Muslim« und »muslimisch« verstanden werden, ist nicht Ausdruck der Feindseligkeit und Diskriminierungsbereitschaft der deutschen Gesellschaft. Es ist die Folge unseres mehr als 20-jährigen muslimischen Versäumnisses, die religiöse Begründung und Rechtfertigung terroristischer Gewalt als unser innermuslimisches Problem zu begreifen und zu bekämpfen. Dem Generalverdacht gegen Muslime, den wir beklagen, haben wir durch unsere eigene Generalignoranz Vorschub geleistet.

Wir müssen auch aufhören, unseren Glauben als Identität zu begreifen, als Unterscheidungsmerkmal zum »Deutschen«, vor dem wir uns in unserer muslimischen Wagenburg verschanzen.

Wir müssen erkennen, dass unsere muslimische Jugend sich zunehmend gar nicht mehr von der terroristischen Gewalt islamistischer Täter abgestoßen fühlt. Sie ist dabei, diese Gewalt als »Widerstand« zu rechtfertigen, sie als legitime Auflehnung gegen tatsächliche oder auch nur vermeintliche Ungerechtigkeit zu unterstützen. Und wir müssen erkennen, dass sich unsere
muslimischen Vertreter an ihnen versündigen, weil sie diese Entwicklung fördern, statt ihr zu widersprechen. Der Impuls der Vergeltung hat die Tugend der Vergebung längst aus dem Kern unserer religiösen Überzeugung verdrängt – und entfaltet immer mehr eine selbstzerstörerische Wirkung.

Wir dürfen nicht unterschätzen, dass immer mehr junge Muslime ihre Religion nicht als lebensbejahende Haltung zum Wohle ihrer Nächsten begreifen, sondern als Geste der Dominanz und Einschüchterung gegen alle anderen.

Wir müssen aufhören, unsere ethische Grundorientierung allein aus unserer Religion abzuleiten. Religion postuliert absolute Wahrheiten, ausschließliche Gewissheiten. Unsere Religion kann aber nicht der ethische Maßstab sein, an den sich alle in einer pluralistischen Gesellschaft zu halten haben. Wir müssen eine ethische Grundlage des Zusammenlebens finden, auf der sich unsere Religiosität zum Wohle aller entfalten kann. Das ist aber nur möglich, wenn wir dabei nicht den Geltungsanspruch anderer Lebensentwürfe abwerten. Wir sind nicht weniger fromm, wenn wir mit Nichtmuslimen gedeihlich zusammenleben und sie respektieren.

Wir müssen bereit sein, das alles zu leisten, diese Selbstverpflichtung einzugehen, wenn uns die Zukunft
dieser Gesellschaft – als unserer eigenen – tatsächlich am Herzen liegt. Dann werden wir für unsere
Forderung nach der Lösung jener Probleme, denen wir als Muslime in Deutschland ausgesetzt sind, auch
mehr Verbündete finden.